Die Kunst der Langsamkeit

Von Walter Bohnacker aus London · 02.10.2012
In der TATE Britain-Galerie präsentieren die Kandidaten des Turner-Preises ihre Arbeiten. Die Entscheidung über den Gewinner des mit 25.000 Pfund dotierten Preises für Gegenwartskunst fällt am 3. Dezember. Eines steht jetzt schon fest: Mit den vier Bewerbern macht es sich die Jury nicht leicht.
20 Minuten volle Konzentration fordert die Installation der Videokünstlerin und Ex-Popsängerin Elizabeth Price. Aber bei ihr zählt jede Sekunde! Was zuerst anmutet wie ein Powerpoint-Fachvortrag in 3D zum Thema gotische Kirchenarchitektur - Apsis, Hauptschiff, Chor etc. -, mündet in einen pseudodokumentarischen Bericht über den Großbrand in einem Warenhaus in Manchester, bei dem 1979 zehn Menschen ums Leben kamen.

Prices bis ins Detail durchchoreografierte Collage aus Archivaufnahmen vermischt mit Grafiken und Auszügen aus Werbe-, Pop- und YouTube-Videos ist eine visuelle Tour de Force. Ihr gehe es, so die Künstlerin, um neue Formen der medialen Vermittlung von Information: lehr-reich, unterhaltsam, lyrisch, kathartisch.

"Mich interessiert, was passiert, wenn sich die Kategorien verschieben: vom Sozialen und Zeitgeschichtlichen hin zu etwas, was den Betrachter unmittelbar persönlich anspricht und ihn eintauchen lässt, auch in etwas so Emotionales wie Popmusik."

Um eineinhalb Stunden Aufmerksamkeit bittet Luke Fowler aus Glasgow, der zweite Videokünstler in der Runde.

In der Kombination von Bild- und Ton-Archivmaterial mit selbst gedrehten Dokumentarsequenzen entwirft Fowler in einem 90-Minuten-Video ein subjektives Porträt seines Landsmanns, des schottischen Analytikers und Mitbegründers der antipsychiatrischen Bewegung der 1960er Jahre, Ronald David Laing. Es geht um Laing als tragische Randfigur und Außenseiter: in seinem Metier und in der Gesellschaft.

"Laing sträubte sich gegen die analytische Schematisierung des Individuums auf streng naturwissenschaftlicher Basis. Gleiches gilt für den Dokumentarfilm. Um formal und ästhetisch nicht in Wiederholungsmustern zu erstarren, muss sich das Medium permanent erneuern, nur so bleibt es relevant."

20 Minuten bei Elizabeth Price, 90 bei Luke Fowler. Was ist das schon! Knapp fünf Stunden dauern die Liveshows der Aktionskünstlerin Spartacus Chetwynd und ihrer Truppe. Um Außenseiter geht's auch hier, allerdings in einem für die TATE und den Turner-Preis recht ungewohnten Rahmen: dem inszenierten Happening.

Chetwynd entführt uns in ganz andere, fantastische Dimensionen. "Odd Man Out" ist der Titel einer ihrer beiden Performances. In einer Art karnevaleskem Mummenschanz tanzen als Alraunen verkleidete Darsteller wurzelwesenhaft um ein ominöses Orakel.

Was genau wird hier aufgeführt? Ein dionysisches Bacchanal? Ein mittelalterliches Mysterienspiel mit Masken? Oder doch nur anarchischer New-Age-Nonsense-Spaß nach der Devise: "Ich bin ein Baum"?

Die Sprüche des Orakels, dem teilnahmewilligen Betrachter ins Ohr geflüstert, verheißen nichts Gutes. Einer lautet: "84 Prozent aller Menschen haben mehr Verstand als Sie!" und ein anderer: "Was Ihnen bevorsteht? Eine lieblose Zukunft!"

Nebenan läuft Kunstwerk Nummer zwei: "Jesus und Barrabas", ein eher konventionelles Puppentheaterstück, obgleich nicht minder düster - nach dem Motto: Lasst den Verbrecher frei! Chetwynds Performance-Nummern suggerieren die Geburt des Happenings aus dem Geiste der Rebellion. Eigentlich heißt die Künstlerin Alalia mit Vornamen; der Sklavenname Spartacus als Pseudonym stehe ihr aber besser, findet sie: damit ecke sie an und ärgere die Leute. Und Ärger und Wut, Widerstand und Protest seien nun mal produktiver als angepasster "künstlerischer Professionalismus".

Bleibt noch Kandidat Nummer vier, Paul Noble. Mit 48 ist er der Älteste im Bunde. Und er ist der einzige, der tatsächlich bildkünstlerisch aktiv ist. Seit sechzehn Jahren arbeitet er an seiner Bilderserie über den fiktiven Ort Nobson in einem Landstrich irgendwo in Großbritannien.

Das Eigentümliche an Nobles Nobson-Welt: sie ist menschenleer - und alles andere als nobel! Alle Lebewesen in diesem dystopischen "Waste Land" der Fantasie sind Hundehaufen. Sie haben hier alles fest im Griff: Wohnviertel, soziale Einrichtungen, den ganzen Staat, die ganze Zivilisation.

Mit sehr viel Humor und mit akribischer Besessenheit entwarf der Künstler mit Bleistift und Kohle seine Fäkalien-Panoramen: Gebäude, Land-schaften, Parks, Paläste, das Meer - um mit seinen Miniaturen was genau zu demonstrieren?

Die Weltherrschaft der Exkremente als absurde eschatologische Konsequenz der Heilslehre von den letzten Dingen? Noble selbst betont den ökologischen Aspekt seiner Arbeiten: unsere Verantwortung für die Natur.

"Als habgierige, gefräßige Raubtiere, die wir nun mal sind, sollten wir etwas leiser treten. Der Mensch ist nur eine Spezies unter vielen, die sich den Planeten teilen."

So anspruchsvoll und vielseitig war das Turner-Turnier schon lang nicht mehr. Natürlich auch nicht so zeitaufwendig. Andererseits: die Kunst der Langsamkeit hat eben ihren Preis - und den verdient sie auch, egal wer gewinnt.
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