"Die Leute gehen einfach nicht auf die Straße"

Esther Kinsky im Gespräch mit Alexandra Mangel · 13.07.2011
Während der ungarischen Ratspräsidentschaft habe es wesentlich mehr Demonstrationen gegen das restriktive Mediengesetz der Regierung gegeben als jetzt, sagt die in Ungarn und Deutschland lebende Schriftstellerin Esther Kinsky. Sie macht eine zunehmende Angst in Ungarn aus.
Alexandra Mangel: Seit dem 1. Juli hat Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft an Polen abgegeben, und genau seit diesem Tag ist auch das neue ungarische Mediengesetz voll in Kraft, und das hält rigide Strafen für alle bereit, die nicht so ausgewogen berichten, wie es die regierende rechtsnationale Fidesz-Partei und ihr Vorsitzender, der ungarische Premierminister Victor Orbán, gern hätten. 1000 Mitarbeiter der öffentlich-rechtlichen Medien sind nun entlassen worden, vorgeblich, weil man sparen müsse, darunter jedenfalls 600 Redakteure, Autoren und Moderatoren, die nicht auf Parteilinie der Fidesz liegen. Für uns sitzt jetzt in Battonya, einem kleinen Städtchen im Südosten Ungarns, fünf Kilometer von der Grenze zu Rumänien entfernt, Esther Kinsky am Telefon. Sie ist Autorin und Übersetzerin, in Deutschland geboren, sie lebt aber seit 2000 auch in Ungarn, heute pendelt sie zwischen Berlin und Battonya. Guten Morgen, Frau Kinsky!

Esther Kinsky: Guten Morgen!

Mangel: Tritt jetzt ein, was viele befürchtet haben, dass es jetzt erst richtig losgeht mit dem, was Victor Orbán seine Fidesz-Revolution nennt, jetzt, wo die europäische Öffentlichkeit nicht mehr so genau hinschaut?

Kinsky: Na ja, natürlich ist es so, dass er jetzt vielleicht ungehinderter damit vorgehen kann, obwohl er sich natürlich als der starke Mann gibt, der im Europäischen Parlament allen die Köpfe zurechtgesetzt hat. Aber selbstverständlich ist es so: Er ist ja schlau, nicht klug, aber schlau, und alles ist Taktik und keine Substanz, dass das so getimt ist, dass das jetzt richtig losgeht – das auf jeden Fall.

Mangel: Sind denn derzeit überhaupt kritische Stimmen in der ungarischen Medienlandschaft zu hören, zum Beispiel jetzt angesichts dieser Massenentlassungen von Journalisten?

Kinsky: Natürlich wird berichtet darüber, dass … Solche Zeitungen wie beispielsweise "Népszava", "Népszabadság" auch, oder die Wochenzeitschrift "Élet és Irodalom" – da gibt es selbstverständlich Berichte darüber. Es gibt immer wieder die Aufrufe: Wir müssen jetzt zusammenhalten gegen … und so weiter. Aber es wird, ich würde mal sagen, zunehmend verschlüsselt. Also die Kritik wird immer jetzt eingewickelt in diese Aufrufe zum Zusammenhalt, zum Finden eines Konsens. Aber man kann ja noch nicht mal, sagen wir mal, das jetzt als ganz klaren politischen Protest unmaskiert formulieren. Mir scheint, dann fürchtet man schon gleich, mit diesem Mediengesetz in Konflikt zu kommen.

Mangel: Also die Selbstzensur greift da langsam schon angesichts der drohenden Strafen.

Kinsky: Ja, ich glaube, es ist einfach Angst, Angst, ich meine, man sieht das auch jetzt beispielsweise an der Reaktion auf diese Entlassungen: Es hat in der ersten Hälfte dieses Jahres, auch als Ungarn ja die Präsidentschaft hatte und deshalb mehr im europäischen Scheinwerferlicht stand, wesentlich mehr Demonstrationen oder Bewegung gegeben als jetzt. Die Leute gehen einfach nicht auf die Straße.

Mangel: Kommentarfunktion und Blogs sind jetzt von den Internetseiten vieler ungarischer Zeitungen verschwunden, weil seit dem 1. Juli eben auch sie geahndet werden können. Gerade hat der Kommunikationsstaatssekretär selbst, Zoltan Kovacs, gegen einen Leserkommentar auf der Internetseite der Tageszeitung "Népszava" geklagt, und wenn die Medienbehörde dem folgen würde, dann könnte eine Strafe bis zu 180.000 Euro verhängt werden. Und das verkraftet ja auch nicht jede Zeitung. Also wird genau so jetzt auch öffentlichkeitswirksam die Selbstzensur eingeimpft?

Kinsky: Ja, ich meine, man muss natürlich abwarten jetzt erst mal, was das gibt. Irgendwie wird man ja sich in Europa auf weiterer Ebene nicht ganz die Ohren und Augen verschließen. Es wird ja beispielsweise in Deutschland und in Österreich sehr viel berichtet. Diese spezielle Sache ist ja rückwirkend, also die bezieht sich auf etwas, was im Juni stattgefunden hat, also dieser ganz konkrete Fall jetzt. Das wäre ja fast undenkbar, dass man legal in einem Staat der Europäischen Union damit durchkommt, und da ist abzuwarten. Natürlich geht es auch darum, mit Strafen einfach weiter mundtot zu machen, Grundlagen zu entziehen und so weiter, selbstverständlich. Also die Strafen sind ja so hoch, dass … wenn man in so einem kleinen Land denkt, wie klein die Organe dann sind, natürlich nicht zu verkraften sind.

Mangel: Ein anderer Weg, kritische Medien zum Schweigen zu bringen, ist ja zum Beispiel der Entzug der Sendelizenz. Der droht jetzt dem privaten ungarischen Klubrádió. Was ist das für ein Sender, was für Debatten haben da bislang stattgefunden?

Kinsky: Klubrádió war der oder ist der, man kann das noch nicht mal so richtig links nennen, sagen wir mal linksliberale Gegenpol zu den bereits von Fidesz ganz stark kontrollierten anderen öffentlichen Rundfunkmedien. Es war ein Nachrichten- und Diskussionsforum eigentlich, ich würde sagen, linksliberal hat das Klubrádió gestanden, und denen soll jetzt die Sendelizenz entzogen werden, indem man sagt, diese Frequenz ist jetzt reserviert für einen Unterhaltungsmusiksender.

Mangel: Und Kritik an der Regierung von öffentlich-rechtlicher Seite gibt es bereits gar nicht mehr?

Kinsky: Na ja, was heißt, öffentlich-rechtliche Seite, es ist ja … Man ist sich glaube ich gar nicht im Klaren darüber, was im Laufe dieses einen Jahres, seit dem Regierungswechsel hier schon passiert ist. Sämtliche Gremien sind ja bereits umbesetzt, es ist eine totale Umstrukturierung und Umbesetzung erfolgt. Also das muss derartig, wie gesagt, also die Taktik muss derartig schon vorbereitet gewesen sein – das in einem Jahr durchzusetzen, das ist unglaublich.

Mangel: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit der Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky, sie lebt in Berlin und in Battonya, einer kleinen Stadt im Südosten Ungarns, wo wir sie jetzt auch erreichen. Frau Kinsky, Linksliberale, Intellektuelle und Künstler wie die Philosophin Agnes Heller, der Schriftsteller György Konrad oder der Dirigent Ádám Fischer werden von der Fidesz als Nestbeschmutzer, als Vaterlandsverräter angegriffen und verfolgt. Haben die in Ungarn derzeit überhaupt noch Möglichkeiten, sich zu Wort zu melden?

Kinsky: Ja, natürlich gibt es noch die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden. Die Wochenzeitschrift "Élet és Irodalom", das ist eine sehr alte, eingesessene Zeitschrift, also "Leben und Literatur" heißt das wörtlich übersetzt, die ist aber eigentlich, sagen wir mal, die hat eine Funktion vielleicht wie die "Zeit" in Deutschland. Da kann man … Natürlich gibt es da keinen Eingriff, wer da veröffentlicht, es geht eher darum, was veröffentlicht wird. Aber natürlich können … Es gibt auch selbstverständlich eine ganze Gruppe Intellektueller, die sich engagieren, die Petitionen unterschreiben, die diese Intellektuellen stützen. Natürlich ist man … Das, das ist auch weiterhin der Fall. Was fehlt, ist einfach so ein agierender Konsens, würde ich sagen.

Mangel: Und auch ein Protest der Öffentlichkeit, oder? Kommt da kein Rückhalt? Gibt es keine Demonstrationen gegen eine solche, man muss ja schon fast sagen, Gleichschaltung des kulturellen Lebens in Ungarn?

Kinsky: Unglaublich wenig, aber das ist vielleicht das große Problem Ungarns, dass es überhaupt nie wirklich eine konsensuelle, zivilrechtlich, bürgerrechtlich orientierte Opposition oder politische Bewegung gegeben hat. Es gibt ganz wenig, es gibt diese ganz tiefe Kluft von Intellektuellen und, sagen wir mal, Bürgern oder Landbevölkerung, Skepsis gegenüber den Intellektuellen, den Künstlern, das ist unglaublich tief verankert hier, und natürlich einfach dieser unglaubliche Unmut aus der Armut heraus auch, wirtschaftliche Benachteiligung oder wie man das nennen will. Es organisiert sich nichts Kohärentes.

Mangel: Haben viele der Intellektuellen auch gerade deshalb Hoffnungen in die Europäische Union gesetzt, dass von dort Hilfe kommen wird, dass demokratische Grundrechte im Mitgliedsland Ungarn geschützt werden? Fühlen die sich da im Stich gelassen?

Kinsky: Ja natürlich, ich meine, das ist eklatant, finde ich, aber auch für jeden Beobachter von außen, in welchem Maße die EU im besten Falle kann man sagen unvorbereitet war und ist dafür, dass Staaten, die aufgenommen sind, dass da demokratische Grundrechte gewahrt bleiben – dass zum Beispiel die EU nicht eingreifen kann oder zumindest das regulieren kann an der Besetzung von Gremien, denn da fängt ja die Demokratie an. Wenn alles nur in einer Hand ist, wenn alle Entscheidungen nur in einer Hand liegen, dann hat sich ja die Demokratie erledigt.

Mangel: Sie leben ja selbst nicht in Budapest, sondern in einer kleinen Stadt, etwa 7500 Einwohner hat Battonya. Wie macht sich das neue Ungarn der Fidesz denn in Ihrer Umgebung direkt bemerkbar?

Kinsky: Na ja, ich meine, hier ist natürlich so ein richtiges … am Ende der Welt einerseits, andererseits ist es so, hier ist eine unglaublich hohe Arbeitslosigkeit, 70 Prozent, da macht es sich natürlich ganz stark bemerkbar, weil die Arbeitslosenhilfe ist jetzt von neun Monaten auf drei Monate reduziert worden. Es gibt ganz starke Möglichkeiten einzugreifen, dahin, wo Arbeitslose dann hingehen müssen, um zu arbeiten, weit weg von zu Hause, selbst bei kleinen Kindern, wenn beide Eltern arbeitslos sind, muss der eine, egal wohin im Land, eine Arbeitsstelle annehmen und egal was. Es kann sich dabei, wie ich in der Zeitung "Népszava" gelesen habe gestern, beispielsweise auch um Tätigkeiten in Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen von Fidesz handeln. Und was sehr stark eingreift, ist die Privatisierung der Schulen, das ist ein Programm von Fidesz – alles läuft ja unter der finanziellen Entlastung eines verschuldeten Landes –, dass die Schulen kirchlichen Trägerschaften übergeben werden. Und das ist hier sehr relevant, weil es … der ganze Rand von Ungarn ist multiethnisch, es hat hier immer, so klein der Ort auch ist, drei Schulen gegeben, serbisch, rumänisch, ungarisch, die sind jetzt in kirchlicher Hand, innerhalb von einem Jahr aus staatlicher in kirchliche Hand gewechselt, was natürlich insbesondere … Also die ungarische Schule gehört jetzt der katholischen Kirche, ist in dieser Trägerschaft, serbische und rumänische sind jetzt in Trägerschaft der jeweiligen nationalen Kirchen. Man kann sich gar nicht vorstellen, was das irgendwann mal bei einer Verschärfung auch der Konflikte, der ethnischen Konflikte für Folgen haben kann.

Mangel: Esther Kinsky, Autorin und Übersetzerin, im ungarischen Battonya zu Hause, über das neue Ungarn unter der Fidesz-Regierung, jetzt, nachdem das Land die EU-Ratspräsidentschaft abgegeben hat. Danke schön, Frau Kinsky, fürs Gespräch!

Kinsky: Ich danke Ihnen!

Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
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