Die Kirche im Dorf

Von Sabine Korsukéwitz |
Niederjesar ist ein idyllisches Dorf im Oderbruch zwischen Feldern und Obstbaumalleen. Mittendrin die Dorfkirche, ein neoromanischer, einschiffiger Feldsteinbau aus dem Jahr 1859, nach den Plänen von August Friedrich Stühler, einem Schüler Schinkels. 1945 hat die Wehrmacht den Turm gesprengt, auch das Kirchenschiff wurde weitgehend zerstört.
Ein Wiederaufbau war in der DDR nicht opportun; erst nach der Wende entstand die Kirche im Dorf neu, mit Landes- und Kirchenmitteln, aber wesentlich auch mit privaten Spenden und in freiwilliger Arbeit. Ein Anzeichen erwachter Religiosität? Nicht unbedingt. Für die einen war es heimatkundliches Interesse, für andere das Bedürfnis, einen Ort zur Andacht zu haben. Doch die Themen Religion und Spiritualität sind Dauerbrenner in Deutschland. Bücher mit religiösem Inhalt gelangen regelmäßig an die Spitzen der Bestsellerlisten, konfessionelle Kindergärten und Schulen sind auch für nichtkonfessionelle Eltern attraktiv, der Mitgliederschwund der christlichen Kirchen ist zumindest gebremst.

Hartwig Kohlmeier: "Zu jedem Dorf jehört ooch ne Kirche. Und die Kirche sieht man doch als Erstes, wenn man wohin fährt, den Kirchturm wenigstens."

Niederjesar im Oderbruch. Eine weite, flache Landschaft hüllt den Ort ein wie ein weicher Mantel. Dottergelbe Rapsfelder werden durchschnitten von Obstbaumalleen. Die Dorfkirchen sind mit den hier verfügbaren Materialien gebaut: Grob behauene Feldsteine von anthrazit bis dunkelrot, von Glimmer durchsetzt; Mauerkronen, Fenster- und Türeinfassungen aus gebrannten Ziegeln. In Niederjesar wurde mit dem Kirchenbau im 13. Jahrhundert begonnen. Jede Epoche fügte Veränderungen nach ihrem Geschmack hinzu.

Martin Müller: "Auf jeden Fall ist die Kirche in der letzten Umbauphase durch einen relativ bekannten Baumeister gestaltet worden, das war nämlich Friedrich August Stühler, ein Schinkel-Schüler, und das war im 19. Jahrhundert. Die Kirche hatte einen sehr hohen Turm und das war auch Ausschlag gebend für den Beginn der Zerstörung. Im Zweiten Weltkrieg hat man die Türme niedergelegt mit der Begründung, der Feind könne von weit her die Türme einsehen und könne dann die Dörfer beschießen. Das war ein vorgeschobener Grund, wie sich später herausstellte, denn auch als die Türme nicht mehr da waren konnten die Dörfer beschossen werden."

Der evangelische Pfarrer Martin Müller versorgt den Pfarrsprengel Mallnow, der aus fünf Dörfern besteht. Nach dem Krieg waren alle fünf Dorfkirchen nur noch Ruinen. An einen Wiederaufbau war hier, im sozialistischen Osten, nicht zu denken.

Müller: "Wir haben uns in der DDR-Zeit mehr um die Erhaltung und Sicherung bemüht, wir haben also die Mauerkronen befestigt und von Unrat befreit, da wuchsen nämlich schon ganze Stachelbeersträucher drauf."

Einige Dorfbewohner haben besonders schöne Stücke von ihrer Kirche zu Hause aufbewahrt, Säulchen und Ziegel-Rosetten – für bessere Zeiten ... Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat war ja prekär in der DDR:

Müller: "Man hat mit Kirche immer da gut zusammen gearbeitet, wo der Staat etwas brauchte, was die Kirche vorweisen konnte. Im diakonischen Bereich etwa oder auch an anderen Stellen. Im Bezug auf die Kirchengebäude war es sehr häufig so, dass es nicht gewollt war, dass die Kirchengebäude wieder aufgebaut werden. Man hat das zum einen sehr restriktiv durch Verbotsmaßnahmen, durch nicht erteilen von Baugenehmigungen unterbunden. Oder eben auch gegen Ende der DDR-Zeit, dass man einfach notwendige Baukapazitäten, die ja alle der staatlichen Planung unterlagen, nicht zugeteilt hat."

Bedeutende städtische Kirchen und Dome wurden auch zu DDR-Zeiten in Stand gehalten – mit Westgeld. Die kleinen Kirchen auf dem Land aber waren vom endgültigen Verfall bedroht. Die Niederjesaer hielt das nicht von ihren Gewohnheiten ab; eine ordentliche Trauung hatte in Weiß und kirchlich stattzufinden. Und sogar erklärte Atheisten wollten einmal in der Kirche aufgebahrt und auf dem Kirchhof begraben werden. So wurden also die Mauerkronen mit Beton notdürftig gesichert und in einem der besser erhaltenen Teile eine Notkirche eingerichtet.

Im Westen behielten die christlichen Kirchen ihren staatstragenden Charakter, im Norden etwas weniger, im Süden mehr:
Petra Steinhorst, Jahrgang 1954, erinnert sich an ihre Kindheit in fränkisch-katholischen Treuchtlingen, ebenfalls einer ländlichen Gemeinde:

Petra Steinhorst: "Die Kirche hat bei mir ganz schön Einfluss genommen. Das ging schon im Kindergarten los, dass das zwar ein städtischer Kindergarten war, wir aber von Schwestern erzogen wurden, richtig mit Schwesternhäubchen und Tracht und religiösem Hintergrund. Und das zog sich dann weiter in der Schule. Wir hatten ganz oft Religionsunterricht, also auch schon in der Volksschule, es ging weiter im Gymnasium und dann vor allem die Konfirmandenzeit, also ich war getauft, ich musste zur Konfirmation gehen, man musste da schon mitmachen. Das fand ich sehr zwanghaft. Auch mit Kleiderkodex, was man anzog, wenn man die Kirche betrat, das war damals – konnte man nicht einfach in Jeans und T-Shirt in das Gotteshaus gehen!"

Bis in die Sechziger Jahre hinein war das Aufbegehren gegen die Macht der Institution vereinzelt und geschah aus konkreten privaten Gründen:

Steinhorst: "Meine Mutter hat 49 meinen Vater geheiratet, er war Katholik, sie war Protestantin und da hat ihn die Katholische Kirche exkommuniziert, also er ist da rausgeflogen, weil er eine evangelische Frau geheiratet hat. Also mein Vater war schon kirchlich, hat das aber dann alles sein lassen, der war fertig mit der Kirche."

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Kirchlichkeit und Religiosität. Und die Religiosität der Deutschen war die längste Zeit der Geschichte über gar nicht so homogen, wie das die Kirchenväter gerne hätten, behauptet Rolf Schieder, Theologieprofessor an der Humboldt Universität:

Rolf Schieder: "Wenn Sie die Christen befragen nach ihren dogmatischen Überzeugungen, dann stimmt das mit der Kirchenlehre meist nicht überein. Das war in der gesamten Kirchengeschichte so. Sie müssen sich ja mal vorstellen, dass wir eigentlich erst seit 1850 so etwas wie eine Flächen deckende Literalität der Bevölkerung haben. Das heißt: überhaupt die Fähigkeit der Mehrheit der Bevölkerung, die Bibel zu lesen, sich mit dogmatischen Sachverhalten auseinander zu setzen ist ausgesprochen jung. Ansonsten war es immer nur eine hauchdünne Elite, die sich mit religiösen Fragen so auseinander gesetzt hat, dass sie danach gefragt hat, ob das denn mit der Tradition übereinstimmt. Ansonsten gab es eine große Volksfrömmigkeit, die ein großer Mix aus Magie, aus Naturfrömmigkeit, aus ganz unterschiedlichen Quellen war. Insofern bezweifle ich auch, dass die Menschen früher oder im Mittelalter frömmer gewesen seien als heute. Ich gehe eher davon aus, dass die Menschen heute über das Christentum weitaus mehr wissen, als sie das noch vor 3 – 400 Jahren getan haben."

Den ersten großen Schlag versetzte der Kirche die Aufklärung, in dem sie Gott und Ritus voneinander trennte ...

"Das endliche Schicksal des Christentums ist davon abhängig, ob wir dessen noch bedürfen."

... sagte Gotthold Ephraim Lessing in seinem "Nathan" voraus.
Vorerst war das Bedürfnis nach einer ethischen Instanz ja noch da. Doch das musste nicht mehr unbedingt die christliche Kirche sein. Das 19.Jahrhundert brachte uns Deutschen die "Weltanschauung" als Gott-Ersatz. Professor Rolf Schieder:

"Man muss sagen, dass im 19. Jahrhundert zum einen das Entstehen des Sozialismus natürlich einen großen Einfluss hatte, aber auch ein naturwissenschaftliches Denken, dass auf einem sehr populären Niveau geblieben ist; auch darwinistische Strömungen haben natürlich dem Christentum zugesetzt. Also wenn Sie mal bedenken, dass in der Weimarer Republik die SPD sich noch als Weltanschauungspartei verstanden hat und insofern sich im Gegensatz zum Katholischen Zentrum verstanden hat, dann waren die weltanschaulichen Gegensätze zu Beginn des 20.Jahrhunderts weitaus größer in Deutschland – in Gesamtdeutschland (! ) – als sie es heute sind."

Sonntag, drei Uhr Nachmittag: Die – meist älteren - Mitglieder des Kirchenbauvereins Niederjesar sitzen zusammen bei Butterkuchen und Rhabarbertorte. Kaffeeduft verbreitet sich in der kleinen Kirche und vermischt sich mit dem Geruch von frisch verlegten Fliesen und Fensterkitt.
Der hintere Teil des restaurierten Gebäudes lässt sich durch eine Schiebewand aus dunkelbraunem Kunststoff vom Kirchenschiff abteilen, so dass man hier auch Gemeinderatssitzungen abhalten oder Geburtstage feiern kann.
Pfarrer Martin Müller freut sich, dass dieses Symbol des christlichen Glaubens gerettet werden konnte, wenn auch unter Zugeständnissen:

Henschke: "Es gab in den ersten Jahren auch Widersprüche, dass sie gesagt haben: Nein, Kirche – gehen wir nicht, das Bild hat sich aber mittlerweile auch gewandelt. Selbst die Leute, die nicht kirchlich sind, akzeptieren das Gebäude, die Kirche und das zeigt uns auch, dass bei der Rentnerweihnachtsveranstaltung immer mehr auch hinzu stoßen, die erst im Zwiespalt standen zum kirchlichen Glauben und das ist eine Bestätigung. Es ist auch so, dass die damalige Kommunalvertretung sich auch engagiert hat, für den Wiederaufbau, obwohl nicht alle den kirchlichen Glauben hatten."

Im Arbeiterstaat hielt man sich streng an das Marxsche Diktum vom Opium fürs Volk, das es ja jetzt nicht mehr nötig hatte und versuchte die Menschen aus den Kirchen zu locken ...

Müller: "Sehr sogar. Gerade in den ersten Jahren der DDR gab’s ja sehr harte Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche, da wurden also insbesondere die Jugendlichen massiv beeinflusst, sich vom kirchlichen Leben fern zu halten, nicht zur jungen Gemeinde zu gehen, insbesondere nicht an der Konfirmation teilzunehmen, sondern da wurde die Jugendweihe stark propagiert. Die FDJ hat da sehr hart die Auseinandersetzungen geführt."

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat entspannte sich gegen Ende der DDR-Zeit, doch die Fakten waren ja geschaffen:

Schieder: "Bis in die 50er hinein hatten wir auch im Osten noch Kirchenmitgliedszahlen von 70 bis 80 Prozent. Die SED hat dann massive Kirchenaustrittsprogramme aufgelegt und damit war sie erfolgreich und wir haben jetzt im Osten schon Konfessionslose in der zweiten, dritten Generation. Wenn man noch die Zeit des Faschismus hinzu zählt, dann haben wir seit den dreißiger Jahren hier im Osten keine sich normal entwickelnde Kirchlichkeit mehr gehabt. Die Folge davon war, dass beispielsweise nach dem Mauerfall ein junges Mädchen aus dem Osten interviewt wurde und gefragt wurde ob sie denn religiös sei, und sagte sie: Nö, ich bin ganz normal."

Umso überraschender erscheint es dann, dass nach der Wende in den neuen Bundesländern Kirchenbau-Förder-Vereine in großer Zahl entstanden. In der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg gibt es über 200 Kirchenbauvereine, in Sachsen 150, in Mecklenburg-Vorpommern 35. In Thüringen gibt es dank der Initiative von 67 solchen Vereinen praktisch keine baufällige Kirche mehr.

Das hat aber nur teilweise mit Religiosität zu tun. Viele der restaurierten Kirchengebäude sind weltlichen Zwecken zugeführt worden: Sie werden als Museen, Seminarräume und Gemeindehäuser genutzt.
In Niederjesar wurde ein Vertrag zwischen der Kirche und der Gemeinde geschlossen, der die jeweiligen Nutzungsrechte und die Pflichten genau festhält.
Alle haben mit angepackt, gläubige Christen und überzeugte Sozis, vom Maurerlehrling bis zum Kirchenältesten Hartwig Kohlmeier ...

Kohlmeier: "Tonnenweise Schutt haben wir gefahren, nich’ bloß ick! Die andern och – tonnenweise! Von drinnen und von draußen, da lag der hoch genug."

Henschke: "Der Kircheninnenraum war im Wesentlichen vom Schutt noch nicht befreit gewesen und es lagen schon mitunter bis zu einem Meter Schutt drin, wo auch schon Bäume drin wuchsen, weil ja kein Dach drauf war und das habe ich 1990 mit der Karre, sag ich mal, raus befördert auf’m Hänger und dann haben wir’s weg transportiert, das dauerte bestimmt vier, fünf Wochen, bis wir überhaupt erstmal wieder Fußboden gesehen haben, richtig schön Mauersteine verlegter Fußboden."

Jörg Henschke, Landwirt und Bürgermeister, Mitte Dreißig. – Und die Rentnerinnen Margot Kohlmeier und Gerda Draheim schwärmen vom Gemeinschaftsgefühl:

Kohlmeier: "Wir haben in dieser Kirche nicht nur gearbeitet mit Schippe und Spaten, wir haben auch 'ne Tasse Kaffee getrunken, wir haben auch fürs leibliche Wohl gesorgt, also das lief wirklich immer sehr harmonisch und sehr schön und alle die hier mit dran teil genommen haben, die waren so begeistert, dass man doch hier die Kirche wieder zum Stehen gekriegt hat ..."

Draheim. "Wo’s ging und wo man mithelfen konnte, hat man’s auch gemacht!"

Pröhl: "Ich hab ein bisschen um Mitstreiter geworben, und natürlich hat man dann auch den allgemeinen Arbeitseinsatz mit gemacht."

Sagt Gunter Pröhl, ebenfalls Landwirt, wie fast alle hier, und über 80. Seit den 60er Jahren dokumentiert er Verfall und Wiedererstehen der alten Dorfkirche, wenn auch sein Interesse nicht religiöser Natur ist:

Pröhl: "Es ist heimatkundlich. Es ist eine der ältesten Baulichkeiten hier im Ort, und das ist für meine Begriffe schon gut, dass es erhalten wird. Die andere Seite ist, dass es auch unser größter Raum ist, wo alle Menschen im Ort hier drin Platz finden – ja, alle."

Die Gemeinschaft ist ebenso wichtig wie die Religion - ein urchristliches Motiv. Evangelisch sind die verbliebenen Kirchenmitglieder aus Tradition:

Kohlmeier: "Wir sind es so aus dem Elternhaus gewohnt, wir sind getauft, konfirmiert, wir sind kirchlich getraut worden, wir haben einen Sohn, der geht ebenso in etwa den Weg und wir sind damit auch zufrieden."

Nicht alle gehen zum Gottesdienst, nicht mal die Kirchenmitglieder, aber eine Kirche im Dorf, das soll sein. Warum?

Kohlmeier: "Besser is’ schon wenn eene da is."

Henschke: "Kirche ist in jedem Ort ein Wahrzeichen einer Gemeinde."

Draheim: "Irgendwie fühle ich mich geborgen."

40 Jahre Sozialismus haben die religiöse Landschaft im Osten ausgedünnt. In den neuen Bundesländern gehören heute nur noch 27 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Im Westen sind es 74 Prozent. Doch das Alles ist mehr eine Frage der lieben Gewohnheit, sagt der Religionswissenschaftler Rolf Schieder:

"Die Religion, die man von seinen Vätern ererbt hat, an der hält man fest. Der Westen ist traditionell christlich, und daran will auch keiner etwas ändern und der Osten ist traditionell unchristlich und will auch daran nichts ändern. Also im Grunde kann man sagen: In Deutschland ist Religion weniger eine Entscheidungsfrage als eine Frage des Erbes. Deswegen gibt es auch bei uns im Land keine große religiöse Dynamik. Nicht wahr, auch das ist wieder interessant: Nach der Wende kamen viele amerikanische Freikirchen und glaubten dann in Leipzig Mega-churches bauen zu können und dieses Vakuum zu füllen, es war aber gar kein Vakuum da."

Ende der 1960er Jahre wurden die Autoritäten vom Sockel gestürzt: Massenmedien, Regierung, Beamtenschaft, Polizei - auch Gott?

Schieder: "Das war auch die Zeit der größten Kirchenaustritte, die wir in den letzten 50 Jahren zu verzeichnen haben. Im Grunde hat die 68er Zeit eine enorme Institutionenkritik erzeugt und nach dem in Deutschland ja die Kirchen sich sehr eng an den Staat angelehnt haben und auch die Deutschen ganz zufrieden damit waren, dass die Religion von oben organisiert wurde, haben die Kirchen genauso wie viele andere Institutionen unter dieser Phase sehr gelitten und müssen jetzt eben Anpassungsprozesse vornehmen. Wenn man sich Kirchenaustrittszahlen anschaut und Austrittzahlen aus Gewerkschaften und Parteien, dann muss man eben feststellen, dass die Kirchen kein Ausnahmefall sind."

Nein, Gott wurde nicht gestürzt. Das Bedürfnis nach Spiritualität war immer vorhanden, nur die Form wurde in Frage gestellt.
Petra Steinhorst aus der fränkischen Kleinstadt Treuchtlingen:

Steinhorst: "Ich weiß, dass wir früher – in den siebziger Jahren - sagten: 'ich würde auch in keinen Verein gehen, also gehe ich auch nicht in die Kirche.' Die Kirche war damals auch schon so einem Verein gleich gesetzt. Hatte für mich auch so den gleichen Charakter, also man muss Geld bezahlen, man muss hingehen, man muss bestimmte Regeln einhalten und das wollten wir nicht mehr haben. Das wollte man in den siebziger Jahren nicht mehr haben, man hatte das satt."

In dem Maße, in dem man nicht mehr an seinen "Traditionsverein" gebunden war, eröffneten sich völlig neue Möglichkeiten. Die Popstars machten es vor ...

Schieder: "Was zum Beispiel ganz stark war, war das Bedürfnis Fremdes kennenzulernen. Also alles Esoterische, auch östliche Religionen wurde ausprobiert, Es war eine große Lust auszutesten, was es an Erlebnismöglichkeiten gibt."

Doch das betraf nur die Ballungszentren. Orange-gewandete Sanyassins tanzten in den Straßen von Berlin, München und Hamburg – in Niederjesar oder Treuchtlingen hätten sie etwas deplaziert gewirkt. Was Stadt- und Landbevölkerung gleichermaßen anzieht, das sind möglichst starke Erlebnisse.

Schieder: "Also Vergemeinschaftung ist nicht mehr wie früher im Sportverein etwas auf Dauer, sondern es ist etwas Momentanes. Wo auch ein besonderer Kick sich ereignen muss. Also die große Masse erzeugt natürlich Emotionen, die man mit sich selbst nicht erzeugen kann, deswegen sind also Kirchentage, Weltjugendtage, päpstliche Auftritte genauso wie Fußball-Weltmeisterschaften etwas, was eine große Anziehungskraft hat und ich denke, diese Idee, intensive Erfahrungen machen zu wollen, sich gleichzeitig aber nicht binden zu wollen, sondern auf Halbdistanz bleiben zu können, dieser Trend ist in diesen Jahren entstanden und hat sich eigentlich auch gehalten."

Mit dieser Halbdistanz lebt man für sich allein ganz gut, sagt auch Petra Steinhorst …

"Nach der Konfirmation hat mich die Kirche Jahrzehnte nicht mehr gesehen, bis ich ein Kind bekam, dann musste ich eine Entscheidung treffen: Soll das Kind getauft werden? Soll es in den Religionsunterricht oder soll ich es in Lebenskunde oder ganz raus nehmen. Und da musste ich Stellung beziehen und da bin ich bei der Kirche geblieben.
Also ich habe meine Tochter taufen lassen, sie geht in den Religionsunterricht. Ich erkläre ihr auch viel, was sie wissen will aber ansonsten lasse ich ihr da auch Freiraum und versuche ihr nicht so einen Zwang an zu tun. Sie soll das später, wenn sie älter ist, auch noch selber entscheiden können, ob sie bleibt oder ob sie gehen will."

80 Prozent aller Kindergärten in Deutschland werden von den Kirchen betrieben; Plätze in konfessionellen Schulen sind begehrt. Die Eltern erhoffen sich von den christlichen Kirchen moralische Orientierung, die sie im Rest der Gesellschaft vermissen, oft auch selbst nicht geben können. Gott wird noch gebraucht: In der Not und als Rückversicherung.

Steinhorst: "Ich kann mich erinnern an diese Schwestern in dem Kindergarten: Die haben für mich eine Ruhe und die haben auch ein Glück ausgestrahlt und die hatten einen Weg gefunden, mit der Kirche ihr Leben geradlinig und nach bestimmten Regeln zu leben. Und das sollte man sich in unserem Leben auch wieder vornehmen. Also die Grundregeln: Du sollst nicht töten, du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen, diese ethischen Sachen auf jeden Fall einhalten und danach leben, das finde ich wichtig."

Max aus Leipzig ist zwölf Jahre alt, strubbelig blond, mit Zahnspange und Basecap. Sein Vater kommt aus dem katholischen Süden, seine Mutter aus dem sozialistischen Sachsen-Anhalt.

Max: "Menschen glauben ja an einen Gott, damit sie sich vorstellen können, was nach dem Tod kommt, weil vor dem Nichts, das kann sich der Mensch nicht vorstellen und davor hat er Angst. Und wenn man sich vorstellen kann: Nach dem Tod komm ich in den Himmel oder in die Hölle oder je nachdem was für eine Weltanschauung man hat, dann gibt das zumindest ein Gefühl der Sicherheit, dass die Existenz nicht völlig aufhört."

Was er glauben soll, das weiß er noch nicht so recht ...

Max: "Okay, ich denk nicht, dass nach dem Tod wirklich alles vorbei ist oder das Bewusstsein völlig ausgelöscht wird, weil der Mensch besteht ja zum Teil aus Energie und Energie kann nur umgewandelt und nicht einfach aufhören zu existieren. Und deswegen muss theoretisch was mit der Seele geschehen."

Das mit der Energie, das haben wir dem 18. Jahrhundert zu verdanken ...

Schieder: "Die Idee, dass Gott eine Energie ist, eine Kraft, die ist relativ jung, weil erst mit der Entdeckung des Magnetismus und der Elektrizität diese Vorstellung eines Kraftstromes im allgemeinen Bewusstsein vorhanden war. In den alten patriarchalischen Gesellschaften wurde eben Gott mit einem Vater identifiziert. Aber die Tatsache, dass die Menschen heute an Gott nicht mehr als an einen Vater glauben, heißt doch nicht, dass ihr Glaube an Gott irgendwie geschwunden sei. Die Menschen versuchen immer ihren Glauben an Gott in die Bilder zu fassen, die besonders plausibel sind zu einer bestimmten Zeit, und heutzutage ist eben die Vorstellung eines Gottes als Vater, als väterlicher Aufseher, als Hirte nicht mehr plausibel – das bedeutet aber nicht, dass damit die Christlichkeit des Gottesbildes verloren gegangen wäre."

Gibt es in den Dörfern eine unaufgeregte traditionelle Religiosität, so finden sich die exotischeren Varianten eher in den Städten. Hier ist die Entfremdung krasser, sind die Gegensätze zwischen Desinteressierten und Suchenden schärfer: Auf einem belebten Platz kommt mir ein junger Mann entgegen: Kurz geschorenes Haar, wache blaugraue Augen – er lächelt und drückt mir ein kleines goldenes Heft in die Hand. "Echtes Gold" steht drauf – es enthält Bibelsprüche.
Warum machen Sie das, frage ich – er missversteht mich und fängt an zu predigen. Nein, sage ich, warum gerade Sie?

Ebel: "Weil ich ungefähr mit fünf Jahren diese Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott erleben durfte, ich durfte mich zu meinem Herrn Jesus, zu meinem Herrn und Retter bekehren und durfte ihm meine Sünden bringen und er hat sie mir vergeben und nun möchte ich, dass das auch andere Menschen erfahren dürfen, weil es einfach eine sehr schöne Sache ist, wenn die Gemeinschaft mit Gott wieder hergestellt ist."

Friedhelm Ebel gehört, wie seine Eltern, einer Freikirche an. Er bestreitet die Evolution, hält Homosexualität für eine Sünde und den Papst für einen Götzen. Nach dem Abitur wird er als Missionar nach Papua-Neuguinea gehen. Eine Rückkehr zum wahren Christentum wäre gut für unsere Gesellschaft, findet er:

Ebel: "Ich denke, es würde sehr viel im Umgang mit den Leuten verändern, einerseits, dass die Menschen nicht mehr lieblos zueinander sind, sondern dass sie sich bemühen wirklich liebenswürdig zu anderen Menschen zu sein, dass sie nicht so egoistisch sind, dass sie auf den Anderen acht haben und Rücksicht nehmen und das würde sicherlich auch davor bewahren, dass nicht solche Skandale in der Gesellschaft passieren."

Mit seinem Fundamental-Christentum steht er wohl eher am äußeren Rande des Spektrums. Es gibt in Deutschland laut REMID derzeit circa 130 religiöse Gruppen von der Römisch-katholischen Kirche mit knapp 26 Millionen - bis zur "Germanischen Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung" mit 140 Mitgliedern. Wer auch immer eine Renaissance der Religion entfachen will, so Rolf Schieder, der muss sich an den gewandelten Bedürfnissen der Menschen orientieren, wie das die – sehr erfolgreichen - Mega-churches in den USA tun, die jeden Sonntag Tausende von Besuchern anziehen:

Schieder: "Vergleiche ich aber das, was diese Kirchen in den USA in ihrem Gottesdienst machen, mit dem was wir machen, dann fällt mir auf, dass dort offensichtlich diese Kirchen ihre Pflicht, ein attraktives Angebot zu machen, ganz anders erfüllen, als in Deutschland. In Deutschland erwartet man, dass der Gottesdienstbesucher leidensfähig ist."

Auf die Frage "kann ein Staat ohne moralisch-ethische Basis bestehen?" antwortet der Professor philosophisch:

Schieder: "Es gibt ja übrigens von Kant die Aussage, dass es durchaus möglich ist, dass auch ein Haufen von Teufeln eine Gesellschaft bilden kann. Indem sie – diese Teufel – sich eben an bestimmte Regeln oder wenigstens an den kategorischen Imperativ in der Weise halten, dass sie von anderen nichts erwarten, was sie nicht selbst zu leisten im Stande wären."

Christliche Werte als Basis der Gesellschaft sind in Deutschland wieder attraktiv, vor allem in der Konfrontation mit dem Islam. Doch die kirchliche Form ist überholt. Das tritt besonders in den ohnehin zersplitterten städtischen Gesellschaften zutage.
In den in Auflösung begriffenen dörflichen Gemeinschaften dagegen sind die Kirchen ein letzter Rettungsanker, Symbol des Zusammenhalts.

Ob Christen, Atheisten oder Unentschlossene - in Niederjesar wurde erstmal kräftig gefeiert, als die Kirche endlich wieder ein Dach hatte:

Draheim: "Da haben wir uns schon was einfallen lassen. Das ist schon ein sehr netter Nachmittag gewesen! Mit Kaffee und Kuchen, mit Auswertungen und Belobigungen, na ja, wie halt so ein festlichen Rahmen dann sich so ausübt."

Kohlmeier: "Ein Traum ist wirklich für uns in Erfüllung gegangen und das ist der Traum, dass unsere Kirche wieder entstanden ist und das ist eine ganz große Freude! Früher haben meine Eltern immer gesagt: Eine Kirche muss im Dorf sein, so ist es eben."

Bunte Fenster sollen noch kommen und am Ende ein Turm, damit man die Kirche im Dorf auch wieder von Weitem sieht. Im Augenblick steht die Glocke neben der Kirche in einem Holzgestell. Sponsoren gesucht!
Um Fünf ist die Kaffeetafel beendet – die Frauen räumen den Tisch ab und packen für die Reporterin aus Berlin noch ordentlich Kuchen ein, damit die auf dem Heimweg nicht darbt. Zum Schluss gibt’s einen Rundblick vom Kirchendach, einem Flachdach, das sich auf dem mittelalterlichen Bau seltsam ausnimmt, aber für mehr hat das Geld nicht gereicht.
Still und weit und grün liegt das Oderbruch vor uns.
Hier auf dem Land ist der Himmel der Erde nah.