Die Kunst des Endens

Letzte Sätze in der Literatur

31:19 Minuten
Scheherazade, Dinarzade und der Sultan aus 1001 Nacht auf einem historischen Stich.
"Das Beste meiner Erzählung kommt erst noch": Scheherazade gilt als ein Vorbild seriellen Erzählens. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library | -
Von Marc Bädorf und Konstantin Schönfelder · 18.12.2020
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Den letzten Sätzen wird viel weniger Aufmerksamkeit zuteil als Romananfängen. Dabei hat auch der letzte Satz eine Sonderstellung. Autor*innen feilen oft lange daran. Zum Weiterlesen muss er nicht verführen, dafür das Erzählte abschließen.
"Später werde ich über alles Genaueres schreiben", lautet der letzte Satz in Peter Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück". Und J.R.R. Tolkiens "Der Herr der Ringe" schließt mit dem Satz: "Mehr kann darüber nicht gesagt werden."

Das dicke Ende

Wer meint, dass der erste Satz eines Romans der schwierigere sei, habe keine Ahnung von den wirklichen Problemen des Schreibens, meint der Historiker und Autor Ulrich Raulff. "Das wirkliche Problem kommt am Schluss. Das dicke Ende. Die Kunst zu enden, mit Anstand einen Abgang zu machen."
Fjodor Dostojewski lässt seinen Roman "Verbrechen und Strafe" so enden: "Das könnte das Thema einer neuen Geschichte werden – aber unsere jetzige Geschichte ist zu Ende."
Der ehemalige Feuilletonchef des FAZ, Ulrich Raulff, bei einer Veranstaltung auf der Frankfurter Buchmesse.
Von 2004 bis 2018 war Ulrich Raulff Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach: © picture alliance / dpa-Zentralbild | Arno Burgi
"Der letzte Satz ist die entscheidende kurze Rechte, die Sie ihrem Gegner unters Kinn hauen", führt Ulrich Raulff weiter aus. "Oder es ist der Hieb, den sie, wenn sie danebenhauen, sie selbst trifft und zu Boden streckt." Raulff leitete von 2004 bis 2018 das Literaturarchiv in Marbach, das er mit einer Rede zu letzten Sätzen verließ. Er begann sie mit den Worten: "Erste Sätze werden generell überschätzt."

Ewigkeiten mit diesem letzten Satz verbracht

Die Schriftstellerin Zsuzsa Bánk ist ebenfalls der Meinung, dass der letzte Satz ganz entscheidend sei: "Ich würde sagen, der letzte Satz muss genauso groß sein wie der erste Satz. Man kann nicht einfach so irgendwie aufhören. Es ist eine Zusammenfassung am Ende. Was wurde denn erzählt, wie kann ich es noch mal zusammenfügen."
2002 veröffentlichte sie ihr Debüt "Der Schwimmer" und erzählt: "Ich weiß noch, dieses letzte "Ich kann warten, ja" im "Schwimmer" hat sehr lange gedauert. Ich habe Ewigkeiten mit diesem lächerlichen, kurzen letzten Satz verbracht. Deswegen: Der letzte Satz ist stark und wichtig. Dass ich Hunderte von Seiten schreibe und diesen letzten Satz verschenke. Das wäre schrecklich."
Als Letztes werde der Schlusssatz jedoch nicht geschrieben, sagt Zsuzsa Bánk: "Der letzte Satz kommt relativ früh. Was bis dahin passiert, das weiß ich nicht. Aber ich kenne meistens das Schlussgefühl, die Schlussszene, womit die Figuren am Ende dastehen."
Schriftstellerin Zsuzsa Bánk bei einer Veranstaltung der lit.COLOGNE in der Kölner Zentralbibliothek.
Kennt beim Schreiben bereits das Schlussgefühl: Schriftstellerin Zsuzsa Bánk. © imago images / teutopress

Wie Blitz und Donner

Für manche Autoren ist das Buch eine Art Brücke", sagt Hans Jürgen Balmes, Lektor und Übersetzer beim S.-Fischer-Verlag. So gesehen wären der erste und der letzte Satz die gegenüberliegenden Ufer eines Textes.
"Wenn Autoren anfangen zu schreiben, wissen sie oft nicht genau, wo das Brückenlager sein wird. Aber sie haben ein Gespür dafür, wenn sie es erreicht haben. Und formulieren das auch deutlich aus. Damit der große Gesang, der ein Buch ist, einen Stopp findet."
"Spätestens am Morgen würde es aufhören zu regnen, der Tag würde bestimmt kühl und hell. Und es war gut, denn es war Zeit, zu gehen." So endet der neue Roman von Robert Seethaler "Der letzte Satz" über den Komponisten Gustav Mahler. Doch der letzte Satz beschäftigt sich nicht mit Mahler, sondern mit einem Schiffsjungen, der sich auf der Reise um Mahler gekümmert hat.
Robert Seethaler erzählt, dass das so nicht geplant gewesen sei: "Sagen wir mal so, vielleicht ein Gedanke oder ein Gefühl dahinter, das ja etwas bleiben muss. Die Welt dreht sich ja weiter. Der eine stirbt, der andere geht. Dieser Schiffsjunge trägt das Leben weiter und es wäre natürlich spannend zu wissen, wohin das führt."
"Es gibt letzte Sätze, die knallen wie ein Paukenschlag", sagt Ulrich Raullf, "wie ein Gewitter mit Blitz und Donner. Und es gibt andere, die versuchen selber, dieses Ausklingen und Nachklingen des Textes zu moderieren. Also ein Leiser-Werden. Ein Ausfaden."

Der Fall Raymond Carver

Mit den letzten Sätzen in den Erzählungen des amerikanischen Schriftstellers Raymond Carver hat es eine besondere Bewandtnis. Nach dem Erfolg seiner ersten Erzählungen soll ein nächster Band erscheinen. Doch als Carver die lektorierte Fassung erhält, muss er feststellen, dass Lektor Gordon Lish große Teile gestrichen und die Enden der Geschichten verändert hat. Carver ist entsetzt, doch als sein Widerstand gebrochen ist und die Sammlung ein Jahr später unter dem Titel "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden", erscheint, werden zehn von dreizehn Enden von Lish stammen.
Der Band macht Carver in den USA zu einem Starschriftsteller. Besonders gelobt werden seine letzten Sätze. Der deutsche Schriftsteller Ingo Schulze, für den Carver ein Vorbild war, schreibt in einem Vorwort zur Neuübersetzung: "Der wichtigste Satz aber ist jeweils der letzte. Mit ihm wird der Erzählung die Seele eingehaucht. An ihm entscheidet sich, ob die Geschichte gelungen ist oder nicht."
Viele Jahre bleibt es ein Geheimnis, von wem die so wichtigen letzten Sätze stammen. Erst 1998 begibt sich der Journalist D.T. Max in die Bibliothek der Indiana University und sichtet die Ordner mit den lektorierten Manuskripten. Jahre später veröffentlicht ein amerikanischer Verlag die nicht-lektorierten Geschichten Carvers. Nun kann jeder sehen, was der Literaturkritiker Paul Ingendaay in seiner Rezension zum nicht-lektorierten Band bemerkt: "Es gehe nicht um Kinkerlitzchen. Sondern um zwei grundverschiedene Bücher."

Der letzte Satz darf kein Ende sein

Claudia Ott übersetzt die Geschichten aus 1001 Nacht ins Deutsche. Sie erzählt: "Wir haben einen Archetyp des Erzählens in 1001 Nacht. Die Urmutter der modernen Vorabendserie und des Cliffhangers, die heißt Schahrazad." Schahrazad ist die Tochter eines Wesirs des Sultans. Der will sich, da er von seinen Frauen betrogen wurde, alle Frauen der Welt bestrafen. Er nimmt sich jede Nacht eine neue Frau und tötet sie am Morgen, damit sie ihn nicht betrügen kann.
Schahrazad durchbricht dieses grausame Ritual, indem sie ihm Geschichten erzählt. Deren letzte Sätze haben eine Besonderheit: Sie dürfen kein Ende sein.
Schahrazad Hauptstrategie ist es, eine Geschichte nie zum Ende der Nacht aufzuhören. Sondern sie erzählt immer so lange, bis es so spannend ist, dass sich kein Ende ankündigt, dass alles offen ist.
"Und dann gegen Morgen, zu der Zeit, wo die Frauen normalerweise getötet werden", sagt Claudia Ott, "ist die Geschichte so spannend geworden, dass der Sultan sie nicht umbringt. Weil er unbedingt die Fortsetzung hören möchte. Und das ist der Trick, mit dem die Schahrazad die 1001 Nächte überlebt, bis zum Schluss."
(DW)

Sprechende: Simone Kabst, Felix von Manteuffel und Ole Lagerpusch
Regie: Roman Neumann
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal

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