Die Geschichte eines Zerrissenen

07.08.2009
"Der Lärm in den Straßen hatte schon begonnen und lockte mich ins Freie: dieses leere Zimmer, dessen Boden bei jedem Schritt auf und nieder schwankte, war wie ein feuchter, unheimlicher Sarg."
Gleich zu Anfang wird klar, dass sich bei diesem Hörbuch zwei ganz große, zwei Olympier ihrer Zunft treffen, ein literarischer Debütant, der im Spiel mit Leitmotiven und Stimmungen sogleich auf der Höhe seines Könnens einsetzt, Knut Hamsun, und der österreichische Schauspieler Oskar Werner, der seinen Kultstatus nicht nur der Klangschönheit seiner Stimme verdankt. Wie er hier das Wort "Sarg" ausspricht, so genussvoll-schaurig - da ahnt man schon, auf welchen Weg die Reise durch das Innere des Helden führen wird.

"Ich erhob mich und suchte nach einem Bündel in der Ecke, ob noch etwas zum Frühstück darin wäre, fand aber nichts, und kehrte wieder zum Fenster zurück. Wie gleichförmig und regelmäßig war es die ganze Zeit mit mir abwärts gegangen. Ich stand zuletzt so sonderbar entblößt von allem möglichen da, ich hatte nicht einmal mehr einen Kamm – hatte kein Buch mehr, um darin zu lesen."

Wie sein Autor, der sich zu Beginn seiner Karriere in Oslo mühsam mit dem Schreiben von kleinen Feuilletons durchschlug, lebt der Ich-Erzähler in extremer Armut. Ab und zu verfasst der junge Mann, der eigentlich Schriftsteller sein möchte, einen Artikel für eine der Tageszeitungen Oslos. Wenn er Glück hat, bringen ihm seine Texte ein paar Kronen ein, oft aber werden sie gar nicht genommen. Sie sind zu fiebrig, zu heftig, zu wirr; seine Einfälle, die ihm fabelhaft vorkommen, verfliegen, bevor er sie festzuhalten vermag.

"Ein Schwarm loser Gedanken schwirrt in meinem Kopf umher, und die Stimmung des sinkenden Tages macht mich missmutig und sentimental. Ich fühle mich wie ein kriechendes Tier im Untergang, von der Zerstörung ergriffen, mitten in dieser schlafbereiten Allwelt."

Knut Hamsuns "Hunger" ist ein hartes Buch, ein emotionsgeladener Salto mortale gewissermaßen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Selbstmitleid und Depression, Euphorie und Hungervisionen. Wie Oskar Werner diesen raschen Wechsel aus kühler Selbstanalyse und exaltiertem Wahn liest, ist ohne Beispiel. Legendär nannte man seine Sprechkunst, mit der er sonst die großen Klassiker gestaltete. Hier durchmisst er, dem in seinem Leben das Selbstzerstörerische nicht fremd war, brillant die Abgründe eines Menschen, der sich selbst etwas vorspielt.

"Herrgott, wie schwarz es nun für mich aussah. Ich weinte nicht, ich war zu müde. Was hatte ich eigentlich erhofft? Den ganzen Tag war ich um einer Krone willen herumgelaufen, die mich doch nur um einige Stunden länger am Leben erhalten hätte. War es nicht im Grunde gleichgültig, ob das Unumgängliche einen Tag früher oder später geschah? Nun sollte ich sterben"."

Satz für Satz wirft Oskar Werner sich in die Ausweichmanöver dieses gebrochenen Helden, der zu stolz ist, um sich zu seiner Scham zu bekennen. Bravourös gestaltet er dessen inneren Monolog als Verwirrspiel der Gefühle. Mal hebt er die Stimme an wie zu einem eigensinnigen Höhenflug, um sie im nächsten Moment verzagt sinken zu lassen. Auch der Wechsel der Tempi folgt einem genauen Plan. Absatzweise liest er, ohne Atem zu holen, um gleich darauf einzelne Worte inmitten von Pausen zu stellen.

""Ich war äußerst verwirrt, wusste nicht, wie ich gehen oder stehen sollte; dieses Geschöpf stülpte mein ganzes Inneres um. Ich war hingerissen, wunderbar froh. Mir war, als ging ich vor Glück herrlich zugrunde."

Die Aufnahme stammt von 1961, dem Jahr, als Oskar Werner in Francois Truffauts Film "Jules et Jim" die Rolle des romantischen Intellektuellen spielte, die ihn endgültig weltberühmt machte. Wie diesen Film über eine tragische Menage à Trois umflort auch die Lesung von Knut Hamsuns Roman eine poetische Melancholie. Wehmütig-sanft wird Oskar Werners Stimme, wenn die Liebe in das Leben des zerrissenen jungen Mannes tritt. Dann wird Hamsuns Sprachmusik mit allem Wienerischen Schmelz intoniert, so dass man nie recht weiß, ob die angebetete Frau real oder doch nur eine Phantasmagorie ist. Egal, sicher jedenfalls ist: nach diesem Ton, nach dieser Stimme könnte man nicht nur hungrig, man könnte süchtig werden

"Ich sage dir, wenn du wirklich bist, das letzte Wort im Leben und im Tode, ich sage dir Lebewohl. Und dann schweige ich und wende dir den Rücken und gehe meines Weges. Stille."

Besprochen von Edelgard Abenstein

Knut Hamsun: Hunger
Gelesen von Oskar Werner
Hörbuch Hamburg, 2009
2 CDs, 157 Minuten, 19,95 Euro