Die Krise und ich

Schlaflos in Bahrenfeld

24.02.2014
Heutzutage heißt es nicht mehr sozialer Abstieg, sondern Downgrading. Doch was verbirgt sich dahinter? Brigitte Neumann berichtet von ihrem Umzug in eine Hochhaussiedlung, von bellenden Hunden und dünnen Papierwänden.
"Journalistin und Dozentin, 55, sucht helle und günstige Wohnung für Neustart." Auf meine Annonce meldet sich Frau T. Eigentlich sei sie auch reif für einen Neustart, sagt sie, der Mann - unausstehlich geworden … aber sei es nicht zu gefährlich, in unserem Alter noch mal von vorne …?
Als ich die Wohnung von Frau T. mietete, war Ostwind. Die Sonne schien und alles war still. Als ich mit den Möbeln kam, hatte der Wind gedreht. Tatsächlich haben wir selten Ostwind.
Draußen grollt's die meisten Tage und in den Nächten auch, als würde eine Boing 747 starten und niemals abheben. Das ist die Autobahn. Ein Kilometer entfernt, aber akustisch vor der Tür.
Wenn's pfeift, fährt die S-Bahn ab, und wenn's greint und wimmert und stöhnt, dann sind das die Schwestern Sümmchen von untendrunter.
Vielleicht müssen sie sich furchtbar brennende Tropfen in die Augen träufeln. Oder die eine wird von der anderen mit glühenden Zahnstochern gepiesackt. Machen die so Sex? Ich wills bitte gar nicht wissen. Die Schwestern Sümmchen sind um die 80.
Aber ist so ein neues Heim nicht schön für Menschen wie mich, die gerade nicht viel zu tun haben? Es wurde gebaut, damit man sich nie langweilt, denn man darf jederzeit am Leben seiner Nachbarn teilnehmen. Treffe ich sie auf der Straße, sind sie außerordentlich diskret und sehen zu, dass sie nicht in die Verlegenheit kommen, grüßen zu müssen. Hängt wahrscheinlich mit den Papierwänden zusammen. Die Leute haben wohl das Gefühl, sie hätten ihren Nachbarn eh schon alles gesagt.
"In diesem Haus wurde noch nie eingebrochen", erklärt die dicke Hausmeisterin am Tag des Einzugs,"das ist wegen der guten Nachbarschaft." Nach drei Wochen muss sie anrücken, weil ein Wasserrohrbruch meinen neuen Küchenschrank überschwemmt hat. Sie kommt mit ihrem Werkzeugkasten und erzählt von ihrem verstorbenen Mann, der ihr bei der Hochzeit keinen Schmuck, sondern eine Kettensäge geschenkt habe.
Hausmeisterin mit Kettensäge
Wahrscheinlich wissen potenzielle Einbrecher um Frau Arnold mit der Kettensäge, ihr Arsenal an Hämmern und Zangen. Aber noch wahrscheinlicher: Sie kennen die Papierwandigkeit dieses Hauses. Es gäbe einfach zu viele Zeugen.
Ich kann mich auf meiner Etage in allergrößter Sicherheit wiegen. Auch weil gegenüber die Barkeeperin mit ihren Kötern Bento und Sit wohnt. Bento ist groß, lärmt wenig, fällt nur wie ein Sack durch die Wohnung, so ungefähr: wumpf, umm, parrumm …
Das am Ende war … na? Vielleicht die Suppenkelle, die er von der Anrichte gefegt hat.
Sit ist erst seit drei Tagen im Haus und jung und ungezogen. Er hört alles und kläfft sich um den Verstand, wenn irgendwer in diesem Haus auch nur eine Vibration der Luftmassen verursacht. Ich gehe auf Zehenspitzen, wenn Sit gegen Abend heiser und am Rande des Nervenzusammenbruchs ist. Manchmal honoriert er meine Rücksichtnahme. Aber nicht immer. Neulich hat er durchgebellt bis weit nach Mitternacht. Als sich im Haus gar nichts mehr rührte, stellte Sit endlich die Arbeit ein.
Gegen Morgen kam die Barkeeperin und hat erst mal ihre Suppe unter heftigem Rühren heiß gemacht. Resolut hat sie einen Teller auf den nicht mit einer dämmenden Filzdecke belegten Tisch gestellt, sie hat im Besteckkästchen nach einem Löffel gesucht, ihn gefunden und … leider den Tisch verfehlt.
Der Hund war schneller:"Sit, aus!" pfiff sie ihn an. Er jaulte. Hat sie ihm einen übergebraten? Oder überkam ihn plötzlich ein brennender Schmerz: Wer bin ich eigentlich? Sit oder Aus oder keiner von beiden?
Endlich: ein bisschen Stille
Neulich hatte ich einen Termin mit einem Sprecher bei mir in der Wohnung. Es ging um die Overvoices für ein langes Interview. Ein lohnender Auftrag, aber Sit bellte, als der Mann das Haus betrat und war immer noch feste dabei, als wir vor dem Aufnahmegerät saßen. Ich klingelte bei der Barkeeperin, aber das nahm Sit nur zum Anlass, sich in ungeahnte Wutregister hineinzusteigern. Mehr passierte nicht, denn Frauchen war nicht zuhause. Der Sprecher zog die Stirn in Falten. Er kalkulierte wahrscheinlich im Stillen den Verdienstausfall, wenn er unverrichteter Dinge wieder abziehen müsste. Ich kalkulierte im Stillen, was es mich kostet, einen zweiten Anlauf mit einem zweiten Sprecher beim NDR anzuleiern. Derweil machten wir höfliche und leise Konversation. Ich bat ihn um ein wenig Geduld. Und siehe da: Sit erkannte den Ernst der Lage und hielt die Klappe.
Ich wohne noch nicht lange in diesem Haus, das in Wirklichkeit ein Zelt ist. In der letzten Wohnung hatte ich ein Klavier, einen Kleiderschrank und echte Wände. Hier habe ich nichts dergleichen. Abstieg ist bitter. Deshalb wurde er umbenannt. Er heißt jetzt Downgrading. Von Bussiness in Economy - ist ja schließlich auch ein Platz im Flugzeug. Was aber, wenn es demnächst noch eine Etage tiefer geht?
Erst unsere Vorstellungen machen uns das Leben sauer, hat mal ein kluger Mensch gesagt. Also gilt im Umkehrschluss: Unsere Vorstellungen, sie können uns das Leben auch versüßen.
Probieren wir es aus: Was ist toll an meinem neuen Haus? Hä? … Ja. In diesem Haus kann ich mich ganz nebenher und ohne Extrakosten einüben in Formen unauffälliger Lebensführung. Ich habe nämlich a) keine Lust, mit der Barkeeperin mein Privatleben zu teilen und b) hat Unauffälligkeit bestimmt auch Vorteile für den Fall, dass es mit der Überwachung schlimmer wird.
Es ist 23:22 - und die Nachbarin löffelt wieder Suppe. Ich hoffe es ist der Hauptgang.
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