"Die Hauptschuld trägt die Stadt Köln"

René Böll im Gespräch mit Jürgen König · 03.03.2010
Der Sohn des Schriftstellers Heinrich Böll, René Böll, überlegt juristische Schritte gegen die Stadt Köln. Sie sei verantwortlich für den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, in dem auch der Nachlass seines Vaters lagerte. Die Stadt Köln habe den U-Bahnbau in Auftrag gegeben, aber nicht entsprechend kontrolliert. Bisher habe noch niemand konkret die Verantwortung übernommen.
Jürgen König: "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen", "Ansichten eines Clowns", "Ende einer Dienstfahrt", "Gruppenbild mit Dame", "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" – mit diesen und anderen Büchern gab Heinrich Böll ein genaues Porträt der ersten 25 Jahre der Bundesrepublik. Doch nicht nur mit diesen Büchern, so wie sie dann am Ende erschienen, nein, Heinrich Böll war ein Sammler, ein Bewahrer. Alle Pläne und Vorarbeiten seiner Bücher, alle Briefe dazu, die hob er auf, verstand sie als Teil eines großen Ganzen – und umso schlimmer ist es für die Böll-Forschung, dass große Teile dieses Nachlasses, der eben die Pläne und Vorarbeiten enthält, dass der beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs verschüttet wurde.

Vor einem Jahr stürzte das Kölner Stadtarchiv ein, stürzt in eine Baugrube der Nord-Süd-Stadtbahn, in die zuvor Grundwasser eingedrungen war. Benachbarte Häuser wurden mit in die Tiefe gerissen, dabei starben zwei Menschen. Die Trümmer des Stadtarchivs begruben Dokumente aus mehreren Jahrhunderten Stadtgeschichte unter sich, darunter auch bedeutende literarische Nachlässe, allen voran der von Heinrich Böll. Dessen Sohn, der Künstler René Böll, gehörte zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes Kölner Kulturschaffender vom März 2009. Ein Jahr danach wollen wir nachfragen. Guten Morgen, Herr Böll!

René Böll: Guten Morgen, Herr König!

König: "Wir erwarten eine schnelle und lückenlose Dokumentation der verlorenen Archivbestände sowie die zügige Bereitstellung finanzieller Mittel, die zur Restaurierung der Dokumente, die geborgen werden konnten, notwendig sind", hieß es am Ende Ihres Briefes. Über die generellen Verluste sagte die Leiterin des Stadtarchivs, Bettina Schmidt-Czaia, gestern in unserem Programm:

Bettina Schmidt-Czaia: "Der Zustand ist höchst unterschiedlich. Wir haben 35 Prozent des geborgenen Archivguts in allerhöchster Schadensklasse bis hin zum Fragment, dann 50 Prozent mittelschwer beschädigt, und nur 15 Prozent ist leicht beschädigt, das heißt, durch ordentliches Abbürsten wieder benutzbar zu machen. Also wir rechnen damit, dass wir fünf Prozent Totalverlust haben werden, was wir auch nicht wiederfinden, weil es so fragmentiert ist, dass es tatsächlich trotz aller Siebemaßnahmen und Durchsichtmaßnahmen im Schutt verloren ist."

König: Und Bettina Schmidt-Czaia sagte auch, es sei tragisch, dass ein großer zweiter Teil des Heinrich-Böll-Nachlasses erst wenige Monate vor dem Einsturz angeschafft worden sei und dass dieser Teil von den Archivaren noch gar nicht erfasst worden wäre. Das sei eine echte Katastrophe. Wissen Sie, Herr Böll, inzwischen, was alles verloren ging vom Nachlass Ihres Vaters?

Böll: Wir haben überhaupt keinen Überblick. Wir haben noch keinerlei Nachrichten. Es sind wohl einige Teile gefunden worden, aber was konkret gefunden worden ist, wissen wir gar nicht. Wir hatten ja einen großen Teil der Nachlassmaterialien erst etwa drei Wochen vor dem Einsturz übergeben.

König: Das ist für die Böll-Forschung eine Katastrophe oder wäre es, wenn das alles unwiederbringlich verloren wäre.

Böll: Das ist eine absolute Katastrophe, auch wenn es wieder gefunden wird. Es wird ja Jahrzehnte dauern, die Sachen wieder zusammenzuführen.

König: Was konnte denn gerettet werden?

Böll: Wir wissen gar nichts, ich habe keinerlei Ahnung.

König: Aber das kann doch nicht sein, ein Jahr danach, dass man Sie vollständig im Unklaren lässt.

Böll: Doch, das ist leider so. Wir wissen – ich glaube nicht, dass das Schuld des Archivs ist, sondern sie haben selber keinen Überblick. Ein Glücksfall ist bei der ganzen Sache gewesen, dass einige Sachen ausgelagert waren, die waren im Heinrich-Böll-Archiv, was nicht im historischen Archiv ist. Also einige, ein großer Teil der Manuskripte ist gerettet worden, vielmehr der war gar nicht im Archiv.

König: Und was könnte verloren gegangen sein, also was war vor allen Dingen in diesem zweiten Archivteil?

Böll: Es waren einmal doch ein großer Teil der Manuskripte, die mein Vater noch zu Lebzeiten übergeben hatte, sehr viele Korrespondenzen und das gesamte Privatarchiv, also das sind alle Manuskripte, die er vor '45 geschrieben hat, etwa 400 Manuskripte, mehrere Tausend Briefe, vor allen Dingen die Briefe aus der Kriegszeit, die gesamten Fotos, 6000 bis 8000 Fotos, Dokumente – also das sind Dokumente eigentlich der gesamten Familiengeschichte. Es waren 22 Umzugskartons, die wir noch kurz vorher übergeben hatten.

König: Aber es muss doch irgendeine Form von Zusammenarbeit zwischen dem Kölner Stadtarchiv und Ihnen geben oder eine Korrespondenz dazu oder einen Austausch über die Bemühungen, die man unternimmt, um das Problem anzugehen?

Böll: Es gibt eigentlich sehr wenig Information darüber, weil ich denke, dass das Archiv dermaßen beschäftigt ist, die Sachen irgendwie zu retten, dass man noch gar keinen Überblick hat. Und ich meine, das Problem ist ja auch, was die Leute immer vergessen: Restauriert heißt ja nicht, dass die Sachen nicht beschädigt sind. Das heißt, restauriert heißt, dass man die Schäden kaschiert ...

König: Restauriert wäre ja schon mal besser, als wenn es ganz verloren wär?

Böll: Das wäre natürlich besser. Ich weiß auch, wie ... Ich habe mich mit Restaurierung auch sehr beschäftigt beruflich, ich weiß, wie tolle Sachen die leisten können, aber es heißt nicht, dass die Sachen nicht mehr beschädigt sind.

König: Sie schrieben im März 2009 auch, Zitat: "Wir haben den Eindruck, dass die Repräsentanten der Stadt den Einsturz des Stadtarchivs wie eine unerwartete Naturkatastrophe behandeln, obwohl alle bisherigen Untersuchungen darauf hinweisen, dass diese Katastrophe, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen sind, viele ihre Wohnung und ihr Hab und Gut verloren haben, auf menschliches Versagen zurückzuführen ist."

Inzwischen wurde bekannt, dass auf der U-Bahn-Baustelle in den sogenannten Schlitzwänden teilweise nur 17 Prozent der eigentlich vorgesehenen Menge an Stahlbügeln verbaut worden sind. Man weiß, dass zu wenig Beton aufgegossen wurde, dass Dutzende Messprotokolle offenkundig gefälscht worden sind. Als Hauptschuldiger, war in der "Welt" zu lesen, werden von den Kölnern inzwischen die Kölner Verkehrs-Betriebe KVB angesehen, als Bauherr. Auch die Stadt als Auftraggeberin und die Arbeitsgemeinschaft Arge Los Süd als ausführende Baufirmen werden verantwortlich gemacht.

Heute meldet nun die "FAZ", dass ein Münchner Bauingenieur schon 2004 auf Sicherheitsmängel beim Bau der Kölner U-Bahn hingewiesen habe. Wer trägt für Sie, Herr Böll, die Hauptschuld an dem Geschehen?

Böll: Die Hauptschuld trägt natürlich die Stadt Köln. Ich meine, sie hat den Bau in Auftrag gegeben, sie hat ihn organisiert und sie hat ihn nicht kontrolliert. Es gab ja früher ein Bauamt der Stadt Köln, was wohl relativ sehr gut gearbeitet hat. Dieses Bauamt war ja nicht für die Kontrolle zuständig. Man hat die KVB, also die Kölner Verkehrsbetriebe haben sich selber kontrolliert, was ich für einen Witz halte.

König: Natürlich.

Böll: Nicht, wenn Sie ein kleines Einfamilienhäuschen bauen, müssen Sie Pläne noch und noch abgeben und werden kontrolliert. Und hier scheint ja der Bau überhaupt nicht kontrolliert worden zu sein.

König: Sehen Sie, dass inzwischen irgendjemand die politische und moralische Verantwortung für den Einsturz des Archivs und der benachbarten Wohnhäuser übernommen hat, so wie Sie es damals auch verlangt haben?

Böll: Niemand hat es bisher übernommen. Also ich verlange und erwarte eigentlich, dass auch mal jemand klar sagt, ich meine, die Bischöfin Käßmann ist da ein Vorbild. Sie hat ja bei einer, wie ich finde, relativ geringen Schuld sofort die Konsequenzen gezogen und das wirklich toll gemacht und die Schuld auf sich genommen. Bei der Stadt Köln tut das niemand, bis heute nicht.

König: Also irgendwie verstehe ich das alles nicht wirklich. Wenn ich mir vorstelle, Heinrich Böll, der große literarische Sohn der Stadt Köln, Nobelpreisträger, einer der großen deutschen Schriftsteller überhaupt, ein Großteil seines Nachlasses könnte verloren gehen, und was Sie jetzt, Herr Böll, berichten, ist irgendwie nur Ausdruck eines kompletten Schweigens – das verstehe ich nicht.

Böll: Nein, ich verstehe es auch nicht. Vor allen Dingen verstehen wir es nicht ein Jahr danach, dass man erst mal in den ersten Monaten wirklich dringend versucht hat, die Sachen zu retten. Und es liegt ja noch viel in der Baugrube.

König: Waren Sie eigentlich mal in der Baugrube oder kann man das besichtigen?

Böll: Man kann es nicht besichtigen, nein. Man sieht auch heute nicht mehr viel, es ist ja alles weggeräumt. Am Anfang lag das Gebäude ja noch auf der Straße, also es war ja ein zehn Meter hoher Schuttberg etwa, der ist ja komplett abgeräumt. Man sieht jetzt nur noch ein großes Loch. Es ist eigentlich nicht mehr viel zu sehen.

König: Die Empörung war ja vor einem Jahr auch deshalb so groß, weil der Einsturz des Gebäudes und dann vor allem der anschließende Umgang damit als symptomatisch angesehen wurde für die Art und Weise, wie die Stadt Köln mit ihrer Geschichte, mir ihrer Kultur umgeht, nämlich ohne jedes wirkliche Interesse, ohne wirkliches Wissen, entsprechend ohne wirkliches Verständnis für den Wert dessen, was da verschüttet worden war. Nachdem, was Sie jetzt erzählen, habe ich den Eindruck, dass sich daran überhaupt nichts geändert hat, dass es keinerlei Sinneswandel gibt.

Böll: Ich sehe das auch so. Ich meine, was ich sehr geändert hat, dass die Leute überhaupt wussten – man wusste ja vorher gar nicht, dass ein Archiv überhaupt existiert.

König: Na gut, das hat sich nun wirklich geändert.

Böll: Das hat sich wirklich geändert, aber immerhin etwas. Also sagen wir mal, das Bewusstsein für Archive überhaupt, jetzt abgesehen vom Kölner, ist, glaube ich, doch sehr gewachsen in der Bevölkerung, also die Wichtigkeit der Archive. Es geht ja da nicht um verstaubtes Papier, sondern es geht um lebendige Geschichte, unheimlich spannende Dokumente. Ich bin ja früher im Archiv mal gewesen, habe mir das mal angeguckt, die Lagermöglichkeiten, was da liegt. Da liegen ja, mittelalterliche Handschriften allererster Qualität waren ja in Köln.

König: Wie beurteilen Sie den Kölner Kulturdezernenten Quander, hat der eine Haltung dazu entwickelt, wo Sie auch sagen, ja, das könnte etwas werden, da geht es voran, dass man in Köln zu einem Umdenken kommt, was den Wert dieser eigenen Geschichtsarchivalien angeht?

Böll: Ich sehe das bisher nicht. Man will ja jetzt ein neues Archiv bauen, was natürlich sinnvoll ist, und die Sachen wieder ... Aber man sagt ja, man braucht 30 bis 50 Jahre, um die Sachen wieder einigermaßen zusammenzuführen. Also ich sehe bisher keinen großen Wandel. Im Gegenteil, der Kulturetat wird weiter zusammengestrichen. Ich meine, ich bin ja bildender Künstler, bin auch auf gewisse Förderung der Stadt angewiesen, wie viele andere auch, diese Förderungen werden noch weiter zusammengestrichen. Also es ist eigentlich der gegenteilige Effekt.

König: Ich habe gestern hier diesen offenen Brief vom März 2009 noch mal in Ruhe, mehrfach in Ruhe gelesen, und da war so ein Grundton der Empörung zu hören. Bei Ihnen habe ich jetzt den Eindruck, der Grundton hat sich gewandelt und ist einer der – ja, wie soll ich sagen – Resignation.

Böll: Im Grunde genommen schon. Ich erwarte nicht eine große Änderung der Stadt. Es gibt ja auch keinen Aufschrei in der Bevölkerung über das ganze Vorgehen. Ich meine, jetzt hat, ein Drittel der Kölner hat gesagt, man sollte die U-Bahn eigentlich einfach wieder zuschütten, ich würde das auch für die beste Lösung halten.

König: Gibt es Kölner Kulturschaffende, mit denen Sie sich zusammengeschlossen haben oder das tun könnten, um gemeinsam doch noch mal in einem Kraftakt gegen die Stadt vorzugehen?

Böll: Wir werden das überlegen. Ich meine, ich habe ein kleines Büro, ich habe nur eine Angestellte, die einmal in der Woche ein paar Stunden kommt, ich kann das nicht organisieren. Aber wir werden uns sicher noch mal zusammentreffen mit anderen Leuten. Sind ja Hunderte von Leuten betroffen. Es waren ja insgesamt über 800 Nachlässe im Archiv.

König: Ja, ja. Und da gibt es auch keinen Zusammenschluss der diversen Nachlass- und Erbengemeinschaften, gemeinsam vorzugehen, auch juristisch gegen die Stadt Köln vorzugehen?

Böll: Bis jetzt noch nicht. Drei Leute haben, glaube ich, soweit ich weiß, geklagt.

König: Sie werden auch klagen?

Böll: Notfalls werden wir klagen. Wir werden natürlich versuchen, uns außergerichtlich zu einigen, aber bisher ist niemand von der Stadt auf uns zugekommen.

König: Aber apropos Einigung, ich sehe ja im Moment nicht mal, dass Sie überhaupt einen Gesprächspartner haben, also von Einigung ganz zu schweigen.

Böll: Eigentlich nicht, nein. Es soll ein Treffen stattfinden im April und noch mal …

König: Warum so spät?

Böll: Es hat schon mal eins stattgefunden, voriges Jahr, wo die Stadt Köln so 200, 250 Leute eingeladen hatte, aber da ist eigentlich nur über die heldenhaften Taten der Feuerwehr berichtet worden, die ja wirklich toll gearbeitet hat, das will ich nicht abstreiten. Aber das sind Sachen, die uns eigentlich nur am Rande interessieren.

König: Herr Böll, ich wünsche Ihnen viel Kraft für den weiteren Weg.

Böll: Vielen Dank!

König: Im Kampf ein Jahr nach Einsturz des Kölner Stadtarchivs zieht Nachlassgeber René Böll, der Sohn von Heinrich Böll, eine ernüchternde Bilanz. Herr Böll, ich danke Ihnen!

Böll: Ja, vielen Dank, danke! Wiederhören!
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