Die Krabbelstube als Sozialmodell

Von Michael Laages · 06.12.2008
Wo die Moral endet, beginnt die Politik. Und "Albertz" muss scheitern - im neuen Stück von Tine Rahel Völcker über den Berliner Alt-Bürgermeister der 60er Jahre, Pfarrer Heinrich Albertz. Polit-Imitatoren kommen keine zum Einsatz. Völcker zeichnet ihr eigenes Bild von Parteiklüngel als Kindergarten, als Polit-Krabbelstube grenzdebiler Karriere-Deppen.
Aufstieg und Sturz eines Sonderlings. Gerade hat Heinrich Albertz, der neue Innensenator in der Stadtregierung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, die ersten weihnachtlichen Passierscheine ausgehandelt, die den West-Berlinern zwei Jahre nach dem Bau der Mauer erstmals wieder den Besuch von Verwandten im Ostteil der Stadt ermöglichen, als die Geschichte von "Albertz" beginnt - im neuen Stück der jungen Berliner Dramatikerin Tine Rahel Völcker.

Und nur dreieinhalb Jahre später, am 3. Juni 1967, ist diese Geschichte auch schon wieder zu Ende - tags zuvor hat der Berliner Polizist Karl Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Schah von Persien erschossen. Albertz, inzwischen selber "Regierender", saß derweil mit Reza Pahlewi und Farah Diba in der Oper; und er ließ sich danach vom amtierenden Polizeipräsidenten nach Strich und Faden belügen über den Einsatz der Polizei.

So rechtfertigte er den Mord an Ohnesorg - und gab dem Aufruhr der Studenten ein Fanal; während die eigenen Parteigenossen der SPD ihn nun ohne Mühe endlich fallen lassen und schadlos loswerden konnten. Schon die Passierscheine vier Weihnachten zuvor hatten sie ja nur zähneknirschend hingenommen.

Eine sehr deutsche Polit-Fabel, und typisch West-Berlin obendrein - sie zeigt einen Menschen, der nicht "passt" in den Parteibetrieb; schon gar nicht in Berlin, in dessen abgeschnittenem und an den Tropf der Regierung in Bonn gehängtem Westteil damals die Kleingärtner und Skatbrüder Politik machen, nicht nur, aber fatalerweise vor allem in der örtlichen Regierungspartei, der SPD.

Albertz war 1955, nach Ende der Dienstzeit als Sozialminister in Niedersachsen, mit einer Perspektive in diese perspektivlose Ex-Hauptstadt gekommen: Kontakte wieder herzustellen in der Sprachlosigkeit zwischen Ost und West, "mit Pankow reden", wie das damals hieß. Mit Egon Bahr ist er einer der Architekten der neuen Ost-Politik; er träumt wirklich (und nicht nur als Schaufensterredner) von der Wiedervereinigung, zunächst der Stadt.

Gefördert von Otto Suhr und lange Zeit geschützt von Willy Brandt, dem aufsteigenden Star der SPD, setzt der "Flüchtlingspastor" aus der "Bekennenden Kirche", die sich schon den Nazis widersetzt hatte, nun auch im (und gegen den) Berliner Sumpf auf Moral - und was Albertz dafür hält. Er muss mit ihr wohl scheitern.

Völckers Text setzt eine Menge historischer Kenntnisse voraus. Und er kommt aus ohne im engeren Sinne dokumentarisches Material. Die "authentischen" Figuren haben in ihrer Geschichte nicht so gesprochen wie jetzt im Theater: Albertz und Brandt vor allem; aber auch Kurt Mattick, Berlins SPD-Chef jener Jahre, Klaus Schütz, Brandts Senatsdirektor, und Kurt Neubauer, den Völcker leicht zu "Neumann" verfremdet und ihm noch ein paar Züge anderer Strippenzieher und Grabenkämpfer vom SPD-Stammtisch beimischt.

Aber sie alle hätten so sprechen können. Es kommen auch keine Polit-Imitatoren zum Einsatz - der Brandt-Darsteller darf nur ein winziges Mal wie Brandt sprechen, und der Bühnen-Schütz muss auch nicht den Einarmigen geben: Völcker will diese Bande als Muster selbstvergessener Hinterstubenpolitik zeichnen.

Uraufführungsregisseur Christian Hockenbrink vergröbert dieses Bild eher noch. Bei ihm ist der Parteiklüngel ein Kindergarten, eine Polit-Krabbelstube grenzdebiler Karriere-Deppen. Das ist der eine rote Faden, der sich durch die knapp skizzierten, in halbwegs alltäglicher und nur gelegentlich leicht überhöhter Sprache gehaltenen Szenen zieht.

Der andere ist wichtiger - hier fragt Völcker durchaus absichtsvoll naiv, wie viel Moral der Politiker, wie viel Politik die Moral unbeschadet verträgt.

Denn Albertz scheitert ja auch, historisch und im Stück, weil ihm für den Moral- und Freiheitsbegriff der revoltierenden Studenten jedes Empfinden fehlt. Es sind (natürlich) Frauen, die ihm die Augen öffnen; seine Moral, wie er sie durch die Nazi-Zeit hindurch rettete, erfüllte sich preußisch-männerbündlerisch in Ordnung und Recht.

Und es trifft ihn grundsätzlich, als ihn die Studentensprecherin der Kollaboration mit den Wiedergängern der Täter von früher bezichtigt. Genau das ist er aber - und nicht nur, als er mit dem Schah in der Oper sitzt, während draußen Ohnesorg erschossen wird. Er hat sich zuvor schon verbogen, hat eigene Ideen verraten - er hat die Macht über die Moral gestellt. Es ging nicht anders. Ging es nicht anders?

In der Moral-Debatte stößt Hockenbrinks Inszenierung in Wilhelmshaven an Grenzen - naturgemäß, wenn auch das Ensemble vor Ort, mit Thomas Hary als Albertz vorneweg, vorzüglich funktioniert, sogar auf Julia Plickats Einheitsbühne, die für die Reisen über Land ja nur einen Raum haben darf.

Hier ist das eine Kneipe, die Büro- und Privat-Funktionen erfüllen muss. Die Inszenierung weiß auch, dass die Geschichte nach Albertz’ Scheitern weiter gehen müsste - Studentin und Sekretärin wandeln sich im letzten Bild per Perücke zu Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Das ist die einzige Abstraktion.

Erstaunlicherweise übrigens unterschlägt Völcker die Wiederkehr des Pastors Albertz acht Jahre nach dem politischen Sturz - als er sich 1975 als Austausch-Geisel einsetzt im Kampf um das Leben des von Terroristen entführten Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz. Im Stück sagt Albertz nach Ohnesorgs Tod, dass er jetzt etwas gut zu machen habe - er tut das für Lorenz; und später als Mitstreiter der Friedensbewegung.

Um daran zu erinnern, und nicht nur an Berliner Politränke und das geplante Schokoladenpudding-Attentat auf Hubert Humphrey, bedürfte "Albertz" noch ein paar weiterer Versuche. Aber wahrscheinlich ergeht es Tine Rahel Völckers Text ähnlich wie unlängst "Demokratie", dem Brandt-und-Wehner-Stück von Brian Friel - denn reale Politik auf dem Theater tat und tut sich schwer; wie beispielhaft sie auch von unseren verpassten Chancen erzählt.