Die große Schande

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 12.01.2013
Es ist ein Bericht der Schande, den die EU-Kommission in dieser Woche in Brüssel veröffentlicht hat. 26 Millionen Menschen sind in den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union arbeitslos. Der immer noch reichste Kontinent dieser Welt lässt mehr als zehn Prozent seiner Bewohner ins soziale Abseits rutschen.
Das sind zunächst nur abstrakte statistische Zahlen und Durchschnittswerte. Sie verbergen, dass es daneben eine nicht erfasste Arbeitslosigkeit gibt von Leuten, die schon gar nicht mehr nach Arbeit suchen. Sie verdecken, dass hinter jedem Arbeitslosen eine Familie steht, die diesen Menschen mitversorgen muss, oder die der Betreffende nicht mehr versorgen kann. Und - das hat die Brüsseler Statistik allerdings ziemlich klar aufgeschlüsselt - die Arbeitslosigkeit trifft die Krisenländer in Südeuropa viel dramatischer als den Norden. In Spanien und Griechenland ist mehr als ein Viertel der Erwerbsfähigen ohne Arbeit, bei den jungen Leuten ist es mehr als die Hälfte.

Allein dieser Aspekt ist in seiner Dramatik überhaupt nicht zu unterschätzen. In der Phase nach der Schulzeit, in der die Weichen gestellt werden, was Autonomie, Teilhabe und Chancen angeht - die Grundbedingungen für ein glückliches und geglücktes Leben, da werden die jungen Menschen in Scharen in die Perspektivlosigkeit entlassen. Der verpasste Start ins Erwachsenenleben wird für die meisten zu einer lebenslangen Hypothek werden. Das Versprechen der Europäischen Union von einem Großraum der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstands gilt für sie nicht.

Nun sind die Verantwortlichen für diesen Skandal in erster Linie in den Europäischen Hauptstädten zu suchen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist eine Folge des Versagens der nationalen Regierungen. Sie ist nicht von der Supranationalen Organisation EU in Brüssel, Straßburg und Luxemburg verursacht worden.

Am Ende ist die Frage auch zweitrangig, wer an dieser schlimmen Entwicklung schuld ist. Sie soll nur aufhören. Nein, sie muss aufhören. Denn sie gefährdet nicht nur den Zusammenhalt der Europäischen Union, sie gefährdet die Demokratie als grundlegendes gemeinsames Organisationsprinzip und Wertesystem der Gesellschaften.

In Westeuropa ist die Demokratie nach 1945 allein deshalb zu einem Erfolgsmodell geworden, weil sie mit einer langen Phase des wachsenden Wohlstands einherging, maßgeblich bewirkt durch das gescheite Konzept des Marshall-Plans. In den osteuropäischen Gesellschaften nach 1989 war das schon anders. Dort hieß Demokratie zunächst Zusammenbruch des Bestehenden mit der Hoffnung auf bessere Zeiten, wenn die Talsohle durchschritten ist. Die jetzige Dauerkrise wird das Vertrauen in die Demokratie gewiss nicht fördern. Sie wird autoritäre und populistische Konzepte stärken, wonach an dem ganzen Elend sowieso die anderen schuld sind. Die EU als Sündenbock, man kennt das.

Egal, wie die Europäischen Regierungen die Schuldenkrise angehen, den Euro retten und den gemeinsamen Wirtschaftsraum sichern: Alle Schritte sollten daran gemessen werden, ob sie geeignet sind, die sozialen Spannungen in der EU abzubauen. Das muss Priorität haben, auch wenn es die reichen Gesellschaften Geld kostet. Es braucht große, sichtbare Solidarleistungen der reichen Gesellschaften - seien es Investitionen gerade in den verarmten Gebieten, seien es Sprach- und Ausbildungsprogramme dort, wo die Wirtschaft boomt.

Nicht warten, bis die Menschen vor der Not fliehen und sich dann mehr oder weniger geduldet in der Fremde durchschlagen. Sondern aktiv werden und länderübergreifende Arbeitsvermittlung in die EU-Regionen organisieren, die Leute suchen und Arbeitsplätze nicht besetzen können. Da ist sicher noch ganz viel Luft nach oben.

Es braucht starke, öffentliche und auch emphatische Signale: Wir sind eine Solidargemeinschaft; wir, denen es gut geht helfen Euch, wo wir können. Nur wenn die vom sozialen Abstieg bedrohten Menschen in den Krisenländern erleben, dass die Europäische Union ihnen auch in schlimmen Zeiten beisteht und hilft, nur dann wird sich diese EU zusammenhalten lassen. Und nur dann wird sie das Image los, welches ihre Existenz gefährden kann: Dass sie sich nur um die Bankeinlagen der reichen Gesellschaften sorgt und ansonsten nur bei schönem Wetter funktioniert.


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