Die Lesbarkeit von Geschichte

Vorgestellt von Carola Wiemers · 09.05.2005
Wie kann man nach einem fragen, der keinen Namen hat? Werden Erinnerungen genauer, wenn sie an Namen geknüpft sind? Dem erzählenden Ich in Michael Wildenhains Roman <em>Russisch Brot</em> kommt der Vorname seiner Mutter jedenfalls "seltsam und unpassend" vor. Spricht sie zu ihm, was mit zunehmendem Alter des Sohnes immer seltener wird, scheint eine andere Person gemeint zu sein.
Widerwillig und zögerlich werden dem Protagonisten die Bruchstücke seiner Familiengeschichte zugeteilt, die ihn vor allem deshalb brennend interessiert, weil sie mit unerklärbaren Verboten, Tabus und Schweigen behaftet ist.

Mit Wildenhain versucht erneut ein Nachgeborener (Jg. 1958) eine jener traumatischen deutsch-deutschen Geschichten erzählbar zu machen, ohne im Gestrüpp familiärer Verästelungen hängen zu bleiben. Denn wie mit Buchstaben aus einer Tüte Russisch Brot, die beim Herausnehmen in der Hand zufällig einen Wortanfang ergeben, so hantiert der Autor gekonnt mit Wörtern, Fotos, Erzählfetzen und immer wieder Rätselhaften. Diese Technik erfordert ein konzentriertes Lesen. Wobei der Romantitel die narrative Suchbewegung des Textes vorgibt. Denn das handelsübliche Gebäck Russisch Brot enthält schließlich auch keine kyrillischen Buchstaben.

Wildenhain geht es in seinem Roman um die Lesbarkeit von Geschichte, aber auch darum, wie aus überlieferten und erlebten Erinnerungen Zeitgeschichte verständlicher, offener wird. Sein Protagonist führt vor, wie schwierig dieser Prozess ist. Aus seiner Perspektive werden die Nachkriegsjahre im zerstörten Berlin belichtet, später die Polizeikontrollen am Grenzübergang. Er berichtet von missglückten Fußballspielen und Schulängsten, von familiären Kaffeeritualen, und immer wieder vom fremden Mann im blauen Jackett, den die Mutter heimlich trifft.

Als der Vater stirbt, dessen Anekdoten vom Krieg und der russischen Gefangenschaft wie ein "Hintergrundrauschen" die Kindheit des Sohnes begleiteten, fließt alles auseinander, erscheint Erlebtes hinter einer Wand aus Betäubung und Verlust. Für den heranwachsenden Erzähler stellt dieser Zustand die Möglichkeit dar, sich seiner selbst zu vergewissern.

"Früher war es mir möglich an mich selbst als an einen Fremden zu denken. Ich dachte an mich in der dritten Person. Weil es mir leicht fiel, Bilder vor meinen Augen zu sehen."

Doch die Bilder fangen an, sich zu verändern, Perspektiven wechseln. Am Ende bleibt ungewiss, wer sein leiblicher Vater gewesen ist. Gewiss hingegen ist, dass der mit ihm gelebte die Stelle des Vaters auszufüllen imstande war und in der Erinnerung auf ewig diese beanspruchen wird.

Wie in einem bunten Kaleidoskop baut Wildenhain Erzählstränge auf, ändert plötzlich ihre Richtung, um sie in eine neue Geschichte münden zu lassen, die alle vom Erzähler zusammengehalten werden. Erlebtes wird dabei verfremdet, Gehörtes dem eigenen Leben einverleibt. Stellvertretend für ein Ereignis werden Details benannt, die zu deuten dem Leser aufgegeben ist.

Liebe – das Wort, mit dem der Roman beginnt – ist das zentrale Motiv bei diesem intensiven Suchvorgang. Indem es Wildenhain gelingt, unzählige Liebesgeschichten ausfindig zu machen und diese einsammelt, kreist er die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus einer spezifischen Perspektive ein. Dabei ist ihm ein ungewöhnlicher Liebesroman gelungen.

Michael Wildenhain: Russisch Brot
Roman. Klett-Cotta 2005,
271 Seiten. 18,50 Euro.