"Die gesetzliche Regelung macht uns Bauchschmerzen"

Moderation: Dieter Kassel · 17.06.2008
Eine gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung würde die Arbeit der Ärzte erschweren, sagt der Professor für Neurowissenschaften an der Universität Oldenburg und leitende Oberarzt Dr. Andreas Zieger. Schon heute sei der Wille des Patienten verbindliche Grundlage ärztlichen Handelns. Zieger plädiert für eine freiwillige Willenserklärung und fordert mehr Zeit und Personal, um "den wirklichen Willen des Patienten zu ermitteln".
Dieter Kassel: Am Telefon begrüße ich jetzt Dr. Andreas Zieger. Er ist Professor für Neurowissenschaften an der Universität Oldenburg, und er ist der leitende Oberarzt der Station für Schwerstschädelhirngeschädigte am Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg. Schönen guten Morgen, Herr Zieger!

Andreas Zieger: Guten Morgen!

Kassel: Wenn es, wie auch immer das am Ende aussieht, bald ein Gesetz gebe, das eindeutig regelt, wie eine Patientenverfügung auszusehen hat, was da drinstehen darf und muss und wie verbindlich das für einen Arzt ist, würde das Ihre Arbeit erleichtern?

Zieger: Das würde unsere Arbeit nicht erleichtern. Der letzte Deutsche Ärztetag hat sich ja mehrheitlich gegen solche gesetzlichen Regelungen entschieden, weil der Wille des Patienten schon heute grundsätzlich verbindlich ist und Grundlage ärztlichen Handelns. Wir dürfen keine Behandlung, keinen Eingriff ohne Einwilligung des Patienten machen und auch natürlich nicht ohne medizinische Integration.

Kassel: Aber gibt es nicht trotzdem noch diese Grauzone, es wurde ja vorhin erwähnt, es gibt einerseits das Urteil des Bundesgerichtshofes, das das sagt, was Sie gerade auch noch mal erklärt haben. Andererseits, je nachdem, welchen Teilen der Patientenverfügung Sie folgen, kann es ja eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung geben?

Zieger: Es ist heute schon so, dass das ärztliche Fürsorgeprinzip, was ja dadurch nicht außer Kraft gesetzt wäre, bei 70 Prozent der Patienten schon Therapiebegrenzungen mit einschließt. Das heißt, das, was in der Öffentlichkeit dargestellt wird als Schreckgespenst der High-Tech-Medizin, ist in der Realität nach meiner Kenntnis nicht vorhanden. Vielmehr sind wir daran interessiert, in den Behandlungsteams auf den Intensivstationen und den Schwerkrankenstationen auch in der Palliativmedizin den wirklichen Willen des Patienten zu ermitteln. Dabei kann eine Willenserklärung - das, finde ich, ist ein besserer Begriff als eine Patientenverfügung, weil auch Ärzte nicht verfügt werden wollen -, eine Willenserklärung des Patienten ist auch dafür Grundlage: für das Gespräch mit dem dann nicht einwilligungsfähigen Patienten und den Angehörigen. Und nur in Konfliktfällen würden wir empfehlen, dass dann auch das Vormundschaftsgericht angefragt wird. Alle anderen Situationen sind eigentlich geregelt.

Kassel: Aber bleiben wir noch mal dabei, dass Sie sich nicht wohlfühlen, so möchte ich es mal vorsichtig nennen mit dem Begriff Verfügung. Wir haben uns ja an das Wort Patientenverfügung gewöhnt, aber was Sie sagen, ist ja richtig. Verfügung ist ein sehr starker Begriff. Eine Verfügung duldet ja eigentlich auch keinen Widerspruch. Aber ist es nicht das, worum es geht? Denn viele Menschen haben ja Angst davor, dass eben am Ende dann jemand anders der Arzt, das Krankenhaus über sie verfügt?

Zieger: Diese Ängste sind entstanden durch Erfahrungen und auch Berichte in den Medien über die angeblichen Übergriffe in der Medizin. Studien in den USA und Deutschland haben gezeigt, dass die Situation durch Patientenverfügung nicht verbessert wird, sondern eventuell Patienten sogar in ihrer Autonomie geschädigt werden, in ihrem Selbstbestimmungsrecht. Ganz entscheidend ist auch, dass es Studien gibt über Patienten, die Intensivstationen hinter sich haben, meinetwegen nach einer Herzoperation, gerade auch ältere Patienten oder nach einer Nierentransplantation - und dass diese Patienten diese High-Tech-Medizin keineswegs als beängstigend oder bedrohend oder willenseinschränkend erlebt haben, sondern als Schutz und als fürsorglich.

Kassel: Aber ist es aus Sicht eines Arztes nicht auch deshalb eigentlich angenehm, wenn es eine Patientenverfügung, von der ziemlich genau definiert ist, wie gültig sie ist, gibt? Denn letzten Endes haben Sie ja ständig auch sehr heikle Entscheidungen zu fällen in beide Richtungen, wenn Sie zum Beispiel dazu tendieren, Apparate abzuschalten, aus welchen Gründen auch immer. Dann können Sie doch auch froh sein, wenn zum Beispiel auch mal das Gegenteil der Fall ist, wenn Sie eine Verfügung haben, in der steht: Bis der Tod eintritt, möchte ich, dass alles versucht wird, was nur geht - ob es medizinisch Sinn macht oder nicht.

Zieger: Je deutlicher und eindeutiger der Patientenwille erklärt ist, desto leichter können wir in Handlungssituationen damit umgehen und deswegen brauchen wir auch nicht prinzipiell gegen Patientenverfügungen zu sein. Die gesetzliche Regelung ist das, was uns Bauchschmerzen macht. Sondern wir können den Willen des Patienten anwenden auf die Situation und sind auch gehalten, ihn anzuwenden. Und wenn es schon darum geht, dass die Verbindlichkeit unterstützt werden soll, dann würden wir eher empfehlen: Vorsorgevollmachten. Weil dann der Vertreter dieses Patienten, der da nicht mehr einwilligungsfähig ist, genau diese Kommunikation, das Aushandeln der Situation besprechen kann.

Kassel: Aber ist das in der Realität, in unserer heutigen Gesellschaft, nicht schon deshalb eine schwierige Angelegenheit, weil es immer mehr Menschen gibt und Kranke, das sind ja oft auch alte Menschen, die einfach gar keine solchen Vertrauenspersonen haben?

Zieger: Ja, das ist ein großes Problem. Umso wichtiger ist es, dass man die Bevölkerung nicht in falscher Sicherheit wiegt, dass Patientenverfügungen oder die gesetzlichen Regelungen dann das Gelbe vom Ei wären, sondern dass man weiterhin dafür sorgt, dass sich die Bedingungen, unter denen die Kommunikation und auch die Erforschung des natürlichen, des mutmaßlichen, des erklärten Willens des Patienten stattfinden können. Das braucht nämlich Zeit für Gespräche, Zeit für Nachforschungen. Das braucht Personal, das braucht Regelungen in den Betrieben, dass das bereitgestellt wird. Die Rahmenbedingungen müssen verbessert werden, weil natürlich auch die Umsetzung der Patientenautonomie immer ein sozialer Vorgang ist.

Kassel: Das Ganze bewegt natürlich im Moment die Menschen auch wieder wegen dieser geplanten Gesetze - ob die nun wirklich verabschiedet werden, wie die aussehen, das ist noch überhaupt nicht klar, wird wahrscheinlich auch vor der Sommerpause so endgültig nicht geklärt werden. Aber es gibt doch in dieser Woche einen großen "Spiegel"-Artikel zu diesem Thema, wo auch die Angst erwähnt wird, Ärzte könnten bei einem Patienten, der eine eindeutig gültige Patientenverfügung hat, die eindeutig sagt "keinen lebenserhaltenden Maßnahmen", wirklich nichts, was nicht extrem sinnvoll ist - ich formuliere das mal sehr einfach, aber so liest sich das für mich im "Spiegel" - könnten die Lust verlieren, sich da wirklich zu engagieren, und könnten sagen, das ist ja der Wille dieses Menschen, wenn es soweit ist, möglichst schnell zu sterben. Da muss ich jetzt nicht alles versuchen, was ich vielleicht versuchen könnte. Ist das nicht eine unglaubliche Unterstellung?

Zieger: Die Ärzte sind sensibel geworden, was gesetzliche Regelungen betrifft, die meistens ja unsere Handlungsautonomie - die wir auch brauchen, wenn wir das Fürsorgeprinzip wahrnehmen sollen - einschränken und die meistens damit einhergehen, dass sich unsere konkreten Bedingungen, die Interaktion, die Kommunikation mit dem Patienten verändern. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Arzt-Patienten-Beziehung diese kleine soziale Mikrosituation, ist ganz entscheidend auch dafür, dass Patientenautonomie, das heißt der Wille des Patienten, in den entsprechenden Behandlungssituationen umgesetzt werden kann. Gesetzliche Regelungen haben aufgezeigt, dass das eher eingeschränkt wird und die Wirksamkeit des Patientenwillens eben nicht entfaltet wird.

Kassel: Werden wir mal moralisch, es soll eine moralische Frage viel einfacher auf den Punkt bringen: Was ich mich immer frage, Religion auf der einen Seite, Gesetze auf der anderen, Debatten über moderne medizinische Verfahren und die Frage, ob jeder immer Hundert werden muss, hin oder her - haben Sie nicht wie alle Ihre Kollegen auch irgendwann mal einen Eid geschworen, in dem Sie wirklich geschworen haben, dass niemand sterben wird in Ihrer Nähe, solange Sie das verhindern können? Ist das nicht wichtiger als jedes Gesetz und jede Patientenverfügung?

Zieger: Nein, es setzt sich heute immer mehr auch in der Akutmedizin und in der Apparatemedizin durch, dass es die beste Antwort ist, dem Willen des Patienten zu folgen, der nun sterbenskrank ist oder sterben möchte, dass wir einen palliativmedizinischen Modus haben. Wir haben alle Möglichkeiten, auch wenn die Palliativmedizin noch nicht…

Kassel: …alle wissen nicht, was Palliativmedizin ist: Sterbebegleitung, medizinische Sterbebegleitung…

Zieger: …Sterbebegleitung. Und diese Palliativmedizin behandelt nicht mehr kausal mit Eingriffen, sondern ganz entlang den Symptomen der Patienten. Das heißt, die Beschwerden werden gelindert, ohne dass Heilung eintreten kann, wie es zum Beispiel im Endstadium einer Krebserkrankung sein kann. Darin liegt eigentlich die beste Antwort, die wir haben in der Medizin gegen alle Fantasien und auch Wünsche, in Würde sterben zu können – beziehungsweise es gibt ja sogar Versuche mehr in Richtung aktiver Euthanasie, Ärzte zum Töten von Patienten einzusetzen. Und das verstößt zutiefst gegen unser Berufsethos, das wird es in Deutschland mit den Ärzten nicht geben.

Kassel: Vielen Dank! Deutliche Worte von und wenig Freude auf neue Gesetze bei Andreas Zieger. Er ist der leitende Oberarzt der Station für Schwerstschädelhirngeschädigte am Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg und an der dortigen Universität auch Professor für Neurowissenschaften. Ich danke Ihnen!

Zieger: Danke auch!