Die Lange Nacht mit dem Filmemacher Edgar Reitz

Eine gute Geschichte ist nie ganz erklärbar

Der Filmregisseur Edgar Reitz
Das epische Erzählen ist sein Markenzeichen: der Filmregisseur Edgar Reitz. © picture alliance/ dpa/ Andreas Gebert
Von Beate Becker · 02.11.2019
Edgar Reitz feiert mit der „Heimat“-Trilogie internationale Erfolge. Die Form des epischen Erzählens in lebensgeschichtlichen Dimensionen ist sein Markenzeichen. Die Ideen für seine Geschichten entwickelt er nach einem ganz eigenen Prinzip.
"Wir machten unseren Eltern enorme Vorwürfe, dass sie diese Katastrophe hätten kommen sehen müssen und nicht verhindert haben, weder intellektuell, noch politisch. Und da waren die Ruinen, da waren die zerstörten Städte eigentlich ein Zeugnis für den Untergang einer Epoche, die wir alle ablehnten. Und solange diese Ruinen standen, war auch die Erinnerung aufrechterhalten. Die Nazizeit und die Zeit davor, die zu der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges geführt hatte, war aus der Sicht meiner Generation eine einzige Katastrophe", sagt Edgar Reitz. "Und dass diese Zerstörung in Gestalt dieser ruinierten Städte eine Symbolik hatte, das war uns sehr wichtig."
Edgar Reitz ging 1952 nach dem Abitur nach München. Die Stadt lag sieben Jahre nach dem Krieg noch in Trümmern. Mit 23 hatte Edgar Reitz eine frühere Mitschülerin geheiratet und war Vater geworden. Er musste den Lebensunterhalt für sich und die kleine Familie verdienen. Heute lebt Edgar Reitz in dritter Ehe mit der Schauspielerin und Sängerin Salome Kammer in München. Innerhalb weniger Jahre wurde Edgar Reitz ein berühmter Industriefilmer und verdiente sehr gut. Viele seiner Kollegen haben vom Industrieauftragsfilmen gelebt.
"Die eigentliche Filmbranche machte sich überhaupt nichts aus Filmkunst. Der Gedanke, dass Film auch eine künstlerische Ausdrucksform sein kann, den gab es in Deutschland so nicht."
1961 drehte Reitz den experimentellen Kurzfilm "Kommunikation". Der Film fand wenig Anklang. Man fand ihn beunruhigend. Das Wort "Kommunikation" war noch unbekannt und klang so ähnlich wie "Kommunismus".
"Die Bilder treten miteinander in Kommunikation. Musikalisch spricht das unsichtbare Innenleben der Übertragungssysteme." (Edgar Reitz)
Die Musik machte Josef Anton Riedl, Komponist für Neue Musik und von 1959 bis 1966 Leiter des "Siemens Studios für elektronische Musik" in München. Und dann kam Oberhausen: Am 28. Februar 1962 erklärten 26 Kurzfilmregisseure im Oberhausener Manifest, den alten Film für tot. Kurzfilme galten als "Schule und Experimentierfeld" für den Neuen Film. Es trat eine neue Generation an, die den Film als Kunst verstand und eine neue Sprache sprach.

Die Heimat-Chroniken

Nach der Verkündigung des Oberhausener Manifests begann Reitz zunächst, an "Geschwindigkeit" zu arbeiten, einem weiteren experimentellen Kurzfilm. 1967 dreht er dann seinen ersten Spielfilm "Mahlzeiten". Der Film wurde ein großer Erfolg und auf der Biennale in Venedig als bestes Erstlingswerk ausgezeichnet.
Eingeschneit auf Sylt schrieb Reitz ein Manuskript von 100 Seiten, das er im Februar 1979 auf der Berlinale dem Redakteur Joachim von Mengershausen mit den Worten übergab: "Ich muss dir was zeigen, ich habe in meinem Garten eine Ölquelle entdeckt."
"Er las das in seinem Hotel und sagte mir am nächsten Tag, also wenn du das verfilmen willst, brauchst du zwei Jahre. Das können wir vom WDR alleine nicht, das müssen mehrere Sender stemmen. Und so nahm das alles seinen Anfang mit 'Heimat'. Und so kamen die Jahre, wo ich wieder in den Hunsrück zog, um das Drehbuch zu schreiben", erzählt Reitz.
Der 16-stündige Film "Heimat", der den Zeitraum 1919 bis 1982 umfasst, ist eine Saga, eine fiktive Chronik, die deutsche Geschichte im Mikrokosmos der Provinz spiegelt. Im Zentrum stehen zwei Familien: die Familien Wiegand und Simon. Maria, gespielt von Marita Breuer, heiratet Paul. Am Ende des ersten Teils wird Paul seine Heimat verlassen, nach Amerika gehen und erst 25 Jahre später zurückkehren.
Jan Dieter Schneider als Jakob in einer Szene des Kinofilms "Die andere Heimat" von Edgar Reitz
Jan Dieter Schneider als Jakob in einer Szene des Kinofilms "Die andere Heimat" von Edgar Reitz© picture alliance / dpa / Concorde Filmverleih / Christian Lüdeke
Nach einjähriger Drehbucharbeit starteten die Dreharbeiten am 4. April 1981. Sie dauerten zwei Jahre. In diesem bis dahin beispiellosen Megaprojekt der bundesdeutschen Filmgeschichte wurde an 282 Drehtagen, an 50 Orten, mit 32 Haupt- und 159 Nebendarstellern und 4000 Komparsen gedreht. Reitz arbeitete in "Heimat 1" auch mit Laien, mit eindrucksvollen Charakteren, die er in den umliegenden Dörfern gecastet hat. Das Personal wirkt absolut authentisch. Die Schauspieler sprechen Dialekt - "Hunsrücker Platt".
Die Uraufführung fand im Juni 1984 an zwei Tagen im Münchner Arri-Kino vor 600 Zuschauern statt. Die Ausstrahlung im Fernsehen wurde zum Ereignis, 25 Millionen Zuschauer sahen von September bis Oktober 1984 mindestens eine der Folgen. Die Einschaltquote lag bei 26 Prozent. "Heimat 1" war auch ein internationaler Erfolg. Der Film wurde in 30 Länder verkauft.

Blick auf die 1960er-Jahre

In der "Zweiten Heimat", dem autobiografischen Hauptwerk von Reitz, steht Hermann im Zentrum. Er ist ein "Weggeher", im Unterschied zu den "Dableibern". Wie Reitz, der nach dem Abitur aus dem Hunsrück nach München gegangen ist. In ihr finden sich viele Lebenssituationen von Edgar Reitz wieder, die er fiktionalisiert hat.
Detailliert werden die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der 60er-Jahre beschrieben: die Ermordung Kennedys, die RAF, die Haschrebellen, Hausbesetzungen und Studentenproteste. Wie diese Ereignisse und gesellschaftlichen Veränderungen wirken, wird anhand des Kosmos dieser Künstlergruppe erzählt.
Sechs Jahre arbeitete Reitz an diesem Film. Es waren 552 Drehtage, 71 Darsteller, 310 Kleindarsteller, 2300 Mitwirkende und 540.000 Meter Film. Die "Heimat 2" dürfte das bislang größte zusammenhängende Filmprojekt der Geschichte sein, das ein einzelner Regisseur und Drehbuchautor bewältigt hat.
"Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende" beginnt am 9. November 1989. Clarissa und Hermann, beide erfolgreiche Musiker, begegnen sich in einem Westberliner Hotel nach 17 Jahren wieder und entdecken ihre Liebe füreinander.
2012 dreht Edgar Reitz als beinahe 80-Jähriger "Die andere Heimat". Er wird dafür 2014 mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet. Es ist ein Film über die Auswanderungswelle nach Südamerika 1843 im von Armut und Hunger geprägten Hunsrück. Im Mittelpunkt steht der Bauernjunge Jakob, gespielt vom Laiendarsteller Jan Dieter Schneider. Er ist der sehnsüchtige Leser und Träumer, untauglich zur Feldarbeit, der nach Brasilien auswandern möchte.

Das Großvaterprinzip

Während sich die avantgardistische Filmkunst durch ein hohes Tempo auszeichnete, setzt mit "Heimat" das "Interesse an panoramatischen Lebensbildern" (Thomas Koebner) und eine Verlangsamung des Tempos ein. Reitz hat sich stets gewehrt, eine permanente Dramatisierung des Stoffes nach dem Hollywood-Schema vorzunehmen, so Koebner, der Reitz-Biograf und ehemaliger Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin, in seinem Buch "Edgar Reitz erzählt". Das "Großvaterprinzip" nennt Reitz den Erzählstil, der ihn prägte:
"Das habe ich auch von meinem Großvater, genannt der Becker Mats. Der ging jeden Morgen um fünf zu seiner Bahnstrecke, lief an dem Gleis entlang, 15 oder 20 Kilometer. Dann hat er seine Brotzeit ausgepackt. Und dann drehte er sich um und ging wieder zurück an der Strecke entlang, und zwar immer über die Bahnschwellen. Er hatte sich deswegen auch so einen merkwürdigen Tippelschritt angewöhnt, weil der Abstand der Bahnschwellen etwas kürzer ist, als der Schritt eines erwachsenen Mannes. Aber er musste immer auf die Schwellen treten und deshalb ging er in so Tippelschritten. Und im Gehen hat er sich immer Geschichten ausgedacht. Wenn er nach Hause kam, hatte er immer eine neue Geschichte im Kopf. Auf der Bank saß er und ich auf seinem Schoß am Feierabend und erzählte Geschichten. Das ist mein eigentlicher Erzählstil. Der beginnt immer mit den allgemein bekannten Dingen und arbeitet sich ins Unbekannte vor."
Ein neues Projekt: Edgar Reitz sitzt hier auf einem der 30 Plätze im "Kino Heimat" im Hunsrück
Ein neues Projekt: Edgar Reitz sitzt hier auf einem der 30 Plätze im "Kino Heimat" im Hunsrück© Foto: Harald Tittel/dpa
Die Form nennt Edgar Reitz episches Erzählen. Es ist ein Erzählen, das auf kein Ende hinsteuert, es geht immer weiter. Die lange Form, die er in der 50-stündigen "Heimat"-Trilogie realisiert hat, bezeichnet er als fiktive Chronik. Schon früh stellt sich die Frage der Aufführungspraxis dieser epischen Filme oder die Frage nach einem adäquaten Medium, in dem die Filme laufen könnten. Die langen Filme, die Reitz gedreht hat, wurden im Kino gezeigt und liefen im Fernsehen.
Im Internet, in den Streamingportalen, die mehr und mehr das Fernsehen ersetzen, finden die neuen Erzählformen einen Markt. Das Erzählen in lebensgeschichtlichen Dimensionen entspricht elementar dem heutigen Lebensgefühl, sagt Edgar Reitz.

Edgar Reitz ist Filmemacher, Autor und Hochschullehrer. Edgar Reitz wurde 1932 in Morbach im Hunsrück geboren. Ab 1957 ist er Kameramann und Regisseur von Industriefilmen und Dokumentarfilmen. Er ist Mitglied der "Oberhausener Gruppe", die 1962 den deutschen Autoren-Film hervorbrachte. Besonders seine Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilme finden internationale Beachtung und werden vielfach ausgezeichnet. Später gründete er das Instituts für Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und auch das Europäische Institut des Kinofilms (EIKK) in Karlsruhe. Seit 1994 ist Edgar Reitz Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

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