Die Helden von heute

Von Fritz Pleitgen · 24.04.2005
Wer sind die Helden von heute? Es sind die Helden von damals. Es sind die ewig Gestrigen, die immer noch meinen, man könne aus der Geschichte lernen; die Halsstarrigen, die an merkwürdigen Traditionen hängen; die Widerborstigen, die ihr Gewissen nicht veröden lassen und einfach nicht kapieren, was es geschlagen hat. Sie sind begriffsstutzig und langsam.
Unklug wie sie sind, springen sie zu dem Ertrinkenden ins Wasser, und dort erst fällt ihnen ein, dass sie gar nicht schwimmen können. Sie schlafen schlecht und haben schwere Träume. Sie durchwachen ganze Nächte in Zweifel, Angst und Verwirrung, und am Morgen haben sie ein graues Gesicht, das sich nicht für’s Illustriertencover eignet.

Man kann sie tatsächlich nur schlecht erkennen (vielleicht muss man dazu einer der ihren sein). Sie selbst wissen nicht einmal, dass sie einer sind, denn wüssten sie’s, dann wären sie keiner. Es steht ihnen nicht auf der Stirn. Sie haben weder Donnerstimme noch Flammenblick. Sie steigen wie jeden Morgen in die Straßenbahn, aber wenn plötzlich ein Glatzköpfiger einen Farbigen drangsaliert, gehen sie dazwischen und beenden die hässliche Szene. Sie tun es aus purem Egoismus. Sie finden es lästig, nicht mehr in den Spiegel schauen zu können. Es würde sie stören, in einem Land zu leben, wo sich unschuldige Menschen ängstigen.

Sie sind linkisch und antiquiert, zumeist auch keine Aktivisten, sondern eher dickfellige Störer und Störerinnen. "Wenn’s bergab geht", sagen sie, "sollte man auf der Bremse stehen und nicht auf dem Gaspedal." Sie geben nicht viel auf "Tugenden" wie Pünktlichkeit, Treue, Gehorsam oder Ordnungsliebe. Spielverderberisch fragen sie: Wem denn gehorsam? Wobei denn pünktlich oder ordentlich? Wem denn treu? Und wenn die Antwort sie nicht befriedigt, sind sie plötzlich unpünktlich, ungehorsam und höchst unordentlich. Dann laufen sie aus dem Ruder oder aus dem Glied, und alle halten sie für das eigentliche Problem. Später, wenn der Staatskarren wieder einmal im Graben liegt, sind sie es, die aufräumen und ihn wieder flott machen.

Auch sind sie höchst unsensibel. Sie kriegen es nicht mit, wenn sich der Wind dreht. Sie hören es nicht, wenn sich der Ton ändert. Das Kugelgelenk in ihrem Hals ist schwergängig, und so kapieren sie zumeist als letzte die Richtungsänderung der Politik. Wenn dann ihr Nachbar plötzlich verachtet wird oder gar verfolgt, stehen sie immer noch bei ihm und reden über das Wetter, als ob nichts wäre. Dabei sind sie nicht unbedingt gute Menschen. Im Gegenteil, sie machen Fehler, tonnenweise, aber nie zweimal den gleichen. Wenn sie gut sind, dann allenfalls aus Trotz.

Soviel ist klar: Man kann nicht mit ihnen rechnen. Die branchenüblichen Gepflogenheiten sind ihnen unbekannt. Sie entlassen keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, obwohl der Betrieb enorme Gewinne macht. Sie sind das ständige Sicherheitsrisiko. Man schiebt ihnen den prallen Briefumschlag hin, damit sie den überhöhten Bauauftrag unterschreiben, und dann nehmen sie ihn einfach nicht an. Wenn man ihnen nicht rechtzeitig auf die Schliche kommt, werden sie wirklich lästig. Ohne Feingefühl und Diskretion gehen sie dem Korruptionsverdacht nach, schauen pedantisch hin und zerren alles ans Licht, obwohl das so gar nicht die Karriere fördert. Überhaupt neigen sie zu geschäftsschädigendem Verhalten. Sie wollen keinen Lohn ohne Anstrengung. Sie fordern einen reellen Preis. Sie lügen sogar dann nicht, wenn es niemand merken würde und zweifeln an sich selbst, obwohl ihnen niemand widerspricht.

Es sind unsichere Kantonisten. Mitten im Gleichschritt sagen sie plötzlich: Bis hierher und nicht weiter. Denn sie haben eine ganz besondere Schwäche: Sie hängen am Leben. Sie sind nicht bereit, es für rosarote Kompromisse oder geldwerten Vorteil aufzugeben. Sie wollen es bunt und überraschend. Sie lieben es trotz all seiner Widersprüche und Brechungen. Deshalb schreiben sie auch keine Manifeste und Resolutionen. Sie glauben niemandem aufs Wort, dass alles besser würde, wenn man nur christlich, sozialistisch, kapitalistisch oder humanistisch wäre. Sie entwerfen nicht dauernd den "neuen" Menschen, denn sie mögen den alten. Sie lieben ihn mit all seinen Macken und Umständlichkeiten. Sie lieben den Zauber seiner Vergänglichkeit. Sie lieben ihn, obwohl sie ihn durchschaut haben.

Neulich saß einer von ihnen im Ausländeramt. Man hatte ihn eingewiesen und trainiert. Er kannte die Gesetze und wusste, was man von ihm erwartete. Den armen Teufeln draußen auf der langen Bank im Korridor sollte er klar machen, dass man sie hier nicht haben wollte, dass sie illegal wären und sich zurück zu der Hölle scheren sollten, der sie meinten, entkommen zu sein. Aber dieser eine erkannte die Angst im Gesicht seines Gegenübers. Er konnte ihm nicht wirklich helfen, aber er gab ihm die Hand zur Begrüßung. Er sprach freundlich mit ihm, hörte geduldig zu und suchte nach Schlupflöchern im Gesetz. Zuletzt standen beide noch ein paar Minuten am Fenster und schauten gemeinsam hinaus in die Welt, die sie nicht gemacht hatten und in die sie nicht freiwillig gekommen waren.

Wer sind die Helden von heute? Es sind die von damals. Es sind die von immer.

Fritz Pleitgen, geboren 1938 in Duisburg.
1959 - 1962 Volontär und Redakteur bei der Freien Presse, Bielefeld
1963 - 1970 Westdeutscher Rundfunk, Köln Tagesschau und Sonderberichte
1970 - 1977 ARD-Korrespondent in Moskau
1977 - 1982 Leiter ARD-Studio DDR
1982 - 1987 Leiter ARD-Studio Washington
1987 - 1988 Leiter ARD-Studio New York
1988 - 1993 Chefredakteur Fernsehen Westdeutscher Rundfunk Leiter Programmbereich Politik und Zeitgeschehen
01.01.1994 Hörfunkdirektor Westdeutscher Rundfunk
07.03.1995 Wahl zum Intendanten des WDR