Die Komplexität unserer Zeiterfahrung

22.09.2010
Die Zeit ist ein merkwürdiges Ding, seltsam flüchtig und kaum zu fassen, dann wieder lagert sie sich im Körper ab, verdichtet sich in Krankheiten und wird schmerzhaft konkret. "Die Zeit altert schnell" überschreibt der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi, Jahrgang 1943, seine neuen Erzählungen und spielt damit auf ein präsokratisches Fragment an, das dem Band voran steht: "Auf der Spur des Schattens altert die Zeit schnell".
Das doppeldeutige Motto nimmt die thematische Bewegung der Geschichten schon vorweg: Es sind Erfahrungen von Ambivalenz. Eine produktive Verunsicherung ergreift die Figuren. Erinnerungen oder Déjà-vus entpuppen sich als Zeitlöcher, die eine gesamte Existenz auflösen können. Da gibt es zum Beispiel einen Professor, der auf Kreta an einem Kongress teilnehmen soll und stattdessen in einem Kloster verschwindet. Oder stellt er sich das Ganze nur vor?

In einer anderen Erzählung taucht ein Schriftsteller auf, geplagt von teuflischen Rückenschmerzen, der seine alte Tante im Krankenhaus besucht und seit drei Jahren auf die Inspiration zu einem großen Roman wartet. Die Tante hat ihn großgezogen und erzählt ihm nun, am Ende ihres Lebens, von seiner Kindheit.

Auf einmal steigen Bilder in ihm auf. Nach einer durchwachten Nacht am Bett der Tante beobachtet der Mann ein krebskrankes Mädchen, das im Rollstuhl sitzt und von einer Schwester durch den Krankenhausgarten geschoben wird. Ausgerechnet dieses Kind spricht über das "Schönste auf der ganzen Welt" – es ist im Besitz eines Wissens, das der Schriftsteller auch nach 40 Jahren harter Arbeit nicht kennt.

In einer dritten Geschichte wird ein ungarischer General, der beim Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte 1956 Widerstand geleistet hatte und seines Amtes enthoben worden war, nach dem Ende des Kalten Krieges rehabilitiert und mit einer üppigen Ehrenpension ausgestattet. Er bringt in Erfahrung, was aus dem russischen General auf der Gegenseite geworden ist, nimmt Kontakt zu ihm auf und besucht ihn in Moskau. Dort habe er die schönsten Tage seines Lebens verbracht, erinnert er sich später in New York.

Die insgesamt neun Erzählungen sind an vielen verschiedenen Schauplätzen angesiedelt: in Berlin, Lissabon, Viareggio, New York City, der Schweiz, Tel Aviv, einem kroatischen Küstenort und auf Kreta. Fast nebenbei teilt sich eine Trauer über das veränderte Italien mit. "Weißt du noch, wie schön Italien war?", fragt die sterbende Tante. Und an einer anderen Stelle sagt sie, sie wolle das Volk nicht erziehen, es sei zu Geld gekommen, werde längst von Big Brother erzogen und habe diesen nun auch noch gewählt. Der Name des italienischen Ministerpräsidenten wird nie erwähnt, aber einmal ist davon die Rede, dass er die Nationalhymne – und damit den Respekt für die Idee der Nation - für überflüssig halte.

Tabucchi zielt meistens nicht auf eine Pointe, sondern erzeugt vor allem eine Atmosphäre. Der wissenschaftstheoretisch sehr beschlagene Autor, der mit seinem Roman "Erklärt Pereira" (1994) weltberühmt wurde, macht uns auf die Komplexität unserer Zeiterfahrung aufmerksam und variiert eine Erkenntnis der modernen Physik: Die Zeit als solche gibt es nämlich gar nicht. Sie ist lediglich eine Koordinate in einem vierdimensionalen Kontinuum, eine Weltlinie, die wir für unsere Orientierung und unser Denken brauchen. Nicht nur für seine Protagonisten verschiebt sich etwas, auch der Leser muss diesen Prozess nachvollziehen. Es bleibt ihm überlassen, was er damit anfängt. Vielleicht ist die Zeit am Ende etwas weniger schnell gealtert.

Besprochen von Maike Albath

Antonio Tabucchi: Die Zeit altert schnell
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Carl Hanser Verlag, München 2010
170 Seiten, 16,90 Euro