Die illegale Bildungsreise

Von Karl-Heinz Lotz · 19.03.2013
1988 macht sich der DDR-Bürger Klaus Müller auf den Weg von Rostock nach Italien. Am Tag der Flucht schreibt er an Erich Honecker, dass er eine "Bildungsreise" machen und in der DDR bleiben möchte. Müller will nur einmal in seinem Leben auf den Spuren seines Romantiker-Vorbildes Johann Gottfried Seume nach Syrakus wandeln.
"Die Sklaven haben Tyrannen gemacht, der Blödsinn und der Eigennutz haben die Privilegien erschaffen, und die Schwachheit und Leidenschaft verewigen beides."
Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus

Klaus Müller: "Sparen sie mal Energie mit ihrem Ding, machen sie mal solange aus!"
Karl-Heinz Lotz: "Nee, das sind Geräusche und Geräusche sind schön."
Müller: "Das ist der Haftbefehl, auch original, aber die Liste? Das ist die Liste, wo ich gewesen bin."

"Meine Reise nach Syracus im Jahre 1988" steht auf der Landkarte, Längen- und Breitengrade sind vermerkt, 76 Reisestationen genau markiert. Nördlichster Punkt Gedser/Dänemark, südlichste Station: Syrakus/Italien. Ausgangspunkt: Rostock/DDR. Das ist die politische Geografie der Reise. Gedser und Syrakus liegen auf Inseln, Rostock auf dem Festland. Das ist die Reisegeografie.

Sieben Jahre dauerten die Reisevorbereitungen. Die ersten Jahre reines Denken, wie er sagt, und dann die letzten zwei Jahre auf der Lauer liegen. Nach der Wende wurde Müllers Bildungsabenteuer in einem Buch beschrieben und er als Gompitz berühmt. Er tingelte mit seiner Geschichte durch die alten Bundesländer. Die Leute kamen, um diesen Schwejk aus der DDR zu erleben.

Müller: "Mir ist immer wieder peinlich, dass diese Anstinkerei gegen dieses DDR-System, dass das der Schwerpunkt ist. Diese DDR ist für Leute, die nicht in ihr gelebt haben, wirklich eine ganz unwichtige Sache. Aber wir haben sie erlebt und durchlitten und deshalb müssen wir den Leuten, die hier leben und auch den Wessis, den in den alten Bundesländern aufgewachsenen Landsleuten, irgend etwas davon erzählen, damit sie es verstehen."

In der Nacht zum 8. Juni 1988 legt der Kellner Klaus Müller mit der Segeljolle ab. Es ist stockfinster, der Wind weht schwach, die Sehnsucht treibt ihn an. Nach Syrakus, wie Seume damals 1801.

"Das Schicksal hat mich gestoßen. Ich bin nicht hartnäckig genug, meine eigene Meinung stürmisch gegen Millionen durchsetzen zu wollen: aber ich habe Selbstständigkeit genug, sie vor Millionen und ihren Ersten und Letzten nicht zu verleugnen."
Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus

Der Brief an das ZK der SED. Kellner Müller steckte ihn am Nachmittag des Tages in den Briefkasten, da er zu seiner Bildungsreise aufbrach.

Müller: "Sehr geehrter Herr Sekretär des ZK der SED. Nach Jahren vergeblichen Bemühens auf legalem Wege eine Deutschland- und Italienreise machen zu können, versuche ich heute Nacht mit meiner Segeljolle nach Dänemark zu gelangen. Ich versichere Sie, dass ich die Grenzen meines Vaterlandes DDR nicht in verräterischer Absicht zu durchbrechen versuche, sondern allein, um meine persönlichen Reise- und Bildungsambitionen zu befriedigen.

Sollte mein Grenzdurchbruch gelingen, so bitte ich Ihre Behörde nachträglich meinen Verzweiflungsschritt zu legalisieren und mir bei der ständigen Vertretung der DDR in der BRD einen Reisepass zu hinterlegen, damit ich im Mai 1989 legal und diskret in die DDR zurückkehren kann. Sollte ich aber aufgebracht werden, so sehen Sie bitte dieses mein Schreiben als einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR an. Aber nur dann! Hochachtungsvoll - mein Name."

Müllers Traum

Die Reise begann früher, lange vor den Reisevorbereitungen. Und andernorts. In der Kindheit, in Dresden, in der Nachkriegszeit.

"Also ich musste mir alles selbst erwerben. Also ich hab von niemandem etwas gekriegt. Meine Eltern hatten nischt und ich konnte nicht das Geringste erwarten. Ja, das zwingt natürlich ja nun schon zum Durchbeißen, materiell ..."

… und ideell, angeregt durch Lehrer, Literaten und Fantasie.

"Die Idee, mal nach Italien zu reisen, hatte ich schon als Kind. Einer meiner Freunde in Dresden, der aus besserem Hause stammte, der war auch betucht, hatte auch einen Vater, der nach dem Westen abgehauen ist und großer Bauleiter in Bonn war, der war 61 im Hochsommer in den Semesterferien im Westen und in Italien, durch die Schweiz und dann wieder zurück, hat quasi die zweite Hälfte der Seumereise damals gemacht per Anhalter. Kam aber pünktlich zum Mauerbau wieder zurück. Da hatte ich mir gesagt, das machst du auch. Das machst du nächstes Jahr. Das machste mit dem Fahrrad 62 und das war nun vorbei."

Die Mauer stand dem Fahrrad im Wege. Für Gedankenreisen war sie aber nicht hoch genug.

"Triest! Die Stadt, in der Winkelmann ermordet wurde. Erst mal die Fahrt mit der Eisenbahn von Udine an der Adria entlang, an dem Schloss Miramare vorbei, und dann Triest! Natürlich Syrakus! Schinkel schrieb ja an seinen Mentor: Fünf glückliche Monde waren durchwandert. Österreichs waldiges Gebirg überstiegen. Von Triests grottenreicher Küste zuerst zum ersten Mal das Meer erblicket. Pulas Schätze, die schönen Städte Italiens bewundert, als mir ein milder Abend die Herrscherin der Welt auf ihren sieben Hügeln zeigte. - So schrieb der. Das ist natürlich eine beeindruckende Sache und so was hat man hier gelesen und wollte das erleben. Das ist ja nun eine Triebkraft."

"Warum sollte ich zu entstellen suchen? Zu hoffen habe ich nichts, und fürchten will ich nichts." Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus

Müller, den sächsischen Saisonkellner an der Ostsee, treibt weniger der Hunger nach Freiheit, sondern der Hunger nach Bildung.

"Bei meinem ersten Job, auf einem Seebäderschiff ‘81, habe ich eine Zufallsbekanntschaft gemacht. Und hab mich mit der Dame unten an den Strand gelegt, untern Streckelberg, wunderschöne Landschaft. Und von dort aus sah man die Schiffe auf der Reede in Swinemünde. Und plötzlich sagte die: die müsste man doch erreichen. Es war damals gerad die hohe Zeit der Solidarnost-Bewegung. Es fuhren auch keine Schiffe mehr nach Swinemünde. Und da … ich war damals schon vierzig Jahre! Und die junge Frau bringt mich auf den Gedanken und dann begann die Planung."

Müller wird wiederkommen, nach der Bildungsreise nach Syrakus. Aber erst wird er in der BRD von Westgeld leben, das er vorher dorthin schmuggeln ließ; sich durchkellnern und schon mal zu hören bekommen, dass er Arbeitsplätze wegnehme und doch wieder in die DDR zurück gehen sollte … Syrakus sehen!

Die DDR-Grenzer empfangen ihn mit den Worten: "Na, sind sie wieder da, Herr Müller." Die Stasi verhört ihn in Rostock, veranstaltet aber weiter kein großes Aufsehen. Am 11. November 1988 wird das Verfahren gegen ihn eingestellt. Und heute? Man kann ihn auf seinem Drahtesel im Rostocker Stadthafen antreffen. Müller alias Gompitz, der noch immer eine DDR Telefonnummer hat. Wie damals, als er bei Nacht aufbrach.

"Sobald die Könige den Mut haben werden, sich zur allgemeinen Gerechtigkeit zu erheben, werden sie … das Glück ihrer Völker durch Freiheit notwendig machen. Aber dazu gehört mehr als Schlachten zu gewinnen."
Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus

Die große Reise

Müller: "Dann bin ich los und da hatte ich noch die große Enttäuschung, dass der Wind um Mitternacht gewaltig abflaut. Nun glitt das Boot ganz langsam vorm Wind. Also vor einer leichten Briese. Draußen blies eine wunderschöne vier und dort anderthalb bis zwei. Also kaum Wind. Nun bewegte sich das Boot ganz langsam in Richtung Süden. Ich dachte, du hast geplant, mit einer Stunde die sieben Kilometer von Neuendorf bis zur Ausfahrt unten am südlichen Gellen und nun dauerte das so lange. Und bin dann mit meinem West-Nordwestkurs über die letzte Sandbank, die ich auch kannte, drüber weg.

Ich merkte, wie das Schwert noch mal ein bisschen hoch kam. Da war ich ein bisschen stolz, da hab ich mir gesagt, wenn sie dich jetzt noch erwischen da draußen, dann können sie dich wenigstens nicht mehr verlachen, denn das müssen sie erst mal selber machen. Nachts Einhand mit Jolle. Tja, das war der Triumph. Und am Zwangswegknick, da wurde ich dann hundemüde. Hundemüde, hatte dann manchmal Sekundenschlaf. Aber der Sekundenschlaf ist nicht so schlimm, wenn man die Pinne unter dem Arm hat und das Schiff kommt aus dem Kurs, dann ist sofort Zug oder Druck und sofort ist man dann wieder wach."

Ostseewellen

"Syrakus, das war das Ziel! Man wusste, jetzt bist du angekommen, jetzt hast du alles erreicht, jetzt geht es wieder zurück. Und auf der Rückreise als besonderes Erlebnis musste ich natürlich ... die Städte wurden ja immer schöner je weiter man nach Norden kommt ... hab ich in Parma, da bin ich mehrere Tage geblieben. Parma war so der große Wunsch von mir mit, weil ich als 15-, 16- oder 14-Jähriger mal mit Gerard Philipp die Verfilmung der 'Kartause von Parma' gesehen hab und das hat mich unheimlich beeindruckt, dieser Film. Da hatte ich aber den Eindruck, diese Kartause sei eine Burg inmitten der Stadt. Das stimmt aber gar nicht. Die Stadt ist ganz flach unten in der Lombardei und die Kartause ist drei Kilometer noch weiter in der Ebene.

Aber die Stadt, jetzt bist du da, jetzt bist du hier und es sind auch Bezüge zu diesem Buch, also diesem Roman von Stendal an allen Ecken. Und auch die Leute waren so freundlich und da passierte folgendes. Stand ich auf der Piazza, es war kein Massentourismus - ich war der einzige Fremde in der riesengroßen Stadt. In dieser bedeutenden Stadt. Riesengroß ist sie ja nicht. Vor diesem herzoglichen Palais, wo in diesem Film, der mir so in Erinnerung ist, der mich tief beeindruckt hat. Da lief der Vorspann mit der Rigoletto-Ouvertüre ab, während die Sonne untergeht und die Schatten auf dieser Renaissancefassade immer länger werden."

Rigoletto-Ouvertüre

"Und in dem Moment, wo ich vor dieser beeindruckenden Fassade stehe, da legt einer die Rigoletto-Ouvertüre auf, sah mich dort - war so eine Cafeteria, so ein kleiner Laden - und nickte mir zu. Und was Sie da sagen mit dem kulturvolleren Leben, genau, die Kultur ist innerlich. Es ist nicht so wie bei uns, wo jede Kneipe und jedes kleine Caféhaus vom feinsten eingerichtete ist nach allen Kriterien der Hygiene. Die Kultur ist innerlich. Es ist ziemlich schlampig in Italien, speziell die Toiletten, das ist wahr, das ist eine ganz andere Sache, aber ich muss dazu sagen, ich bin dort nicht zu Hause. Mir hat das gefallen, es war eine tolle Reise. Die Stasitypen fragten mich dann beim Verhör, warum sind sie denn nicht in Italien geblieben? Ich hab vor denen natürlich auch geschwärmt. Ich hab gesagt, ich bin dort nicht zu Hause, hier bin ich zu Hause."

Rigoletto-Ouvertüre

"Freiheit ist so was normales für den, der sie hat. Auch wenn er sie gerade errungen hat. Wir sehen es ja an den Wessis, an den Ossis. Kaum waren sie frei, dann waren sie schon wieder unglücklich. Die haben eine Nacht gejubelt und gesoffen und dann haben sie sich schon beklagt, dass es ihnen nicht gut geht. Im Wendejahr."

Klaus Müller ist immer noch unterwegs. Vieles ist ihm gelungen in seinem Leben, doch das Leben hinter einer Mauer kann auch er nicht verständlich machen. Die Mauer war mal und er ist eigentlich ein zufriedener Mann.

"Der Mann ist jetzt glücklich, weil er historisch und von der Evolution her zu den Siegern gehört. Der Sieger, den die Evolution nicht unterbuttern wird, weil er in diesem Sinne der Evolution keinen Fehler macht. Private Sache, aber ich habe fürchterliche Streiterei mit meiner Frau wegen der Heizung. Die wird abgedreht! Die Heizung ist aus! Deshalb bewundere ich auch den Müntefering so mit seinem Wort: Um die Notwendigkeit des Sparens oder des Einschränkens verstehen zu müssen, genügen acht Jahre Volksschule Sauerland."

Klaus Müller ist in seinem Land im Westen angekommen, im Kapitalismus, der, wie Müller sagt, quasi der Triumph der Grundrechenarten gegenüber religionsähnlichen Vorstellungen ist. Hat er noch genügend Kraft, diese Freiheit anzunehmen?

"Ja, doch, doch die Kraft hab ich noch. Ich muss dazu sagen, ich habe eine unglaubliche Stärke im Kapitalismus. Ich bin ein absoluter Konsumverweigerer. Ich achte darauf, dass meine schwarzen Zahlen immer schwärzer werden und ... ja, ich verachte alles, was mir angeboten wird. Also alles, was mir angeboten wird ... Aber das geht doch aber sehr in das Persönliche rein. Was ich unbedingt brauche, das weiß ich ja. Das weiß ich, aber das ist nicht unbedingt viel und das erwerbe ich manchmal sogar ziemlich teuer, weil ich die ganzen Schnäppchen in den Müll schmeiße.

Ich kaufe das, was ich brauche, unbedingt. Ich brauche zwar dringend Zubrote, denn so ein abenteuerliches Leben, wie ich es geführt habe, das bringt wenig Rentenanrechte. Aber es ist natürlich dabei auch der Wunsch, dass man doch der jungen Generation beibringen kann, dass Konsum nicht alles ist. Ich bin da immer sehr traurig, wenn ich die jungen Leute mit ihrem digitalen Schnickschnack und diesem elektronischen Zeug rumlaufen sehe und ihre einfache, fast primitive Sprache höre, dass macht mich schon traurig. Und da versuche ich natürlich durch meine Wiedergabe meiner Abenteuer doch ein bisschen Munterkeit in das Leben reinzubringen."

Und Klaus Müller ist immer noch unterwegs, um den genius loci zu spüren.

"Ich hab noch mein Ziel. Ich will unbedingt nach Lissabon. Will unbedingt auf Kap Sant Vicente stehen, wo Heinrich der Seefahrer damals den Blick in die Ferne gerichtet hat und wo ja quasi mit diesem Blick das Mittelalter endete. Also den genius loci will ich spüren."

Merreswellen

"Vielleicht erfährst Du hier wenig oder nichts neues. Die Vernünftigen wissen das alles längst. Aber es wird meistens entweder gar nicht oder nur sehr leise gesagt …"
Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus

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