"Die kulturelle Vielfalt ist unsere Kraft"

Von Hermann Schmidtendorf · 09.03.2006
Unter dem Titel "Ungarischer Akzent" wurde am Donnerstag das Ungarisch-Deutsche Kulturjahr eröffnet. Der ungarische Kulturminister András Bozóki betonte aus diesem Anlass, man wolle mit der Präsentation von moderner Kunst, Pop, Jazz oder Film das Ungarn-Bild zu erweitern.
Der Titel macht derzeit Furore in Budapester Musikclubs. Zum Chill Out spielt die Gruppe "Žagar" moderne Beats – doch zu einem Motiv von "Les Funérailles" des klassischen Komponisten Liszt – natürlich von Ferenc, dem Ungarn, nicht etwa von Franz, wie ihn die Deutschen und Österreicher zumeist nennen.

Tradition und Moderne, nationale Kernkultur und weltoffene multikulturelle Szene – diese Spannungsfelder spürt der ungarische Kulturminister András Bozóki, wenn er das heute beginnende Deutsch-Ungarische Kulturjahr und auch die Kulturszene seines Landes erklärt. Erst vor zwei Jahren wurde der Politikprofessor mit dem charmanten Bart zum Minister. Verschmitzt und ernst zugleich, nachdenklich und zielsicher formuliert er seine Definition der ungarischen Kultur heute.

"Die gerade genannten ungarischen Schriftsteller sind in Deutschland ziemlich gut bekannt und präsent. Uns geht es darum, das Ungarn-Bild zu erweitern. Deshalb wollen wir nicht nur Béla Bartók zu seinem Gedenkjahr präsentieren, sondern auch moderne bildende Kunst, Pop, Jazz, Film oder auch Märchenkunst vorstellen. Wir können kein teures Goya-Jahr anbieten, aber in der Kultur gibt es keine Unterscheidung nach kleiner oder großer Nation. Die kulturelle Vielfalt ist unsere Kraft."

Das Ministerium von Professor Bozóki nennt sich "Ministerium für das kulturelle Erbe". Ist damit eine zeitliche Grenze gemeint, eine Kanonisierung? Der Minister lacht.

"Auch ich bin über diesen Begriff nicht glücklich. In der österreichisch-ungarischen Monarchie diente die ungarische Kultur der Selbstbehauptung, im sowjetischen Zeitalter der Leistungsschau ähnlich dem Sport in der DDR, nach dem Motto: Wenn wir sonst schon nicht selbständig sind, sollen wir wenigstens die Kultur fördern. Heute haben wir eine autonome Kultur in der Demokratie, das stimmt uns glücklich und ist zu fördern. Der Künstler bestimmt selbst seine Definition. Ein wirkliches Erbe ist so substanzreich, dass es auch heute aktuell ist. Und moderne Schöpfungen sind in einigen Jahren vielleicht kulturelles Erbe. Wenn man den Begriff des kulturellen Erbes so breit fasst, bin ich mit ihm einverstanden."

Kultur macht vor Landesgrenzen nicht halt, sie steht in permanentem Dialog – mit dieser liberalen Haltung sollte Ungarns Kulturminister bei seinen Schützlingen Respekt genießen. Die Kulturszene floriert - allein in der Hauptstadt Budapest gibt es 86 Theater und 32 Museen. Doch die Realität ist auch in Ungarn prosaischer.

"Alle reden immer von Geld. Ich spreche für die Kultur der Freiheit in einer Demokratie, welche sich immer erneuert als lebendige gesellschaftliche Praxis. Doch die Journalisten und viele Künstler fragen immer wieder, ob die Zuschüsse für die Nationalphilharmonie oder das Nationaltheater reichen. Das ist schon enttäuschend und paradox – als Minister mache ich mir Gedanken über den Inhalt von Kultur, doch diejenigen, die sich durch Beruf und Berufung damit befassen sollten, reden immer von Geld. Dabei ist doch klar – es gibt immer mehr Antragsteller als Finanzmittel. Wir müssen deshalb auch EU-Gelder und Privatmittel mobilisieren."

Ein voller Erfolg wurde in dieser Hinsicht das 2004 durch das gesamte Parlament verabschiedete Filmgesetz. Es schaffte stabile Finanzrahmen für die nationale Filmförderung, lockte mit steuerlichen Anreizen einheimisches Privatkapital und auch internationale Produktionen an, Steven Spielberg und Kollegen eingeschlossen. 20 bis 24 nationale Kinofilmproduktionen hat Ungarn seither jährlich vorzuweisen und steht damit gleichauf mit dem nach Einwohnern viermal größeren Polen. Einen öffentlichen Schock löste vor einigen Wochen eine Journalistenrecherche aus, der zufolge der Oscar-Preisträger und Regisseur Isztván Szábo in seiner Jugend bis 1963 Zuträger des ungarischen kommunistischen Geheimdienstes war. Minister Bozóki sieht die künstlerische Wertschätzung für den Regisseur nicht in Gefahr, wohl aber die moralische.

"Vor allem die ältere Generation brachte ihm viel Verständnis entgegen. Die Jüngeren fühlen eher, dass sie befreit sind von dem Druck einer moralischen Autorität."

Man könnte auch sagen: Sie sitzen im moralischen Vakuum – ein Grund mehr zur Aufarbeitung der kommunistischen Geschichtsperiode, die nicht nur Künstlern das Leben verbog. Doch erst einmal tobt in Ungarn der Wahlkampf – schließlich sind am 9. April Parlamentswahlen. Die konservative Opposition wird durch Wahlkampfstrategen der polnischen Regierungspartei beraten, die ein äußerst nationalistisch-traditionistisches Weltbild kennzeichnet. Für den ungarischen Kulturminister ist klar: Ungarns Rechte will wie auch ihre polnischen Berater die kulturelle Einigelung, während die links-liberale amtierende Regierung für Weltoffenheit eintritt.