Die großen Fragen des Burnout-Zeitalters

05.01.2011
Wieso fühlen wir uns ständig gehetzt, obwohl wir mehr Zeit haben müssten als je zuvor in der Geschichte der Menschheit? Und liegt unsere Unfähigkeit zur Muße womöglich an der Angst vor dem Tod? Das sind gewichtige Themen, denen sich Ulrich Schnabel leider etwas oberflächlich und abgehetzt widmet.
Die Wachstumsgesellschaft, die Gesellschaft des Immermehr, Immerschneller und Immerbesser, frisst sich selbst auf, denn Nahrung fürs Denken bekommt der Mensch nur durch Muße. So lautet die Grundthese des "Zeit"-Redakteurs Ulrich Schnabel, die er in seinem Buch "Muße. Vom Glück des Nichtstuns" entfaltet.

Nun ist die Behauptung, dass Muße Kreativität fördert, alles andere als neu, und Ratgeber, die zu genussvollem Nichtstun anleiten, gibt es zuhauf. Doch Schnabel belässt es nicht bei oberflächlichen Tipps, er will das Problem bei der Wurzel packen: Warum fällt uns der Müßiggang heute so schwer? Und das, obwohl doch, wie der Autor vor dem Hintergrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zu zeigen versucht, die Muße einen unabweisbaren Wert sowohl fürs Denken als auch für Gesundheit und Wohlbefinden hat?

Dass allerdings, wer den "Wert" des Nichtstuns herauszuarbeiten versucht, schnell in eine Zwickmühe gerät, merkt Schnabel selbst an einer Stelle an: Schließlich zeichnet sich die Muße ja vor allem durch ihre Zweckfreiheit aus. Sie in einen Verwertungszusammenhang zu überführen, heißt folglich, sie ad absurdum zu führen.

Dieser Widerspruch wiegt in Schnabels Buch umso schwerer, als der Autor ausgerechnet die Neurowissenschaften heranzieht, um die Relevanz der Muße zu beweisen; eine Disziplin, die sich dem Optimierungsgedanken der Leistungsgesellschaft durch ihre positivistische Herangehensweise verschrieben hat. "Das Betriebssystem unseres Denkens": So betitelt Schnabel eines seiner Kapitel, in dem es darum geht, mit welchen Tricks man sein Arbeitsgedächtnis "trainieren" kann.

Doch glücklicherweise belässt es der Autor, der sein voriges Buch der "Vermessung des Glaubens" widmete, keineswegs bei der Vermessung der Muße. Inspirierend werden seine Überlegungen vor allem dann, wenn er sich der unabweislichen Transzendenz der Muße zuwendet, ohne dabei ins verkitscht Spirituelle abzugleiten – etwa in seinem Kapitel über die Meditation. Der Begriff "Meditation" kommt aus dem Sanskrit und bedeutet übersetzt: "Pflege einer Gewohnheit"; der entsprechende tibetische Ausdruck "gom" meint: "vertraut werden". Ein tiefes, sinnliches Einlassen auf die Dinge ist es, das uns immer weniger gelingen will – und gerade darin, dass Ulrich Schnabel eindringlich nach den gesellschaftlichen Gründen für dieses Defizit fragt, liegt die Stärke seines Buches.

Wieso fühlen wir uns ständig gehetzt, obwohl wir doch, dank der Automatisierung von Arbeitsprozessen, so viel Zeit haben müssten wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit? Inwiefern hängt die innere Unruhe, die uns jede Vertiefung verunmöglicht, mit dem Wirtschaftssystem unserer Gesellschaft zusammen? Und: Liegt unsere Unfähigkeit zur Muße womöglich nicht zuletzt auch darin begründet, dass wir sie unbewusst mit dem Tod assoziieren? Das sind die großen Fragen des Burnout-Zeitalters. Schade allein ist, dass der Autor sich ihnen nicht noch sinnlicher, tiefer gewidmet hat, sondern letztlich doch den Anforderungen der Beschleunigungsgesellschaft zu genügen bemüht ist – etwa, indem er am Ende eine Kurzzusammenfassung "für Eilige" anfügt. Mehr Muße und weniger Optimierungsdenken hätten Schnabels Buch gut getan.

Besprochen von Svenja Flaßpöhler

Ulrich Schnabel: Muße. Vom Glück des Nichtstuns
Blessing Verlag, München 2010
288 Seiten, 19,95 Euro