Die Gräuel des Krieges

13.01.2011
Eine greise Erzählerin erinnert sich an ihre Jugend im Sommer 1914: Der belgische Autor Erwin Mortier schildert den Ersten Weltkrieg aus weiblicher Perspektive.
Die weit über 90-jährige Helena verbringt ihre Tage im Bett. Sie liest in alten Tagebüchern, schreibt Erinnerungen an ihre behütete Kindheit und Jugend in Flandern auf, und sie erzählt Rachida, der marokkanischen Pflegerin, wie es war, in jenem Sommer 1914, als die wohl situierte Familie wie immer die Ferien auf dem Anwesen des Onkels in der französischen Provinz verlebte.

Es sind unbeschwerte Wochen, die auch nicht überschattet werden durch die Nachricht von der Ermordung des habsburgischen Thronfolgers in Sarajewo. Keiner ahnt im Geringsten, welche Katastrophe aus diesem Ereignis erwachsen würde. Bis die ersten Flugzeuge ihre tödliche Fracht über dem Dorf abwerfen. Helena lernt einen britischen Offizier und Fotografen kennen, verliebt sich in ihn und erlebt mit ihm die Jahre des Krieges an der Front.

In seinem fünften Roman schildert der 1965 geborene belgische Autor Erwin Mortier den Ersten Weltkrieg aus weiblicher Perspektive. Seit jeher erprobte er fremde Blickwinkel. Schon in seinem Erstling "Marcel" (2001) dachte er sich in ein heranwachsendes Kind hinein, das die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen erlebte. Faszinierend, wie er sich in "Götterschlaf" in eine greise Erzählerin einfühlt und ihr als jungem Mädchen jener Jahre eine Stimme gibt. Als sei er selbst dabei gewesen, führt er tief in den Alltag, in die Gräuel des Krieges hinein.

Mit dem subtilen Spürsinn eines gelernten Kunsthistorikers entfaltet er eindringliche Tableaus, die mit einer Fülle psychologisch fein gezeichneter Figuren bevölkert werden. Da ist Helenas Mutter, die nicht nur körperlich unter dem Korsett der Damenmode der Jahrhundertwende leidet, der Vater und der Onkel, die sich um das Wohlergehen der Ihren sorgen, doch niemals ihre ständischen Privilegien aufgeben würden oder der Bruder, der seine Homosexualität nur im Geheimen auslebt.

Humor hat der Autor auch. Wenn die Mutter den schriftstellerischen Flausen ihrer Heranwachsenden mit bissigem Sarkasmus begegnet: "Warum", so fragt sie, "kann ich mich nicht normal streiten mit meiner Tochter? Über Blumen, Mode, Theater. Statt über …. Konsonanten… Mach doch mal einen Punkt. Ein Satz ist keine Wurst."

Allerdings steht dem Autor manchmal sein literarischer Ehrgeiz im Wege. Vor allem in den essayistischen Passagen, in den Reflexionen über Zeit und Erinnerung wird die Erzählung überlagert von einem Dekor an etwas angestrengten Sprachbildern. Gerade zu Beginn muss man sich lesend durch ein dichtes Metapherngestrüpp arbeiten.

Doch im Fortgang scheint sich der Autor freizuschreiben und entwirft mit großer Lakonie Szenen von eindrucksvoller Wucht, wenn er die Schützengräben schildert, Drahtverhaue, Tote und Hospitäler, die überlebenden Opfer, das Dahinvegetieren der Versehrten, Verstümmelten. Mortiers zwar nicht neues, aber darum nicht weniger gültiges Resümee seines bestechenden Romans: Kriege unterscheiden sich nicht. "Ob wir nun im Kettenhemd sterben oder im Lichtblitz einer Bombe voll tödlicher Strahlung, das Vokabular bleibt sich gleich: Leere, Blutspuren und dreckiges Verbandszeug."

Besprochen von Edelgard Abenstein

Erwin Mortier: Götterschlaf
Aus dem Niederländischen übersetzt von Christiane Kuby
Dumont Verlag, Köln 2010
367 Seiten, 22,95 Euro