"Die Leute leben wieder"

Heinrich Steinfest im Gespräch mit Joachim Scholl · 22.02.2011
Der Autor Heinrich Steinfest hat dem Vorwurf widersprochen, sein Stuttgart-21-Krimi "Wo die Löwen weinen" zeichne ein Zerrbild der Politik. Das Buch sei ein Versuch, reale Ereignisse literarisch zu verarbeiten, meint der Gegner des umstrittenen Bahnhofsprojektes.
Joachim Scholl: Heinrich Steinfest ist Jahrgang 1961 und inzwischen berühmt als Autor von recht unorthodoxen Krimis mit schrägem Personal, skurrilen Handlungen und oftmals verblüffenden Pointen. Jetzt überrascht der Schriftsteller mit einem neuen Roman, der all diese guten Zutaten enthält, aber dieses Mal auch einen überaus konkreten, weil dezidiert politischen Hintergrund hat. Es geht nämlich um Stuttgart 21. "Wo die Löwen weinen" heißt das Buch, das in dieser Woche erscheint, in Stuttgart spielt, wo auch Heinrich Steinfest lebt, von dort ist er uns jetzt zugeschaltet, guten Morgen, Herr Steinfest!

Heinrich Steinfest: Ja, guten Morgen!

Scholl: Korrupte Lokalpolitiker, bestochene Experten, brave Bürger, die in ihrem Zorn schließlich Präzisionsgewehre in Anschlag bringen – all das kommt in Ihrem Buch vor. Hat hier der Stuttgarter Wutbürger Steinfest sich literarisch Luft gemacht?

Steinfest: Nein. Ich mag ja den Begriff Wutbürger nicht so gerne, mir gefällt mehr der Begriff Bildungswutbürger. Denn diese Leute, denen ja immer nur so das Irrationale und Emotionale nachgesagt wird, die sind ja sehr sachbezogen, wir haben es ja eigentlich mit einem sehr aufgeklärten, mündigen Bürger zu tun, genau der, der in den Sonntagsreden immer verlangt wird. Und jetzt ist er plötzlich da und ist so ganz ungewollt.

Scholl: An dieser Stelle müssen wir betonen, Sie sind ein Stuttgart-21-Gegner und selbst aktiv in der Protestbewegung. Ist Ihr Buch das literarische Manifest für die politische Sache?

Steinfest: Nein, es ist ja keine Propagandabroschüre. Auf der anderen Seite ist es so: Als Person habe ich hier eine Meinung entwickelt, die kann ich jetzt als Autor nicht völlig zurücknehmen und mich da jetzt auf eine sozusagen ganz hohe Ebene begeben und alles relativieren und da herumlavieren. Und ich habe ja eine eindeutige Position und im Nachwort sage ich auch klar, dass ich … Ich glaube, ich habe in 13 Romanen bewiesen, dass ich jetzt kein klassisches Schwarz-Weiß-Denken verfolge; auf der anderen Seite ist es so, wenn etwas schwarz ist, kann ich es nicht künstlich eingräuen, nur damit das Feuilleton nachher sagen kann, der Autor sei objektiv gewesen. Nein, ich habe hier eine eindeutige Position, aber ich habe auch viele verschiedene Figuren, die durchaus auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise sich dieser Materie und diesem Phänomen nähern. Das sind ja nicht sozusagen jetzt lauter gleichgeschaltete S-21-Gegner, sondern mit Mach und Rosenblüt und eben Hans Tobik Figuren, fiktive Figuren, die vor diesem realen Hintergrund der Ereignisse auf ganz verschiedene Art und Weise reagieren.

Scholl: Auf Ihren Hans Tobik kommen wir gleich zu sprechen, Herr Steinfest. Aber von Beginn an – und das ist glaube ich schon sehr deutlich – zieht eine Melodie durch den Text, dass Politik in Gestalt der Politiker als das durchaus absolut Böse vorkommt. Also Lokalpolitiker bekommen Decknamen aus Shakespeares Katalog von Übelkrähen, Ratcliff oder York … Hat Stuttgart 21 für Sie wirklich Charaktere solchen Kalibers erzeugt?

Steinfest: Na ja, es wird im Roman gesagt, dass es jetzt nicht durchgehend dämonische Gestalten sind. Zum Teil sind es ja eher auswechselbare Gestalten. Diese politischen Figuren – also zum Beispiel ein Ministerpräsident, der dann als Puppe dargestellt wird –, also denen fehlt ja eigentlich dieses ganz diabolische Moment, aber sie sind ja Figuren, die vor allem eigentlich von der Wirtschaft getragen werden. Das ist ja auch der Vorwurf von mir und natürlich eben auch von einigen dieser Figuren, dass wir hier nicht mehr diese Kontrollinstanz haben, die wir absolut nötig brauchen, sondern eben dass hier ein Schulterschluss zwischen Politik und der Wirtschaft stattfindet. Wenn ich ein Tunnelbauer wäre, ich muss Ihnen sagen, also von mir aus könnten wir die ganze Welt untertunneln und den Mond dazu, das verstehe ich schon!

Umso mehr braucht es eben dann den Politiker, der hier unabhängig agiert auch als Mittler zwischen Wirtschaft und Bürger, aber nicht eben sozusagen ja praktisch in der Handtasche des Tunnelbauers hockt. Das ist die Kritik, und ich glaube, die ist ja legitim, und da ist es ja auch in Stuttgart passiert und das wird im Roman thematisiert, inwieweit die Leute Begriffe wie Demokratie, aber auch zum Beispiel Begriffe wie christlich versuchen neu zu definieren, sie sehr ernst zu nehmen. Das ist, würde ich sagen, nicht unbedingt gegen die Politik gemeint. Wenn die repräsentative Demokratie gefährdet ist, dann meine ich nicht durch Stuttgart-21-Gegner, sondern eigentlich durch die Politiker selbst. Das muss man ihnen schon zum Vorwurf machen.

Scholl: Der politische Unmut in Ihrem Buch, Herr Steinfest, konzentriert sich vor allem in der Figur eines gewissen Hans Tobik, Sie haben den Namen schon genannt, ein braver Stuttgarter Bürger, der schließlich zur Waffe greift angesichts der politischen Situation. Wörtlich heißt es da, für Tobik waren Politiker Menschen, die sich mit Absicht vergiften ließen, um in die Höhle eingelassen zu werden. Die Höhle meint die nach außen hin völlig abgeschottete, jeglichem Menschlichen entfremdete politische Sphäre. Ist das nicht doch eine ziemlich platte Opposition, hie die Menschen, da die Politiker?

Steinfest: Wenn Sie den Roman so lesen, glaube ich, dass das nicht ganz richtig ist. Es ist nur so, ich kann jetzt nicht anfangen, sozusagen anständige, jetzt in dem Sinne anständige Figuren zu entwickeln, die sich sozusagen auch aus ihren Gefühlen herausnehmen. Ich meine, Tobik ist ja jemand, der durchaus sein gestörtes Verhältnis zu der Politik definiert, der sich darüber Gedanken macht, der zum Teil ja auch von seinen eigenen Handlungen verblüfft ist. Also so gesehen muss ich diesem Vorwurf widersprechen, so platt sind diese Figuren nicht. Er denkt darüber nach. Gleichzeitig ist er auch ein Getriebener. Und es ging mir nicht darum, da jetzt Figuren zu entwickeln, die also immer brav sind. Gewaltwertung spielt natürlich hier eine entscheidende Rolle, das ist … Auf der anderen Seite muss man sagen, ich darf jetzt nicht zu viel natürlich vom Ende dieser Geschichte erzählen. Aber ich glaube ja, dass es eine schöne Lösung gewesen ist, diesem Tobik im Endeffekt eine sehr poetische Wendung beizubringen.

Scholl: Im Deutschlandradio Kultur ist Heinrich Steinfest zu Gast. In seinem neuen Roman "Wo die Löwen weinen" geht es um Stuttgart 21. Mit Plattheit meine ich auch eben nicht, Herr Steinfest, die Figuren, die sind schon sehr klasse und sehr literarisch gezeichnet, sondern oft so die politischen Konstellationen. Sie schreiben im Nachwort Ihres Buches sehr offen: Mir ist es nun in keiner Sekunde darum gegangen, die Dinge zu relativieren, nur um der Gefahr einer simplen Schwarz-Weiß-Zeichnung zu entgehen. Ich meine, für einen Schriftsteller ist es doch ein verblüffendes Statement. Der Literatur geht es ja immer darum, eben nicht schwarz-weiß zu malen, oder?

Steinfest: Ich erkläre ja nicht, dass ich jetzt sozusagen hier absichtsvoll Schwarz-Weiß-Malerei betreibe, sondern ich erkläre, warum es in bestimmten Momenten wichtig ist, wenn etwas schwarz ist, es auch schwarz zu nennen oder es schwarz zu malen. Ich sehe mich ja bei diesem Buch auch wieder eigentlich als eine Art von Maler, impressionistischer und surrealistischer Maler, der die Natur abbildet und dann natürlich diese gesamte Farbpalette verwendet. Ich wehre mich dagegen, dass man vor dem Schwarzen und dem Weißen so viel Angst hat. Für mich sind alle anderen Farbtöne natürlich auch sehr wichtig und ich glaube, dass ich sie auch einsetze. Aber wie gesagt, dort, wo ich schwarz sehe, dort möchte ich es auch einsetzen und dann nicht angstvoll genau das umgehen. Das ist ja etwas, was glaube ich ein bisschen … Ich möchte es anders ausdrücken: Ich habe mit diesem Buch zu meinen österreichischen Wurzeln zurückgefunden, nämlich zu Thomas Bernhard, der sich nie gescheut hat, hier auch einseitig zu sein und hier sehr direkt und konkret zu ein. Da bin ich in dem Sinne so wieder ganz Österreicher geworden.

Scholl: Als Heinrich Böll 1974 seinen Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" schrieb, stand vorneweg: Jegliche Übereinstimmung mit den Praktiken der "Bild"-Zeitung ist gewollt. Sie, Herr Steinfest, schreiben: Diese Geschichte ist selbstverständlich frei erfunden, eine Stadt namens Stuttgart hat also nie existiert. Warum so umständlich? Ich meine, Ihr Ziel ist doch auch wie bei Böll eindeutig, oder nicht?

Steinfest: Ich schreibe ja auch am Ende dieses Romanes: Selbstverständlich hat alles so stattgefunden wie hier beschrieben, Orte wie Stuttgart gibt es überall. Das ist ja ein Spiel mit dieser … Auf der einen Seite nimmt man das zurück und sagt, ja es ist natürlich alles frei erfunden, schon aus rein rechtlichen Gründen, das, glaube ich, das ich durch eine ganz ironische Bemerkung ins Spiel bringe, um es dann aber am Ende des Romanes natürlich wieder zurückzunehmen. Denn das ist ja meine Sicht auf die Wirklichkeit. Nur was ich nicht gemacht habe, ist es, ein weiteres Sachbuch zu diesem Thema zu schreiben, sondern eben der Versuch, diese realen Ereignisse literarisch zu verarbeiten. Und da wäre ich zum dritten Mal zu Maler, nämlich zum kopistischen Maler, der die Sache eben nicht nur von vorne sieht, sondern eben auch von der Seite, und der sich eben auch von hinten der Wahrheit annähert.

Scholl: Nun wird dieses Buch vermutlich gerade in Stuttgart viele Leser und viele zustimmende Leser finden. Der Stuttgarter Bürgermeister könnte aber sagen, dieses Buch ist ein Fanal der Politikverdrossenheit! Kinder, nehmt es nicht in die Hand! Es muss ja umgekehrt so sein, der Bürger muss teilhaben an der Politik! – Das Schlichtungsverfahren hat ja stattgefunden, das war ja politisch. Was sagen Sie Ihrem Bürgermeister?

Steinfest: Das war ein Narkotikum und das war auch als Narkotikum gedacht. Und jetzt wachen die Leute wieder langsam auf und sie tun genau das, was Sie gerade gefordert haben: Sie mischen sich ein in derselben Art und Weise, wie sie das das ganze Jahr 2010 getan haben, nämlich als sachkundige Bürger, als ich möchte fast sagen Bürgerexperten. Und ich wäre ja dafür, dass man diese Leute eigentlich dafür bezahlt: Sie haben eine Arbeit geleistet, die eigentlich die Bahn und die Politik hätte leisten müssen, und in Zukunft wird es vielleicht auch so sein, dass diese Bürgerexperten Teil frühzeitiger Planungen sind, und dann wird man in diesen ganzen Schlamassel nicht hineingeraten.

Scholl: Bölls Roman war damals ein solcher Bestseller, dass die "Bild"-Zeitung die Bestenliste der meistverkauften Bücher in Deutschland nicht mehr abdruckte. Literaturkritiker haben Böll allerdings auch vorgeworfen, sein Roman sei reine Propaganda. Ihm war das egal. Ihnen wird man das auch vorhalten, Herr Steinfest.

Steinfest: Es ist mir auch egal!

Scholl: Die Proteste, sie gehen weiter in Stuttgart. Auf was hoffen Sie noch?

Steinfest: Ich hoffe, dass die Diskussion, die stattgefunden hat und die ja über einen Bahnhof und über die Bäume weit hinausgeht, sondern die im Endeffekt alles betrifft, was unser gesellschaftliches Zusammenleben ausmacht, dass diese Diskussionskultur, dass die weitergeht. Die Leute haben noch nie miteinander so viel gesprochen. Also wir sollten eigentlich wirklich stolz darauf sein, was die Leute hier vollbracht haben, und zwar unabhängig vom Ausgang der Wahl. Unabhängig im Endeffekt auch von dem, was mit dem Bahnhof passieren wird, muss diese Diskussion, die die Leute miteinander führen, weitergehen. Die macht ungemein Spaß, die Leute leben wieder. Ich würde sagen, die Stuttgarter blühen.

Scholl: "Wo die Löwen weinen", am kommenden Freitag erscheint Heinrich Steinfests neuer Roman im Theiss Verlag. Herr Steinfest, herzlichen Dank für das Gespräch!

Steinfest: Ich danke Ihnen!
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