Die Kultur des neuen Kapitalismus

Rezensiert von Brigitte Neumann · 03.06.2005
Richard Sennett träumt nicht von einem neuen revolutionären System, das den Kapitalismus ablösen sollte. Er ist sich sicher, dass die gute alte Marktwirtschaft noch nicht ausgedient hat und dass im System noch eine Menge Spielraum ist. Allein, die Deutschen seien ziemlich lustlos im Ausprobieren von Möglichkeiten. Die hiesige antikapitalistische Debatte ähnle einem romantischen und selbstzufriedenen Opfer-Melodram.
Ein Blick zu den Nachbarn würde da weiterhelfen, meint der 62-jährige Soziologe: Die Holländer haben genauso wenige Jobs, teilen sie aber wenigstens untereinander auf. Tony Blair zahlt für 140.000 Bürger eine Ausbildung zum Pflegehelfer; solche Leute werden gesucht, denn auch Englands Gesellschaft altert rapide. Am besten aber wissen sich die Inder zu helfen, sagt Richard Sennett:

"Wie Sie vielleicht wissen, sind die Inder hervorragende Software-Programmierer. Sie haben zu Hunderten kleine Familienbetriebe gegründet, wo jedes Mitglied einen Platz findet. Muss ein solcher Familienbetrieb expandieren, helfen die Angehörigen der angeheirateten Familien mit. Ein sehr gemeinschafts-orientiertes Business. Und diese Betriebe arbeiten profitabel. Warum machen wir so etwas nicht? Warum sind wir bloß so einfallslos darin, das System für uns zu benutzen? Warum wir in dieser zweigleisigen Sackgasse stecken bleiben: Alles für den Markt - Alles gegen den Kapitalismus? Und genau darum wird es auch bei den nächsten Wahlen in Deutschland gehen. Besonders die Linke wird sich die Frage stellen müssen, wie man kreativer sein kann, damit man nicht länger auf dem Opferbänkchen sitzen muss. "

Sennett sieht weniger die Globalisierung als Ursache des wirtschaftlichen Wandels. Der entscheidende Umschwung kam seines Erachtens, als die Investoren begannen, aktiv Einfluss zu nehmen und damit über den Fortbestand oder das Ende eines Unternehmens entschieden. Beispiel Mannesmann, Beispiel Deutsche Börse.

Diese Investoren wünschen eher kurzfristige Ergebnisse als langfristige Erfolge. Die Stabilität eines Unternehmens gilt paradoxerweise seither als Zeichen der Schwäche. Die Bereitschaft, die eigene Organisation zu destabilisieren, plötzlich als positives Signal.

Wie muss ein Mensch beschaffen sein, der in diesem Wirtschaftssystem erfolgreich agieren will. Richard Sennett schreibt in seinem neuen Buch "Die Kultur des neuen Kapitalismus...

" Er muss mit kurzfristigen Beziehungen und mit sich selbst zu Rande kommen, während er von einer Aufgabe zu anderen, von einem Job zum nächsten, von einem Ort zum anderen wandert. Er muss seine Biographie improvisieren oder sogar ganz ohne konstantes Ich-Gefühl auskommen.
Er darf nicht an einem Ideal hängen, dem es darum geht, eine Sache optimal zu beherrschen. Denn das Festhalten an diesem Ideal erweist sich oft als ökonomisch destruktiv.
Er muss die Bereitschaft haben, Erfahrungen bereitwillig aufzugeben und sich von Vergangenem zu lösen. "

Wie oft schafft ein Mensch einen Neuanfang in seinem Leben? Amerikaner ziehen im Durchschnitt vier Mal um, sagt Richard Sennett. Aber der Preis dieser Flexibilität ist hoch, denn die Ressourcen, aus denen sich die moralische Sensibilität der Bürger speist, drohen um so eher auszutrocknen, je mehr die Lebenswelt ökonomischen Imperativen unterworfen ist, meint Jürgen Habermas. Und Richard Sennet liefert ein Beispiel dafür:

" Worauf wir in den modernen Netzwerken zusteuern ist meines Erachtens eine Art ethischer Isolation. Ich möchte das nicht Individualismus nennen, denn es handelt sich um ein anderes, neues Phänomen. Der Schlüssel zu seinem Verständnis liegt in den Vorkehrungen, mit denen Menschen sich heutzutage vor Abhängigkeiten schützen. Ein Versuch, den ich absurd finde. Denn Kinder sind abhängig und Alte sind es auch. Sie brauchen Hilfe. Und daran ist absolut nichts Peinliches. Was Kinder angeht, so pushen wir sie, schnell und früh erwachsen zu werden. Nicht alle Kinder vertragen das. Und die Alten bestrafen wir dafür, dass sie abhängig sind und sich auch so benehmen. Vielleicht ist ja die Entwicklung in Deutschland anders als in England. Dort jedenfalls sollen Ältere möglichst ganz und gar in ihren letzten Jahren für sich selbst aufkommen, finanziell und ideell. Das ist einfach gnadenlos. "

Was man seinem aktuellen Buch nicht anmerkt: Richard Sennett ist wütend, ungeduldig, ein wenig frustriert. Im Buch dekliniert er noch routiniert die Folgen der Arbeitsverknappung, der Selbst-Entmachtung von Politik und der Selbst-Zermürbung wichtiger gesellschaftlicher Institutionen herunter. Aber vielleicht nervt ihn die eigene Machtlosigkeit, denn die Verhältnisse verändern sich in eine Richtung, gegen die er seit Jahren anschreibt. Deshalb findet Richard Sennett: Jetzt sind andere dran. Und zwar Leute, die was tun...

" Warum nicht einfach etwas gegen die Misere unternehmen? Vielleicht ist das wirkliche Problem, das der Kapitalismus hervorbringt: Dass er unser Vorstellungsvermögen, was Menschen alles tun könnten, lähmt und beschränkt. Entweder man tut selbst etwas oder wird damit beliefert. Dazwischen gibt es nichts, keine Bürgergesellschaft, die die Lücke ausfüllte. Dieses Phänomen macht mich zunehmend perplex. Deswegen wird das kleine Buch "DIE KULTUR DES NEUEN KAPITALISMUS auch das letzte sein, was ich zu dem Thema sagen werde. Ich möchte nicht mein ganzes restliches Leben damit verbringen. Aber am Ende dieses zehnjährigen Projekts möchte ich trotzdem noch sagen, wie sehr es mich bestürzt zu sehen, welche kulturellen Werte wir ansteuern: Werte des Verzichts, der Selbst-Aufgabe. Oder des Erfolgs und Reichtums. "

Das gegen die Verhältnisse Anschreiben und Anreden hat ihn erschöpft. Er will jetzt über seine persönliche Zukunft nachdenken - und die gehört der Kunst. Aber Sennett, der nebenbei gesagt auch ein ziemlich guter Cellist ist, meint nicht die Kunst als Fluchtpunkt, als Insel und Paradies der Träumer. Sondern die Kunst als Arbeit, bei der Meisterschaft, Handwerk und Schönheit zählen. Er hat drei Bücher über Praxis und Ausdruck des Kulturellen in Planung. Richard Sennett ...

" Herbert Marcuse hat von den erlösenden Qualitäten der Kultur geredet. Ich entdecke sie im Alter wieder für mich. "

Eine gewisse Erlösung von der grassierenden Ratlosigkeit, das hatte sich die deutsche Linke von dem aktuellen Buch Richard Sennets "Die Kultur des neuen Kapitalismus" erwartet. Das Buch, so interessant es in einigen Details auch ist, kann diese Heilserwartung auch nicht im Entferntesten einlösen und der 62-jährige Professor an der London School of Economics verabschiedet sich - so wie es aussieht - auch persönlich sehr gerne von seiner Rolle als Ikone europäischer Antikapitalisten.

Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus
Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff
Berlin Verlag, Berlin 2005