Die literarischen Qualitäten der Wolken

Ungebrochener Himmelszauber

56:14 Minuten
Eine spektakuläre Wolkenlandschaft im rötlich-gelben Abendlicht.
Wolken sind höchst dankbare Projektionsflächen. © unsplash / Michael Weidner
Von Beate Ziegs · 27.10.2019
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Einst Götterthron, nun Bedeutungsvehikel für alles Mögliche: Immer schauten die Menschen voller Faszination zu den Wolken, diesen dräuenden oder heiteren, majestätischen oder zittrigen Gebilden. Das rief nach Sinngebung.
Wolken sind höchst dankbare Projektionsflächen. Sie sind vage und in steter Veränderung, weshalb sie sich wie keine andere Naturerscheinung dazu eignen, allerlei Bedeutungen zu transportieren. Einst boten sie den Himmlischen Raum und Schutz – dem Blitze schleudernden Zeus etwa, der auch den Beinamen "Wolkensammler" trägt. Denn er hüllte sich gern in dunkles Nebelgewölk, um unerkannt seinen Begierden nachzugehen. In der Edda donnert Thor, der gefürchtete Sohn Odins, in einem von Ziegenböcken gezogenen Wagen die Wolken entlang, und der nordische Schöpfungsmythos erzählt vom Urzeitriesen Ymir, aus dessen Hirn die Asen die Wolken kreierten.

Siedlungsgebiet der Engel

Auch in der Bibel ziehen an entscheidenden Stellen flüchtige Himmelsgebilde auf: Jahwe offenbart sich paradoxerweise, indem er sich mit Wolken umhüllt oder Wolkiges hinterlässt. Bei Tag weist er dem Volk Israel den Fluchtweg aus Ägypten als Wolkensäule. Engel besiedeln diese schwebende Welt zwischen Himmel und Erde, und Jesus kehrt nach der Auferstehung auf einer Wolke zu Gottvater zurück.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beginnt Luke Howard mit der Klassifikation der Wolken und begründet eine wichtige Forschungsrichtung der Meteorologie. Doch die Säkularisierung der Himmelsgebilde beseitigt ihren Zauber nicht, im Gegenteil. Nun scheint auf ihnen unendlich viel Platz, auch und gerade für Bedeutungen, die sich hienieden ausschließen.

Beliebter Bedeutungsträger

Für Bertolt Brecht symbolisieren Wolken die verblassende Erinnerung an seine Jugendliebe Marie A., bei anderen Schriftstellern stehen sie für das Fremde und Rätselhafte, für Lug und Trug, Melancholie, Utopie oder Bedrohung. Nicht einmal tödliche Wolken voller Giftgas (Bhopal) oder mit radioaktiven Teilchen (Tschernobyl) tun ihrer Beliebtheit als Bedeutungsträger Abbruch. Der Zauber des kondensierten Wasserdampfes ist ungebrochen.
Der größte Vorteil der Wolken ist, man kann es anders kaum sagen, ihre – Wolkigkeit. "Über Fehler sind sie erhaben", meint Hans Magnus Enzensberger und Julio Cortázar weiß: "Was zu sagen bleibt, ist immer eine Wolke."
(pla)
Das Manuskript zur Sendung finden Sie hier.

Sprecher: Lisa Hrdina, Anika Mauer, Max von Pufendorf, Oliver Urbanski, Leopold von Verschuer
Ton: Peter Seyffert und Martin Eichberg
Regie: Beate Ziegs
Redakteur: Jörg Plath

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