Die Gruppe Nakam

Giftanschlag auf SS-Leute

13:57 Minuten
Gruppenbild der Nakam-Aktivisten.
Die Nakam-Aktivisten, hier kurz nach ihrer Ankunft in Palästina. © Jim Tobias
Von Thies Marsen und Jim Tobias · 13.04.2021
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Rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden fielen dem deutschen Vernichtungsfeldzug durch Europa zum Opfer. Die Aktivisten der jüdischen Nakam-Gruppe wollten Rache - und planten 1946 gezielte Anschläge. Fast vergessen: ein Anschlag mit vergiftetem Brot.
Nakam ist das hebräische Wort für Rache. Nakam, so nannte sich vor 75 Jahren eine kleine, aber entschlossene Gruppe von Überlebenden des deutschen Massenmords an den Juden Europas. Der Name war Programm: Rache. Rache an den Tätern.
"Wir mussten etwas tun, damit sich die Leute merken, dass solche Gräueltaten bestraft werden und nicht nur, dass jemand ins Gefängnis wandert. Solche Verbrechen müssen in einer Weise bestraft werden, die den Leuten im Gedächtnis bleibt."

Der letzte Zeitzeuge

Joseph Harmatz ist 2016 gestorben. Als letzter Zeitzeuge eines spektakulären Anschlags, der sich vor 75 Jahren in Nürnberg ereignete, in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1946. Zu diesem Zeitpunkt lief in der Stadt, in der die Nazis einst ihre Reichsparteitage veranstalteten, der Hauptkriegsverbrecherprozess.
Auf der Anklagebank: hochrangige Nazi-Funktionäre und Massenmörder wie Herrmann Göring, Rudolf Heß, Hans Frank, Ernst Kaltenbrunner oder Alfred Jodl. Im Gerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes wird das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgebreitet.
Allein in Auschwitz haben die Deutschen über eine Million Menschen ermordet – die allermeisten davon jüdische Männer, Frauen und Kinder. Insgesamt rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden sind dem deutschen Vernichtungsfeldzug durch Europa zum Opfer gefallen.

Der Shoah entkommen

Joseph Harmatz ist der Shoah entkommen. Er verfolgte den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess genau:
"Wissen Sie, es wurden Zeugen um Zeugen vorgeladen. Die Fakten waren aber doch alle bekannt. Unsere Leute waren ermordet worden, und auch die Gräber waren bekannt, man hätte sie einfach nur zählen brauchen. Das machte uns krank, dies mit anzusehen. Und ich war wirklich sehr aufgeregt.
Du konntest täglich in der Zeitung verfolgen, wo und wie sie saßen, zuerst Göring, dann kam Hess, Ribbentrop war der Dritte. Du hast also mitbekommen, was Sache war. Wir wollten irgendwie mit Maschinengewehren und Handgranaten ins Gerichtsgebäude eindringen und den großen Helden ein Ende bereiten."
Porträt von Joseph Harmatz im Alter.
Joseph Harmatz wollte sich in Nürnberg an den Deutschen rächen. Er gehörte zur Nakam-Gruppe und war der letzte Zeitzeuge.© Jim Tobias
Im April 1946 ist Joseph Harmatz 21 Jahre alt. Er stammt aus Litauen, wo die Deutschen im Juni 1941 einmarschiert sind.
Er hat sich schon früh dem jüdischen Widerstand im Getto von Vilnius angeschlossen, später geht er als Partisan in die Wälder und kämpft mit der Waffe gegen die Deutschen – gemeinsam mit Abba Kovner, einem legendären Partisanenführer und später berühmt gewordenen israelischen Schriftsteller.

Familien und Freunde wurden ermordet

Als die Rote Armee Vilnius im Juli 1944 von den Deutschen befreit, sind auch die jüdischen Partisanen dabei. Es gibt ein Foto, das die Einheit von Abba Kovner kurz nach dem Einmarsch in Vilnius zeigt: Zehn Männer und Frauen mit Sturm- und Maschinengewehren und entschlossenem Blick.
Doch eine Zukunft gibt es für sie in Litauen nicht mehr, ihre Familien und Freunde sind tot. Die meisten gehen deshalb nach Palästina, um dort einen jüdischen Staat aufzubauen. Doch sie haben noch etwas zu erledigen – in Deutschland. Rache. Nakam. Und Nürnberg ist dafür der ideale Ort:
"Nürnberg war ein Symbol der nationalsozialistischen Parteitage und der Rosenberg-Gesetze. Also, Nürnberg war ein Symbol von Nazi-Herrschaft."
Das Schicksal der eigenen Angehörigen und Freunde vor Augen, wollen Joseph Harmatz und die anderen Nakam-Mitglieder es den Deutschen heimzahlen. Monatelang werden verschiedene Aktionen diskutiert und durchgespielt: Der Plan, in den Gerichtssaal des Kriegsverbrechertribunals zu stürmen, um dort die Angeklagten anzugreifen, wird bald verworfen.

Gift aus Palästina

Die Alliierten haben offenbar Wind davon bekommen und verschärfen ihre Sicherheitsmaßnahmen. Abba Kovner plädiert für eine "Massenrache", wie er es nennt: Das Trinkwasser von Nürnberg soll vergiftet werden. Allerdings gibt es Bedenken, weil ein solcher Anschlag auch alliierte Soldaten und Shoah-Überlebende, die sich in der Stadt aufhalten, treffen könnte.
Porträt von Leipke Distel im Alter.
Der Aktivist Leipke Distel wird in die Brotfabrik eingeschleust und schmuggelt das Arsen ins Werk.© Jim Tobias
Während Nakam-Leute in Nürnberg bereits Vorbereitungen treffen, besorgt Kovner das Gift in Palästina. Doch offenbar wird er verraten, denn auf der Schiffsüberfahrt Richtung Europa wird er von britischen Soldaten verhaftet, das Gift landet im Mittelmeer.
"Wir hatten einen Mann, der Experte für Systeme der Trinkwasserversorgung war. Er wurde in das Nürnberger Wasserwerk eingeschleust. Die jüdischen Behörden in Palästina wollten eine solche Aktion jedoch nicht dulden und hätten sie gestört oder vereitelt. Der Kompromiss, den wir schließlich fanden, war, gezielt etwas gegen jene zu unternehmen, die an Aktivitäten gegen Juden beteiligt waren, und dazu gehört natürlich die SS."

Vergiftetes Brot

Die Alliierten haben nach ihrem Sieg Zehntausende SS-Männer und Nazi-Funktionäre interniert – vor allem in Nürnberg und Dachau, wo ihnen der Prozess gemacht werden soll. Die Nakam nimmt die Internierungslager ins Visier. Ihr Plan: das Brot der Gefangenen zu vergiften.
Dobka Debeltov, eine junge Aktivistin, wird beauftragt, das Nürnberger Lager auszukundschaften, das sich auf dem einstigen Reichsparteitagsgelände im Stadtteil Langwasser befindet. Sie findet heraus: Das Brot für die Gefangenen wird in der damaligen Konsumbäckerei am Nürnberger Schleifweg gebacken.
Historisches Bild eines alten Backsteingebäudes.
Aktivisten der Nakam-Gruppe kundschafteten die Bäckerei aus. Ein Aktivist wurde als Mitarbeiter eingeschleust.© Jim Tobias
Die Nakam-Gruppe besorgt eine große Menge Arsen, das in Wärmflaschen versteckt nach Nürnberg geschmuggelt wird. Der Test an einer Katze ergibt: Das Gift ist absolut tödlich. Nun wird ein Aktivist in die Belegschaft der Bäckerei eingeschmuggelt: Leipke Distel, auch er ein gebürtiger Litauer, der als Partisan gekämpft und mehrere Konzentrationslager überlebt hat:
"Und so kam es, dass ich mich dort in der Bäckerei meldete. Es war ein großer roter Ziegelbau. Ich erinnere mich, ich ging ins Personalbüro. Sie wussten nicht, was sie mit mir anfangen sollten, da ich – ein Jude – mich hier vorgestellt habe. Sie waren verblüfft. Wirklich verblüfft, dass ein Jude in der damaligen Nazihochburg Nürnberg um Arbeit nachsuchte."

Arsen ins Werk geschmuggelt

Leipke Distel erhält den Job dennoch. Er macht sich mit den Abläufen in der Bäckerei vertraut, schmuggelt das Arsen aufs Werksgelände. Nach monatelangen Vorbereitungen wird schließlich ein Termin für den Giftanschlag festgelegt: der 13. April 1946, ein Samstag.
Um die Aktion in Nürnberg nicht zu gefährden, wird das für den gleichen Termin geplante Attentat in Dachau kurzfristig abgeblasen – zur großen Enttäuschung der dortigen Nakam-Leute, die schnellstmöglich untertauchen. Am Tattag versteckt sich Leipke Distel nach Dienstschluss in der Nürnberger Großbäckerei. Als die Luft rein ist, lässt er zwei Kameraden auf das Gelände.
Nach Einbruch der Dämmerung treten sie in Aktion. Sie haben herausgefunden, dass das Weißbrot der Bäckerei für die alliierten Soldaten bestimmt ist. Deshalb nehmen sie sich nur das Graubrot vor – das ist für die gefangenen Nazis:
"Wir waren zu dritt. Ich habe das Brot genommen und reichte es meinem Kameraden, der mit einem großen Pinsel das Gift auf die Unterseite des Brotes gestrichen hat. Währenddessen rührte ein weiterer Kamerad ständig das Gift um, damit es sich nicht auf dem Boden des Eimers absetzte. Wir haben zügig gearbeitet, bis es dämmerte. Als wir das 1001. Brot gestrichen hatten, freuten wir uns und küssten uns."

Wachschutz überrascht die Aktivisten

Doch plötzlich werden Leipke Distel und seine Kameraden vom Wachschutz überrascht. Die jüdischen Rächer reagieren panisch und flüchten in heller Aufregung. Distel kann sich verstecken. Die Wache ruft die Polizei, doch die Beamten kommen bald zu dem Schluss, dass da wohl einfache Brotdiebe am Werk waren und ziehen wieder ab.
Zwei Männer knien auf dem Boden. Eine Bodendiele ist geöffnet.
Ein US-Leutnant (links) und ein deutscher Kriminalbeamter inspizieren die Bäckerei und das Versteck des Gifts.© US National Archives and Records Administration (Public Domain)
"Und so konnten wir die Aktion nicht wie geplant zu Ende bringen. Aber ich schätze, dass wir circa 3000 Brote mit Gift bestrichen haben. In den frühen Morgenstunden, als die Wächter nicht mehr da waren, kam ich aus meinem Versteck und verließ das Fabrikgelände durch das hintere Tor, dort, wo der Gleisanschluss ist, und traf mich mit den Kameraden am vereinbarten Treffpunkt in einem Park."
Die Brote werden am darauf folgenden Morgen planmäßig in das Gefangenenlager ausgeliefert und verteilt. Dass irgendetwas nicht stimmt, schwant den US-amerikanischen Wachmannschaften erst, als zahlreiche SS-Leute deutliche Anzeichen von Vergiftung zeigen.

Weltweites Aufsehen

"Viele der Gefangenen wurden krank. Doch als die Amerikaner merkten, dass mit dem Brot was nicht in Ordnung war, brachten sie die Kranken sofort in die Hospitäler. Und es war ein ganz schöner Rummel die nächsten zwei Tage. Alle Militärhospitäler waren voll belegt und sie pumpten auf Hochtouren die Mägen aus."
Die Aktion sorgt weltweit für Aufsehen – selbst die New York Times berichtet: 2.283 Nazis seien durch einen mysteriösen Anschlag vergiftet worden. Die Täter werden nie gefunden. So gerät die Aktion schon bald in Vergessenheit – auch wenn noch Jahrzehnte später Gerüchte kursieren über angebliche Massengräber in Nürnberg mit Hunderten vergifteter SS-Männer.
Tatsächlich aber fordert das Attentat nach heutigem Erkenntnisstand kein einziges Todesopfer. Die Nakam-Leute haben das Arsen wohl zu schwach dosiert. Wenn es für die jüdischen Rächer überhaupt etwas zu bedauern gibt, dann das:
"Das Ziel der Aktion in Nürnberg war es, der Welt zu beweisen, dass wir Juden nicht bereit waren, stillschweigend all das Morden und Töten hinzunehmen. All das, was uns die Deutschen angetan haben."
Leipke Distel und die anderen jüdischen Rächer setzen sich nach Palästina ab und helfen mit, den Staat Israel aufzubauen. Erst vor etwas mehr als 20 Jahren brechen Leipke Distel und Joseph Harmatz ihr Schweigen und erzählen erstmals offen von der Nürnberger Nakam-Aktion.

Staatsanwaltschaft leitet Verfahren ein

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth leitet daraufhin prompt ein Verfahren wegen versuchten Mordes gegen die beiden ein, was für Empörung und negative Schlagzeilen sorgt – insbesondere in den USA und Israel. Die Ermittlungen werden schließlich wieder eingestellt. Aufgrund des persönlichen Schicksals von Distel und Harmatz hätten – Zitat – "außergewöhnliche Umstände" und damit ein "Sonderfall" vorgelegen, so die deutschen Justizbeamten. Zu bereuen habe er ohnehin nichts, betont Leipke Distel:
"Gelegentlich werde ich gefragt: Wo war eure Moral? Habt ihr moralisch gehandelt? Und ich antworte immer darauf: Wir haben moralisch gehandelt, weil die Juden ein Recht hatten, sich an den Deutschen zu rächen."
So sieht das übrigens auch der renommierte israelische Historiker und zeitweilige Leiter der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem, Israel Gutman. Für ihn ist klar: "Die Nakam-Aktivisten erfüllten das Vermächtnis der in den Gaskammern Getöteten."
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