Die Gretchenfrage

22.10.2007
Ein Band von neun Studien, Reflexionen und "Meditationen" hat Ernst Tugendhat mit "Anthropologie statt Metaphysik" vorgelegt. Der jüdisch-deutsche Grundlagenphilosoph schreibt erstmals sehr lebendig über den Tod. Und gibt seine bisherige Widerspenstigkeit gegen Religion auf - und damit den anthropologischen Hochmut des Philosophierenden. In Tugendhats Buch mischen sich Naivität und Neugier.
Philosophie - so lernten wir einst in der Oberstufe des Gymnasiums - sei im wesentlichen nichts anderes als die vorurteilsfreie wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Selbstverständlichen. Alle Disziplinen der Philosophie - von der Erkenntnistheorie bis zur Metaphysik - würden lediglich helfen wollen, dem Philosophierenden, dem suchenden und fragenden Menschen, ein System an die Hand zu geben, um die Grundfrage der menschlichen Existenz neu und neu und immer wieder neu zu bedenken.

Bei Kant lauteten die drei elementaren Fragen, die grundsätzlich allem Philosophieren zu Grunde liegen: die erkenntnistheoretische Frage: Was kann ich wissen?; die ethische Frage: Was soll ich tun?; und die religiöse Frage: Was kann ich hoffen? Alle Antworten auf diese drei Fragen sind grundsätzlich philosophischer Art; verweisen den Philosophierenden an die Anthropologie und damit an die grundsätzlichste aller Fragen, nämlich: Was ist der Mensch?
Auch der jüdisch-deutsche Grundlagenphilosoph Ernst Tugendhat hat sich viele Male an den Versuchen beteiligt, die Probleme zu beschreiben und zu entschlüsseln. Mit einem Band von neun Studien, Reflexionen und "Meditationen" meldet sich Tugendhat nun zurück.

Hier schreibt er erstmals sehr Lebendiges über den Tod; sucht gleichzeitig gelassen einen Altersruhesitz, überlegt ernsthaft, wie er seine Defizite in Soziologie und Geschichte noch decken könne. Und - last but not least - gibt er an einer zentralen Stelle des Denkens und Lebens seine bisherige Widerspenstigkeit gegen Religion, gegen Offenbarungsreligionen im besonderen auf - und damit den anthropologischen Hochmut des Philosophierenden. Er schreibt in einer Mischung aus Naivität und Neugier:

"Auf Gretchens Frage 'Wie hast du’s mit der Religion?' ist Faust ausgewichen. Wie muss man die Dinge sehen, wenn man weder ausweichen will noch naiv ist? Ich glaube, dass einerseits das Bedürfnis nach einem Götterglauben nicht nur ein kulturelles, sondern ein anthropologisches, in der Struktur des menschlichen Seins begründetes Phänomen ist, dass es aber für einen heutigen Menschen, wenn er sich nichts vormacht, unmöglich ist, diesem Bedürfnis nachzugeben. Wenn das stimmt, befinden wir uns bezüglich der Religion in einem Widerspruch zwischen Bedürfnis und Realisierbarkeit. Solche Widersprüche sind logisch gesehen harmlos, und sie sind im menschlichen Leben etwas ziemlich Normales."

Ist das die Sprache eines respekt- und rücksichtslosen Allrounddenkers, der hart zu kritisieren wusste und weiß, aber kaum etwas zu würdigen? Und von dem Tugendhats Kollege und Freund Jürgen Habermas einmal gesagt hat: "Du kritisierst nicht einfach, du versuchst zu töten." Oder ist das die Furcht eines 76-Jährigen vor dem endgültigen Abschied?

Sucht Tugendhat deshalb just in diesen Wochen und Monaten ein letztes "Exil" in Südamerika, weil er dort besser den Erinnerungen an seine "europäischen Fehler" entgehen. Und die waren teilweise starker Toback: Von dem langjährigen Ignorieren der Naziideologie seines Lehrers Martin Heidegger bis zur Vorträgen, die den ersten Golfkrieg guthießen.

Was an dem kurzweilig-kritischen Geplänkel dieses Essaybandes aber auch lockt und besticht, das ist der Eindruck, dass hier ein jüdischer, deutscher Ver- und Getriebener rastlos gegen deutschen Tiefsinn angeht und doch sich an den Bildern solchen Tiefsinns nicht satt sehen kann - Tübingen und Heidelberg sind weder von Venezuela noch Chile zu schlagen. Und so wird er, der nie direkte Antisemitismuserfahrung machen oder unbehauste Einsamkeit des Exil erleben musste, wie der sogenannte "ewig heimatlose Jude" auch weiterhin ein ruheloses Leben durchwandern und auskosten - fasziniert von sich selbst!


Rezensiert von Jochen R. Klicker


Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik
Verlag C. H. Beck, München 2007, 208 Seiten, 19,90 Euro