Die Kraft des gesprochenen Wortes

Rezensiert von Jörn Florian Fuchs · 20.07.2009
Die Franzosen gehen mit dem Wort "Uraufführung" ein wenig inflationär um. Während in unseren Breiten damit nur ganz neue Werke gemeint sind, versteht man in Frankreich darunter auch verschollen geglaubte Stücke. So ein Fall ist Jacques Offenbachs Musik zum Theaterstück "La Haine" von Victorien Sardou.
"La Haine" wurde 1874 zunächst erfolgreich in Paris aufgeführt, wobei die Premiere mehrfach wegen einer Grippeepidemie verschoben werden musste. Nach rund zwei Dutzend Aufführungen gab es einen heftigen Krach und Sardou zog sein Libretto zurück. Und so versanken Text und Partitur rasch in den Archiven. Der Offenbach-Forscher (und Herausgeber der Offenbach-Werkausgabe bei Boosey & Hawkes) Jean-Christophe Keck förderte beides nun zu Tage und erstellte eine neue Spielfassung.

Victorien Sardou schrieb unter anderem das "Tosca"-Libretto sowie den Komödienklassiker "Madame Sans-Gêne".

"La Haine" (= der Hass) führt ins italienische Mittelalter und bietet eine ebenso gefühlvolle wie reißerische "Romeo und Julia"-Variante. In den wirren Glaubenskämpfen zwischen kaisertreuen Ghibellinen (Waiblingern) und papistischen Guelfen (Welfen) bekriegt sich ein Anti-Pärchen bis aufs Blut: Orso, ein Vertreter der Guelfen und Cordelia, Tochter des Ghibellinen-Anführers. Da geschieht ein Wunder: sie verlieben sich - und siechen wenig später doch aufgrund ihrer unversöhnlichen Verwandtschaft dahin, eingekerkert in der eigentlich zur Hochzeit erwählten Kirche.

Während Sardou seine Protagonisten in einer Mischung aus wütendem Wortgeschrei und melancholischem Sinnieren durch fünf lange Akte jagt, komponierte Offenbach eine recht bunte, dreiviertelstündige Bühnenmusik. Erstaunlich ist die stilistische Vielfalt: da herrscht zwar oft ein dräuender Ton, dann wieder scheint sich Offenbach mittels überdrehtem Orchesterapparat selbst auf die Schippe zu nehmen.

Auch ein Kirchenchor kommt vor und schickt düstere Kantilenen über die Unglückseligen. Und öfters durchbricht blitzschlagartig heftigstes Wagner-Blech die schattige Trauermusik. An die heute einschlägigen Stücke Offenbachs erinnert die Musik von "La Haine" nur bedingt, immerhin finden sich aber die ersten Takte der Ouvertüre fast genau so im Venedig-Akt von "Hoffmanns Erzählungen".

Der Lettische Rundfunkchor und das Orchestre de Montpellier Languedoc-Roussillon (unter Enrico Delamboye) waren zwar exzellent, doch die eigentlichen Stars hießen Fanny Ardant und Gérard Depardieu. Unterstützt von der famosen Dörte Lyssewski in einer kleineren Rolle und der wunderbaren Erzählerin Farida Khalifa, rezitierten, spielten, ja durchlebten sie das Untergangsgeschehen.

Während Ardant im edlen Haute-Couture-Zwirn auftrat, trug Depardieu ein Sweatshirt von der Stange. Was er jedoch mit minimalen Gesten und voluminöser Stimme alles ausdrücken kann, lässt sowohl den Kleidungsstil wie die Tatsache vergessen, dass es sich hier eigentlich um eine Lesung mit Musik handelt, es entsteht vielmehr großes Musiktheater, ganz ohne Bühnenmittel.

Wer sich nach dem mittelalterlichen Schlachtengemälde einigen neueren Tönen widmen wollte, für den gab es "Parole perdue", ein Drame acousmatique von Jean Vermeil und Daniel Teruggi.

Hier spielt der 2008 verstorbene Guillaume Depardieu die Hauptrolle. Es ist Depardieus Stimme, die elektroakustisch verzerrt, überlagert, gespiegelt wird und eine junge Dame peinigt. Offenbar wurde der Mann von ihr verlassen und rächt sich nun durch Anrufe, Voice E-mails und weitere Transmitter. Die Frau reagiert auf die Vorwürfe, Wortverdrehungen und philosophischen Reflektionen vor allem durch Tanz.

Regisseur Jean-Claude Fall hat mir der virtuosen (stumm bleibenden) Aktrice Emmanuelle Laborit ein intensives Kammerspiel inszeniert. Depardieu nahm den hochpoetischen Text von Jean Vermeil einige Zeit vor seinem Tod auf, der Argentinier Daniel Teruggi schuf dazu eine komplexe Klanglandschaft.

Entstanden ist ein würdiges Gegenstück zu Francis Poulencs Klassiker "Die menschliche Stimme". Übrigens war der Eintritt zu dieser Weltpremiere, wie manch anderes beim Festival von Montpellier, frei. Das nimmt nicht nur Motivationshürden beim Publikum, sondern ist nach Meinung des Intendanten René Koering auch angemessen - man löhne ja ohnehin schon hohe Steuern für Subventionen. Warum also doppelt zahlen? Frankreich, Du hast es besser!