Die Hördoku „Der letzte Tag“

    „Mein Hanau-Feature soll nicht entertainen“

    Wandbild mit den Gesichtern der Ermordeten in Hanau
    Man kann sich gar nicht genug mit dem Anschlag von Hanau auseinandersetzen, sagt Feature-Autor Sebastian Friedrich. © imago / Marcel Lorenz
    Sebastian Friedrich im Gespräch mit Sarah Murrenhoff · 07.03.2021
    In seinem Feature rekonstruiert Sebastian Friedrich den letzten Tag im Leben von Ferhat Unvar und anderen Opfern des Anschlags von Hanau. Im Interview spricht der Autor darüber, warum es wichtig ist, sowohl die Perspektive der Betroffenen einzunehmen als auch den größeren gesellschaftlichen Rahmen zu beleuchten.
    Deutschlandfunk Kultur: Sebastian Friedrich, Sie beschäftigen sich schon lange mit Rassismus und rechter Gewalt. Mit rechten Anschlägen und den entsprechenden sozialen Umfeldern kennen Sie sich gut aus. Was hat Sie beim Anschlag in Hanau am meisten überrascht?
    Sebastian Friedrich: Die sozialräumliche Dimension von Hanau-Kesselstadt. Bei einem meiner Besuche in Hanau hat mir einer der Überlebenden des Anschlags, Jaweid Gholam, den Tatort in Kesselstadt gezeigt. Er hat mir auch gezeigt, wo der Täter lebte, wo viele der Getöteten lebten. Und da habe ich überhaupt erst erfasst, wie eng alles beieinander liegt. Zwischen dem Kurt-Schumacher-Platz – dem Tatort in Kesselstadt – und dem Wohnhaus der Eltern des Täters liegen nur 200 bis 300 Meter Luftlinie! Und dazwischen liegt das Jugendzentrum, das für viele der Betroffenen eine große Rolle spielte, dazwischen liegen auch Wohnhäuser von Ermordeten. Und das alles innerhalb eines Mikrokosmos…
    Deutschlandfunk Kultur: Innerhalb dieses Mikrokosmos beleuchten Sie in Ihrem Feature "Der letzte Tag" vor allem die Perspektive der Opfer. Eigentlich ist Ihr journalistischer Schwerpunkt Rechtsextremismus, militanter Rassismus und auch die Neue Rechte. Wie kam es hier zur Verschiebung Ihres Fokus?
    Sebastian Friedrich: Bei fast allen rechten Anschlägen setzt man sich vor allem mit den Tätern auseinander. Das ist auch nachvollziehbar, schließlich möchte man wissen: Warum diese Tat? Was waren die Hintergründe? Die Motive? Es ist auch wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Doch gleichzeitig werden die betroffenen Menschen in den Medien immer wieder unterbelichtet. Damit meine ich zum einen die konkreten Opfer. Sie werden in Medien viel weniger repräsentiert. Darüber hinaus meine ich aber auch das Umfeld, das Milieu, auf das ein rassistischer Mörder mit seiner Tat zielt. Und das halte ich für zumindest genauso wichtig wie die Motivlage des Täters, weil mit rassistischen Anschlägen ja weite Teile der Gesellschaft gemeint sind. Der Täter ist in Hanau ja nicht gezielt auf eine spezielle Person zugegangen und hat sie ermordet, sondern er hat Personen ermordet, die für ihn für migrantisches Leben in Deutschland oder für die Realität der Einwanderungsgesellschaft stehen. Und damit kann man sich gar nicht genug auseinandersetzen.
    Nesrîn Unvar, Schwester des ermordeten Ferhat Unvar, vor dem Begegnungszentrum der Initiative 19. Februar am Hanauer Heumarkt.
    Nesrîn Unvar erzählt im Feature von ihrem Bruder Ferhat Unvar, der am 19. Februar 2020 bei dem rassistischen Anschlag in Hanau ermordet wurde.© Sebastian Friedrich
    Deutschlandfunk Kultur: Früher war es dem Journalismus immer ein Anliegen, die Opfer möglichst zu schützen und auf keinen Fall Namen oder sonstige Persönlichkeitsdaten preiszugeben. In der letzten Zeit kann man eine Veränderung beobachten: Die Namen der Opfer zu nennen, wird zunehmend als Akt des Respekts empfunden – Stichwort #saytheirnames –, nicht nur in Aktivist*innenkreisen, sondern auch von Journalist*innen. Wie erklären Sie sich das?
    Sebastian Friedrich: Es gab auch bei anderen Taten aus Unterstützer*innenkreisen schon häufig Versuche, die Namen und die Betroffenen in den Vordergrund zu stellen. Die Frage ist nur, ob das immer gehört wurde. Und jetzt verschiebt sich auch die Perspektive der Journalist*innen zunehmend. Das ist das eine. Zum anderen kann ich mir vorstellen, dass es Unterstützer*innen und Betroffenen darum geht, ein gewisses Gedenken an ihre Freund*innen, ihre Angehörigen weiterzutragen. Das ist etwas ganz Nachvollziehbares, was in Richtung Trauerarbeit geht. Aber darüber hinaus gibt es noch eine stärkere politische Dimension. Wenn man sich vergegenwärtigt, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund so eine Tat vollzogen wurde und welche gesellschaftliche Gruppen sie getroffen hat, kann man daraus vielleicht Lehren ziehen, um Folgetaten zu verhindern.
    Deutschlandfunk Kultur: Was bedeutet das konkret?
    Sebastian Friedrich: Wenn wir uns die ganze Zeit nur mit der Psychologie des Täters auseinandersetzen, dann kommen wir vielleicht zu anderen politischen Schlussfolgerungen, als wenn wir uns fragen: Was ist das für eine Gesellschaft, in der diese Tat vollzogen wurde? Also: Welche Ideologien spielten eine Rolle? Aber auch: Welche Gruppen wurden getroffen?
    Deutschlandfunk Kultur: Im Fall von Hanau kommen ja viele der Betroffenen aus Kesselstadt…
    Sebastian Friedrich: Genau. Kesselstadt ist ein Stadtteil von Hanau, der sehr migrantisch geprägt ist, der auch stark von einer Arbeiter*innenklasse geprägt ist. Er ist praktisch der sichtbare Teil der migrantischen Einwanderungsgesellschaft. Es ist ein Teil der Gesellschaft, der medial nicht groß repräsentiert wird, der in der intellektuellen Öffentlichkeit eine geringere Rolle spielt. Daher war meine Absicht, zu zeigen: Hier, das sind die konkreten Personen, die getroffen wurden, die hatten diese und jene Träume, die hatten dieses Leben. Die hatten diese und jene Vorstellungen vom Leben, und die wurden alle zunichte gemacht. Das ist auch ein politischer Ausdruck, um einen politischen Perspektivwechsel herbeizuführen.
    Deutschlandfunk Kultur: Um mehr Empathie herbeizuführen?
    Sebastian Friedrich: Ja, es geht natürlich auch um Empathie. Zahlen wie "neun Tote", "elf Tote" sind natürlich sehr abstrakt. Aber sobald Du anfängst, Dich mit einer konkreten Person – mit Ferhat Unvar zum Beispiel – auseinanderzusetzen, damit, was für ein Leben er führte, was für Träume er hatte, dann fällt es leichter, sich in ihn hineinzuversetzen.
    Gedenken an die in Hanau Ermordeten in Hanau-Kesselstadt
    In seinem Feature "Der letzte Tag" zeigt Sebastian Friedrich die Perspektive der Opfer von Hanau.© Sebastian Friedrich
    Deutschlandfunk Kultur: In Ihrem Feature rekonstruieren Sie anhand von Erzählungen dann Ferhat Unvars letzten Tag. Wie schwierig war es, nicht in die Voyeurismus-Falle zu tappen?
    Sebastian Friedrich: Wichtig war, denke ich, dass ich nicht sofort mein Mikro hervorgeholt habe, weil ich nicht den tagesaktuellen Berichterstattungsdruck hatte. Bei meinem ersten Besuch in Hanau habe ich keine einzige Aufnahme gemacht für das Radiofeature, sondern habe die Zeit erst einmal genutzt, um Beziehungen aufzubauen. Das hat vermutlich dazu geführt, dass sich Angehörige geöffnet haben und später emotionale und intensive Gespräche mit mir geführt haben. Die wirkliche Herausforderung war dann aber das Feature Schreiben nach den Interviews. Einerseits wollte ich ein Stück machen, das diesen Tag rekonstruiert, das aber auch den gesellschaftlichen Hintergrund, den Rassismus, den Alltagsrassismus, den institutionellen Rassismus, aber auch die Klassengesellschaft, in der wir leben, sichtbar macht. Aber im Mittelpunkt stehen eben diese sehr emotionalen Gespräche. Ich wollte kein voyeuristisches Stück machen. Im Prozess der Manuskriptverfassung und im Austausch mit der Redaktion tauchte immer wieder die Frage auf, ob man nicht einen größeren Spannungsbogen aufbaut. Ich habe mich sehr schwer getan mit Spannungsbögen.
    Deutschlandfunk Kultur: Das Stück hat natürlich allein wegen des Aufbaus – der Rekonstruktion des letzten Tages – eine gewisse Spannung…
    Sebastian Friedrich: Ja, auf jeden Fall. Aber ich wollte es – was sehr schwer ist für Journalist*innen – nicht zu spannend machen. Ich möchte nicht, dass dieses Stück unterhält. Oder entertaint. Gleichzeitig möchte ich natürlich trotzdem, dass die Menschen dabei bleiben und nicht abschalten, weil sie denken, "ah, zu harter Stoff, hab ich jetzt keinen Bock drauf, mich damit auseinanderzusetzen". Und das ist ein sehr, sehr schmaler Grat gewesen.

    Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Sarah Murrenhoff.

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