Geschichte des Neoliberalismus

Ein Gespenst geht um in der Welt

59:54 Minuten
Eine Tasse mit dem der Illustration der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher - im Hintergrund ist die britische Flagge zu sehen.
Die britischen Premierministerin Margaret Thatcher verhalf dem Neoliberalismus zum Durchbruch und beendete den Wohlfahrtsstaat in Großbritannien. © picture alliance / AP / Jon Super
Von Kristin Langen · 28.12.2021
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Spätestens seit der Finanzkrise ist der Neoliberalismus zum Kampfbegriff geworden, mit dem wirtschaftliche und politische Fehlentwicklungen gebrandmarkt werden. Als er in den späten 1930er-Jahren entstand, sollte er totalitären Systemen entgegenwirken.

Neoliberalismus gleich Kapitalismus?

Januar 2021, Berlin-Moabit: Auf dem Carl-von-Ossietzky Platz haben sich etwa hundert Menschen für eine Demonstration versammelt. Sie wollen ihren Unmut gegen die Corona-Politik äußern. Neoliberal sei diese. „Ich gehe gegen Neoliberalismus auf die Straße, weil es für mich ein kapitalistisches System ist und eine ideologische Denkstruktur, die den Profit von großen wirtschaftlichen Unternehmen über das Wohl von Menschen stellt“, sagt einer der Demonstranten. Außerdem stehe Neoliberalismus „für eine Individualisierung und Privatisierung, für mehr Polizei, für mehr Militär“ und erhalte damit „kapitalistische, patriarchale und rassistische Strukturen“ tagtäglich aufrecht. Darunter würden alle leiden.
„Als neoliberal wird ja alles – in Anführungsstrichen – kritisiert, was Vorteile von Märkten betont, oder als neoliberal werden Dinge bezeichnet, die eigentlich Missstände sind und überhaupt nichts mit Marktwirtschaft zu tun haben – der Missbrauch von Marktmacht von irgendwelchen Konzernen in Schwellenländern und ähnliches mehr“, sagt Clemens Fuest. Er berät als Leiter des ifo Instituts in München die Bundesregierung. „Natürlich ist das ahistorisch und das Ganze diskreditiert natürlich den Begriff liberal und Marktwirtschaft und Wettbewerb.“
Fuest wird immer wieder als Neoliberaler bezeichnet und empfindet den Begriff als leer und nichts aussagend. „Für mich hat der historische Neoliberalismus in der Tat versucht, die Stärken des klassischen Liberalismus mitzunehmen, aber etwas zu lernen.“ Neoliberalismus im heutigen Sprachgebrauch als Kampfbegriff habe dagegen eine völlig andere Bedeutung. Es gibt politische Kampfbegriffe, die Gegner denunzieren sollen – aber die Überzeugten stehen dazu: „Kommunist!“ Da sagen überzeugte Kommunistinnen und Kommunisten: Ja, das bin ich. Aber: „Neoliberaler!“ – so will sich niemand bezeichnen lassen. Nicht einmal Friedrich Merz vom Wirtschaftsflügel der CDU.
Friedrich Merz steht vor einem grauen Hintergrund und lächelt, schau dabei an der Kamera vorbei
Auch Friedrich Merz (CDU) möchte sich selbst nicht als Neoliberaler bezeichnen.© picture alliance / dpa / Michael Kappeler
„Ich habe mich nie als Neoliberaler empfunden“, betont er auch einer Pressekonferenz im Oktober 2018. „Das ist ein politischer Kampfbegriff geworden. Anders, als er ursprünglich mal von denen, die den Liberalismus in Deutschland formuliert haben, gedacht war. Deswegen habe ich mich von diesem Begriff auch immer distanziert.“

Neoliberalismus als Kampfansage gegen Totalitarismus

Rückblick: Die Welt in den 1930er-Jahren. Hitler. Mussolini. Stalin. Franco. Salazar. Faschismus. Kommunismus. Diktaturen in fast allen europäischen Ländern. Die westlichen Demokratien sind in der Defensive.
In dieser Zeit versucht eine kleine Gruppe, eine Minderheit von Intellektuellen, den Liberalismus, der im 19. Jahrhundert eine so starke politische und gesellschaftliche Strömung war, wiederzubeleben, zur Überwindung des Totalitarismus ihrer Zeit. Sie setzen auf einen neuen, den Neo-Liberalismus.
Paris, August 1938: Auf Einladung des Ökonomie-Professors Louis Rougier treffen sich 26 Männer in Paris, im Institut International de Coopération Intellectuelle. In Sakkos und Anzügen sitzen sie in einem holzvertäfelten Raum mit langen, schweren Vorhängen vor den Fenstern.

Die Geburtsstunde des Neoliberalismus

Die Herren kommen aus verschiedenen europäischen Ländern und den USA. Krieg liegt in der Luft: Hitlerdeutschlands aggressive Politik bedroht den Weltfrieden. Die in Paris versammelten Herren sind überzeugt, dass nach der katastrophalen Weltwirtschaftskrise die Rückkehr zu einem echten Liberalismus die einzige Chance ist, um den Lebensstandard der breiten Masse zu verbessern und den Frieden zwischen den Nationen zu sichern. Dies ist die Geburtsstunde des Neoliberalismus.
„Die Idee zu dem Kolloquium, das uns heute zusammenkommen lässt, entstand unter Freunden von Walter Lippmann aus einem gemeinsamen Gefühl der überragenden, ja der entscheidenden Bedeutung seines Buches ‚The Good Society‘.“ Mit diesen Worten begrüßt der französische Philosophieprofessor Louis Rougier die Gäste. Der amerikanische Journalist Walter Lippmann greift in seinem neuen Buch „The Good Society“ Ideen auf, die zur selben Zeit auch in anderen Werken verbreitet werden. Die Pariser Zusammenkunft im Sommer 1938 ist als Walter-Lippman-Colloquium in die Geschichte eingegangen.
Walter Lippmann sitzt mit verschränkten Armen auf dem Schreibtisch und schaut zur Seite
Walter Lippmanns Buch "The Good Society" wurde zum "Geburtsanlass" für den Neoliberalismus.© imago images / Everett Collection
„Das Buch von Walter Lippmann beweist auf überzeugende Weise, dass Sozialismus und Faschismus zwei Sorten derselben Spezies sind“, schreibt dazu Louis Rougier. „Beide gehen sie von der verbreiteten Überzeugung aus, dass es möglich ist, eine gerechtere, sittlichere und wohlhabendere Gesellschaft zu schaffen, wenn die auf Privateigentum und dem Markt-Preis-Mechanismus basierende Marktwirtschaft ersetzt wird durch eine Planwirtschaft.“
Sowohl Sozialismus als auch Faschismus, so Louis Rougier, würden das Gesetz von Angebot und Nachfrage und den Besitz privater Produktionsmittel durch eine staatliche Planwirtschaft ersetzen wollen. Eine Planwirtschaft führe aber zu Zwangsarbeit und Mangel und könne einer Gesellschaft keinen hohen Lebensstandard ermöglichen. Stattdessen brauche es den Liberalismus, nicht Kollektivismus und Planwirtschaft.

Markt- statt Planwirtschaft

Der Kollektivismus ist für Rougier entscheidend, die Unterschiede zwischen Sozialismus und Faschismus spielen für ihn keine Rolle. „Weit entfernt davon, sittlicher und vernünftiger zu sein, kann eine solche Volkswirtschaft nur eine blinde, willkürliche und tyrannische Wirtschaft sein, die zu einer riesigen Verschwendung wirtschaftlicher Güter und einer Verschlechterung des Lebensstandards der Massen führt“, schreibt er. Statt Planwirtschaft brauche es Marktwirtschaft. Und die funktioniert über die Preisbildung. Der Markt-Preis-Mechanismus ist ein zentrales Thema, über das beim Lippmann-Kolloquium debattiert wird.
Katrin Hirte ist Soziologin an der Universität Linz. Sie erklärt den Kerngedanken der Ökonomen, die im Sommer 1938 in Paris dem Liberalismus neues Leben einhauchten: die Idee, dass sich Käufer und Verkäufer auf Märkten treffen und dort auf Preise reagieren. „Die Preise sind das Signal. Das kann man sich auch sehr gut vorstellen. Wenn jemand in den Medien sagen würde, morgen oder übermorgen gibt es keine Butter mehr, würden alle Butter kaufen. Die Butter wäre alle und in dem Moment, wo sie alle ist, die Nachfrage sehr intensiv und sehr hoch ist, würde dann faktisch der Anbieter der Butter reagieren können.“
Die Anbieter würden aufgrund der hohen Nachfrage die Preise der Butter erhöhen. Nicht der Staat legt nach neoliberaler Vorstellung die Preise fest, sondern der Markt bestimmt durch Angebot und Nachfrage die Preise. Mit der Knappheit steigt oder fällt der Preis. „Und dadurch wird auch entschieden, was produziert wird und wieviel produziert wird und auch für wen“, erläutert Hirte. „Das ergibt sich faktisch wie von alleine.“

Der Markt und die Bedürfnisse der Bevölkerung

Der Staat soll nicht künstlich einen niedrigen Butterpreis erzwingen, damit sich auch arme Menschen Butter leisten können. Stattdessen entscheidet der Markt, welchen Preis die Butter hat. Wenn die Nachfrage hoch ist, dann steigt auch das Angebot, und der Preis sinkt wieder. So sorgt der Markt dafür, dass ein bestimmtes Produkt vermehrt produziert wird, weil es knapp und teuer ist. So reagiere die liberale Marktwirtschaft viel besser auf die Bedürfnisse in der Bevölkerung als jede Planwirtschaft. Das ist das Credo der Ökonomen beim Walter Lippmann-Kolloquium 1938 in Paris. Wie weit dieses ökonomische Prinzip in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anwendbar ist: Diese Frage spielt in der Geburtsstunde des Neoliberalismus noch keine Rolle.
„Neoliberales Denken bedeutet aber auch die Vorstellung, die kam aber auch erst dann in den Siebzigerjahren auf, dass alles so funktionieren könnte“, so Hirte. „Auch unsere Krankenhäuser könnten so funktionieren, unsere Schulen könnten so funktionieren, die Polizei könnte so funktionieren. Das ist dann schon wirklich radikaler Neoliberalismus.“

Der Staat als Schiedsrichter

So weit gehen die Vordenker des Neoliberalismus 1938 nicht. Im Gegenteil: Der Staat hat für sie eine wichtige Funktion. Er soll garantieren, dass es einen freien Markt gibt, auf dem sich Käufer und Verkäufer überhaupt erst treffen können, um nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage Preise auszuhandeln.
Damit dieser Wettbewerb entstehen kann, muss Eigentum geschützt werden, Verträge müssen eingehalten und Währungen stabilisiert werden. All das sind Aufgaben des Staates. Auf dem Lippmann-Kolloquium unterstreicht der französische Philosoph Louis Rougier diesen Aspekt. „Das zweite Verdienst von Walter Lippmanns Buch ist es, gezeigt zu haben, dass das liberale System nicht bloß das Ergebnis einer natürlichen, spontan entstehenden Ordnung ist“, so Rougier. „Sondern, dass es ebenso das Ergebnis einer Rechtsordnung ist, die einen gesetzlichen Interventionismus des Staates voraussetzt. Das Wirtschaftsleben entfaltet sich innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der das System von Eigentum, Verträgen, Währung- und Bankwesen etabliert.“
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre hatte zu hoher Arbeitslosigkeit und sozialem Elend geführt. Ohne ausreichende Sozialversicherung waren viele Arbeitslose auf sich selbst gestellt. Die Idee des sogenannten Laissez-faire-Liberalismus, in dem der Markt ohne staatliche Regulierung zu einer erfolgreichen Gesellschaft führt, war gescheitert, und viele kehrten dem Liberalismus den Rücken.
Mehrere Personen stehen Schlange vor einem Tisch an dem ihnen die Erwerbslosenfürsorge ausgezahlt wird. Das Bild wurde nachträglich koloriert.
In der Schlange stehen für die Erwerbslosenfürsorge in den 20er-Jahren: Der freie Markt ist aus Sicht vieler gescheitert.© picture alliance / akg-images
1938 versuchen die Intellektuellen des Lippmann-Kolloquiums den Liberalismus neu – neo – zu definieren und von einem nicht-regulierten Laissez-faire-Liberalismus abzugrenzen. Dieser neue Liberalismus zeichnet sich nach Rougier und Lippmann durch ein klares staatliches Regelwerk aus, innerhalb dessen der Markt frei agieren kann. „Liberal zu sein bedeutet nicht, wie beim ‚Manchester‘-Liberalismus, Autos in alle Richtungen fahren zu lassen, wie sie wollen, was zu Staus und unendlich vielen Unfällen führen würde“, betont Rougier. „Es bedeutet nicht, wie ein ‚Planer‘ für jedes Auto seine Startzeit und seinen Weg vorzuschreiben. Vielmehr bedeutet es, einen Code de la Route vorzuschreiben und dabei anzuerkennen, dass ein solches Regelwerk im Zeitalter schneller Transportmittel nicht zwangsläufig so aussehen wird wie zur Zeit der Postkutschen.“

Staat soll Rahmenbedingungen vorgeben

Der Staat soll die Wirtschaft nicht planen, nicht aktiv in die Wirtschaft eingreifen, er soll nur den Rahmen festsetzen. Der Staat bestimmt die Verkehrsregeln, sodass alle Autos frei fahren können. Er bestimmt das Regelwerk des freien Marktes. „Das Bild, das hier immer wieder Verwendung findet, ist das Bild vom Schiedsrichter“, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. „Ein Schiedsrichter, der nicht selbst aktiv ins Spielgeschehen eingreift und auch nicht eingreifen darf natürlich, der aber eben unparteilich und geradezu stoisch eben die Regeln durchsetzt, die für die Märkte gelten sollen.“
Eine entscheidende Frage ist: Wie entstehen die Regeln? Der Schiedsrichter habe damit natürlich wenig zu tun, sagt Biebricher. „Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das neoliberale Denken. Die sich nämlich dafür sehr wenig interessieren, also inwieweit das auf demokratische Weise zustande kommt, dieses Regelwerk. Was denn überhaupt passiert, wenn die Spieler auf dem Spielfeld sagen: Die Regeln passen uns aber eigentlich gar nicht. Dann würde man bei einem normalen Spiel einfach aufhören zu spielen.“ Aber das gehe eben nicht so einfach. Der Staat soll durch Regeln und Gesetze einen Rahmen definieren, innerhalb dessen Wettbewerb funktioniert. Es ist die Ironie der Geschichte, dass mit Neoliberalismus heute oftmals Deregulierung verbunden wird, während der Ausgangsgedanke die staatliche Durchsetzung von Regeln war.

Die Mont Pelerin Society – Neustart nach 1945

Das Kolloquium in Paris ist die Geburtsstunde des Neoliberalismus. Weitere Treffen sind angesetzt. Doch dann erschüttert der Zweite Weltkrieg die Welt. Erst im April 1947, neun Jahre nach Paris, gibt es in der Schweiz ein Wiedersehen.
Dieses Mal lädt der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek ein. Hayek wird eine Schlüsselfigur in der Entwicklung des Neoliberalismus. Trotz der Wirren des Krieges hatte er viele Kontakte behalten und Netzwerke aufgebaut.
36 Wissenschaftler kommen 1947 zusammen und gründen an dem Schweizer Berg Mont Pelerin die Mont Pelerin Society. Es ist die zweite Geburt des Neoliberalismus. „Die Mont Pelerin Society versuchte, einerseits das Projekt, das mit den Worten des Lippmann-Kolloquiums begonnen hatte, fortzuführen, eine Vernetzung von internationalen liberalen Kräften und intellektuellen Denkern und auch durchaus Politikern“, sagt Thomas Biebricher. Das sei auch vor dem Hintergrund der Sorge geschehen, „dass es in der Nachkriegszeit großen Auftrieb für im weitesten Sinne sozialistische, sozialdemokratische Vorstellungen in Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt“.
Schwarzweiß Aufnahme von Friedrich von Hayek  er trägt eine Brille und schaut freundlich in die Kamera
Schlüsselfigur des Neoligeralismus: der österreichisch-britische Nationalökonom, Politologe und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek.© picture-alliance / dpa / Wirginings
Während Intellektuelle wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises oder Wilhelm Röpke bereits beim Lippmann Kolloquium 1938 dabei waren, kommen andere neu dazu – wie der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman. "Es war das erste Mal, dass ich in Übersee war, das erste Mal, dass ich Ökonomen und andere Wissenschaftler aus anderen Ländern traf“, erinnert er sich später. „Das Treffen wurde organisiert, weil zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Menschen auf der ganzen Welt, die Anhänger der Freiheit und einer klassischen liberalen Sichtweise der menschlichen Gesellschaft waren, sehr gering war und sie überall als kleine Minderheit belagert wurden.“ Das ist das Gefühl der Neoliberalen 1947. Die Mont Pelerin Society ist eine geschlossene Gesellschaft. Mitglieder werden eingeladen und vorgeschlagen.
Aus diesem Gefühl, einer wissenden Elite anzugehören, ziehen sie Kraft, erklärt die Ökonomin Katrin Hirte. „Es war eine Gesellschaft der Vordenker, so verstand man sich, wortwörtlich sogar: der besseren Bürger, die ihr Denken in die Welt tragen, die von vornherein davon überzeugt sind, dass sie das bessere Denken haben, und das bessere Denken war genau dies: Gesellschaften nach diesem Marktmechanismus zu organisieren mit der Vorstellung, dass man damit faktisch neu die Gesellschaft infizieren muss mit diesem Denken.“

Skeptische Stimmung gegenüber Wirtschaftsliberalismus

Der strategische Kopf ist Friedrich August von Hayek. Er habe etwa 20 bis 30 Jahre dafür veranschlagt, dass sich erste Erfolge einstellen, so Hirte. Dafür sollten ganz gezielt Organisationen und Netzwerke aufgebaut werden. „Man nennt das Denkfabriken, indem man gezielt an dieser Vision arbeitet, diese ausformuliert und gute Argumente findet, um eben die anderen zu überzeugen – und dieses Wissen dann zu streuen in die sogenannten Second Hand Dealers, die dann dieses Wissen weiterverbreiten.“ Zum Beispiel Journalisten, Wissenschaftler, Politiker. „Das war das Grundkonzept von Hayek.“
Aber selbst Hayek scheut davor zurück, sich selbst als Neoliberaler zu bezeichnen. „In der Anfangszeit in den 40er-, 50er-Jahren hängt es auch damit zusammen, dass es eine Zurückhaltung gibt, sich überhaupt als liberal zu bezeichnen“, betont Biebricher. Denn in der Nachkriegszeit habe insgesamt eine skeptische Stimmung gegenüber Kapitalismus, Marktwirtschaft und Wirtschaftsliberalismus geherrscht.
Milton Friedman steht vorm Capitol in Washington und lächelt freundlich in die Kamera. (Schwarzweiß Aufnahme)
Der Nobelpreisträger Milton Friedman predigte die fast ungezügelte Marktwirtschaft.© picture alliance / Everett Collection
Die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Sowjetkommunismus mit seiner Planwirtschaft als Gegenmodell zum liberalen Kapitalismus breitet sich in Europa aus, und im Westen hat die Idee eines starken Sozialstaats Konjunktur, der Keynesianismus, benannt nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Nach ihm soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen, um das erklärte Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. Besonders in Krisenzeiten soll der Staat die Nachfrage ankurbeln, indem er Geld in die Hand nimmt und investiert. „Was die Mont Pelerin Society eint schon zu Beginn und auch darüber hinaus, ist sicherlich das ganz klare Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Vorstellungen im weitesten Sinne, eben auch gerade in Frontstellung gegenüber dem Sowjetkommunismus, aber auch zunehmend Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit, Keynesianismus“, so Biebricher. „Da ist man schon sehr stark auf einer Linie.“
Doch bei dem Treffen 1947 kommt man nur zu einer sehr vage gehaltenen gemeinsamen Abschlusserklärung. Die schon im Lippmann-Kolloquium 1938 erkennbaren unterschiedlichen Positionen werden noch stärker sichtbar. Wie stark soll der Staat eingreifen, um Wettbewerb zu garantieren?

Ludwig Erhard und der Ordoliberalismus

Beginn habe es noch diese Vorstellung gegeben, dass es eben eine Wettbewerbsordnung braucht und allgemeine Ordnungen für die Märkte, meint Biebricher. „Aber die amerikanischen und britischen Kollegen werden es über die Jahre hinweg immer weniger so sehen. Da zeigt sich dann doch ein sehr deutlicher Konflikt über die Zeit hinweg.“ Nach Ansicht von Katrin Hirte geht es um mehr als nur um wirtschaftswissenschaftliche Konzepte. Die Diskussionen spielen sich auf einer philosophischen Ebene ab. Es gehe um die Kernfrage, ob ein Mensch per Vernunft die Vielfalt aller ökonomischen Vorgänge beeinflussen könne oder nicht. „Das ist die Kernfrage gewesen und da unterscheiden die sich. Also, wenn der Markt gut funktioniert, kommt der soziale Charakter des Marktes von allein. Das heißt, es gibt keine Krisen, es gibt keine Überhänge, es gibt keine Arbeitslosen. Und das ist die Sozialität des Marktes, die die Ordoliberalen im Visier hatten und nicht einen Ausgleich auf ökonomische Prozesse und ihre unintendierten Folgen, also nicht gewollten Folgen, wie zum Beispiel eben Arbeitslosigkeit.“
In Abgrenzung zu ihren angelsächsischen Kollegen nennen sich seit der Nachkriegszeit die westdeutschen Neoliberalen: Ordoliberale. Die Ordoliberalen versammeln sich in der Freiburger Schule um Walter Eucken und um Alfred Müller-Armack, dem Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft. Zu den wichtigsten politischen Vertretern gehört Ludwig Erhard, der westdeutsche Wirtschaftsminister der Nachkriegsjahre. Bei einem Treffen mit Hayek soll er den berühmten Satz gesagt haben: “Ich hoffe, dass Sie mich nicht missverstehen, wenn ich von einer Sozialen Marktwirtschaft spreche. Ich meine damit, dass die Marktwirtschaft als solche sozial ist, nicht, dass sie sozial gemacht werden muss.”
Ludwig Erhard, Dr. Alfred Müller Armack und Dr. Nicholaas Diederichs stehen sich unterhaltend nebeneinander. Erhard hat eine Zigarre in der Hand, Diedrichs ein Glas Wein.
Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard 1962 im Gespräch mit Staatssekretär Alfred Müller-Armack und dem südafrikanischen Wirtschaftsminsiter Nicholaas Diederichs.© picture-alliance / dpa / Rohwedder
Der Markt als solcher ist sozial. Wenn er richtig funktioniert, braucht es keinen sozialen Ausgleich. Ist das die Position der deutschen Ordoliberalen? Brigitte Young widerspricht. Ihrer Meinung nach gibt es zwar eine gewisse Naivität der frühen deutschen Neoliberalen, aber sowohl Walter Eucken als auch Alfred Müller-Armack wollten den sozialen Ausgleich. „Da war einerseits diese Gläubigkeit, also eine naive Gläubigkeit, wenn man diesen Rahmen hat und einen freien Wettbewerb hat, dass man dann auch die sozialen Probleme lösen könnte.“ Gleichzeitig hätten aber beide gesagt, „es kann zu Verwerfungen kommen und da braucht man das Soziale“.
Es ist umstritten, was genau mit dem Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft und der Vorstellung der deutschen Neoliberalen, der Ordoliberalen, gemeint ist. Es gibt zum einen die These, dass der durch eine Wettbewerbsordnung regulierte Markt schon sozial ist. Gleichzeitig sprechen sich Walter Eucken und andere Ordoliberale für bestimmte sozialstaatliche Instrumente wie etwa ein Versicherungswesen aus, das in der Marktwirtschaft Risiken der Menschen absichert. Die Grundlinie aber bleibt: Das wichtigste sind funktionierende Märkte.

Neoliberalismus in Europa und den USA

Ein Konflikt besteht laut Thomas Biebricher vor allem in der Frage nach Monopolen. Vor allem hierfür bräuchte es die Wettbewerbsordnung, um Marktmacht zu verhindern – auf der Seite von Unternehmen und von Gewerkschaften.  „Und da muss der Staat eingreifen und ist eigentlich beständig aufgefordert, das im Blick zu haben und einzuschreiten in dem Moment, wo diese Machtzusammenballung entsteht.“ Das sehe man im amerikanischen Neoliberalismus „sehr, sehr, sehr anders“.
Zwischen einigen Ordoliberalen und Hayek kommt es in den 1960er-Jahren zum Streit. Gründungsmitglieder wie Wilhelm Röpke verlassen die Mont Pelerin Society. Brigitte Young vertritt deshalb die Position, dass es zwei Neoliberalismen gebe. Der Neoliberalismus des Walter-Lippmann-Kolloquiums 1938 habe sich von der Vorstellung eines nicht regulierten, freien Marktes des 19. Jahrhunderts abgegrenzt und eine staatliche Ordnung gefordert, die Monopole und Marktmacht verhindert und soziale Grundsicherungen zur Verfügung stellt.
An dieses ursprüngliche Konzept des Neoliberalismus hätten vor allem die deutschen Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft angeknüpft. Demgegenüber befürworte der angelsächsische Neoliberalismus einen nicht-regulierten, freien Markt wie im 19. Jahrhundert.  „Der 30er-Jahre-Neoliberalismus hat sich nicht durchgesetzt. Und die Mont Pelerin Society ist vielmehr dann zurückgegangen, obwohl sie den Begriff Neoliberalismus verwendet haben, ist das eigentlich ein Begriff, der viel mehr zu tun hat mit dem Manchesterkapitalismus, mit dem Laissez-faire. Das ist das wichtige daran! Deshalb: Es gibt zwei Neoliberalismen.“
Den regulierten Neoliberalismus der Gelehrten auf dem Lippmann-Kolloquium 1938 und den später vorherrschenden Neoliberalismus, der systematisch gegen Regulierungen vorgeht. Katrin Hirte und Thomas Biebricher dagegen sprechen von unterschiedlichen neoliberalen Spielarten mit einem gemeinsamen Kern: Neoliberalismus zeichne sich demnach, erstens, durch das klare Bekenntnis zu einer Marktwirtschaft aus, in der durch Wettbewerb Preise festgelegt werden. Zweitens, durch einen Staat, der in Gesetzen und Verfassungen die Grundlage für Wettbewerb schafft, ohne dass der Staat aktiv in die Wirtschaft eingreift und drittens seien die gemeinsamen Gegner des Neoliberalismus Kollektivismus und ein umfangreicher Wohlfahrtsstaat.

Neoliberalismus gegen Keynesianismus

In den 1950er- und 1960er -Jahren sind die Neoliberalen Außenseiter. International vorherrschend ist die keynesianische Idee eines intervenierenden Staates, der für Vollbeschäftigung und wirtschaftlichen Aufschwung sorgen soll. Doch die neoliberalen Theoretiker kämpfen darum, dass sich ihre Ideen verbreiten.
In den 50er- und 60er -Jahre sei die Vernetzungsarbeit des internationalen Neoliberalismus weitergetrieben worden, sagt Biebricher. Insbesondere der britische Unternehmer Anthony Fisher, Mitglied der Mont Pelerin Society und glühender Verehrer von Hayek, macht es sich in den 1960er-Jahren zur Aufgabe, liberale Institute zu gründen: das Institute of Economic Affairs, 1955, das Fraser Institut in Vancouver, das International Center of Economic Policy Studies in New York, das Pazifik Institut für Public Policy in San Francisco. „Und so geht es dann immer weiter“, meint Katrin Hirte.
Anfang der 1980er-Jahre gründet Fisher die Atlas Economic Research Foundation. Ihre Aufgabe ist es, weitere liberale Denkfabriken zu gründen und zu vernetzen. Nach eigenen Angaben unterstützt die Atlas Foundation heute rund 500 marktliberale Thinktanks. Durch die Veröffentlichung von Analysen, Artikeln und Statements tragen diese Denkfabriken ihre Positionen in die Öffentlichkeit.
Die Neoliberalen wissen in den 1950er- und 1960erJahren, so Thomas Biebricher: „Im Moment ist unsere Zeit noch nicht gekommen. Aber wenn sie dann eben kommt, dann müssen wir bereit sein. Und diese Arbeit, diese Vorbereitungszeit, diese Vorbereitungsarbeit muss jetzt getan werden.“

Chile als Experimentierfeld

Dieser Moment kommt, als 1973 die Allende-Regierung in Chile gestürzt wird. Mit Hilfe des US-Amerikanischen Geheimdienstes CIA stürzen Militärs den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende.
Unter der Militärherrschaft wird Chile das erste Land, in dem der Neoliberalismus als realpolitisches Projekt ausprobiert wird, nach Konzepten von Schülern Milton Friedmans von der University of Chicago, den sogenannten Chicago Boys. „Die allgemeine Stoßrichtung ist eine radikale Privatisierung all dessen, was der Staat besitzt“, betont Biebricher. Grundsätzlich. „Aber auch von sozialstaatlichen Leistungen, also Privatisierung von Rentensystem beispielsweise, im Bildungsbereich, massive Privatisierungsmaßnahmen und damit verknüpft eben auch eine wirklich sehr repressive Haltung gegenüber Gewerkschaften, wo es wirklich Verfolgung einfach und Ermordung von vielen Menschen, aber eben auch gerade von Angehörigen von Gewerkschaften gibt, die da eben als Hindernis gesehen werden. Und von daher wirklich ein sehr repressiver und sehr autoritärer logischerweise Neoliberalismus, der sich da vollzieht.“
Die Reformen werden in einer neuen Verfassung festgehalten. Die neue Verfassung, erstellt in einer brutalen Militärdiktatur, wird ironischerweise „Verfassung der Freiheit“ genannt – 1960 hatte Hayek ein Buch mit eben diesem Titel veröffentlicht. Die Folge der Wirtschaftspolitik ist eine steigende Ungleichheit im Land.  „Die Rolle von Chile kann man schon so definieren, dass es hier ein Experiment gibt“, so Thomas Biebricher. „Man könnte sagen, wenn es auch leicht menschenverachtend klingt, das ist sicher so eine Art Laborversuch, inwieweit es wirklich möglich ist, diese Art von radikalen Reformen durchzuziehen – und wie die Wirkung aussehen wird.“

Die Herrschaft des Neoliberalismus 1979 bis 2008

„Es könnte durchaus sein, dass künftige Historiker die Jahre 1978 bis 1980 als einen revolutionären Wendepunkt in der globalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte interpretieren“, schreibt der Sozialtheoretiker David Harvey 2007 in seinem Buch „Die kleine Geschichte des Neoliberalismus“.  1978 unternimmt Deng Xiaoping in China die ersten Schritte zur Liberalisierung der kommunistischen Volkswirtschaft. 1979 wird Margaret Thatcher in Großbritannien zur Premierministerin gewählt, ein Jahr später Ronald Reagan in den USA zum Präsidenten.
Die Zeit der hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahre ist vorbei. Das abnehmende Wirtschaftswachstum und hohe Inflationsraten – in Großbritannien 17 Prozent im Dezember 1979 – führen dazu, dass neue politische Antworten gesucht werden.
Margaret Thatcher steht, umringt von Polizisten, am Eingang der Downing Street Nr. 10 und winkt Personen die im Bild nicht zu sehen sind.
Margaret Thatcher wird am 3. Mai 1979 die neue Premierministerin: Nun beginnt die große Zeit des Neoliberalismus'.© picture alliance / empics / PA
„Wir sprechen von Thatcherism und wir sprechen von Reaganomics oder Reagan-Revolution“, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher, der sich intensiv mit dem Neoliberalismus auseinandergesetzt hat. „Tatsächlich ist es so, dass es etwas unterschiedliche Strategien in beiden Fällen gibt, aber die doch eine ganz klare neoliberale Handschrift zeigen.“
Während zuvor nur eine kleine Minderheit von Intellektuellen neoliberale Ideen vertrat, erlangen diese Ende der 1970er-Jahre politische Bedeutung. „Die Inflation stieg. Das heißt, wenn die Inflation steigt, wird das Geld weniger wert und man kann sozusagen weniger dafür kaufen“, sagt Julia Rischbieter. Die Historikerin und Juniorprofessorin forscht an der Universität Konstanz zu Inflation und Schulden. „Und unter diesen Bedingungen geriet der Keynesianismus in die Kritik, weil diese Nachfragepolitik hier keinerlei Erfolg hatte.“

Keynesianismus in der Krise

Nachfragepolitik: Vorher hatte der Staat versucht, die Wirtschaft durch immer höhere Löhne und staatliche Konjunkturprogramme anzukurbeln. Doch statt zu weiterem Wachstum kommt es jetzt zu steigender Inflation. Zwar widersprechen Anhängerinnen und Anhänger des Keynesianismus, dass die Nachfragepolitik allein für die Inflation verantwortlich ist und verweisen auf steigende Preise etwa durch die Ölkrisen. Fakt ist: Der Keynesianismus gerät Anfang der 1970er-Jahre in eine Krise.
Damit öffnet sich ein Möglichkeitsfenster für Theorien, die bis dahin politisch kaum beachtet worden waren. Die Gelehrten, die 1938 in Paris den Liberalismus durch einen Neoliberalismus neu beleben wollten und 1947 mit der Mont Pelerin Society einen neuen Anlauf unternahmen, haben Netzwerke in der Wissenschaft und Publizistik gesponnen. Politisch aber haben sie bisher nur Experimentierfelder erobert – Chile, Argentinien, Militärdiktaturen. Nun aber schlägt ihre Stunde, die Stunde des Neoliberalismus.
Kernelemente sind Steuersenkungen, die vor allem Wohlhabenden zugutekommen, geringe Sozialstaatsausgaben und: unabhängige Zentralbanken. Zentralbanken sind dafür verantwortlich, für Staaten Geld zu drucken und einen Überblick über die Geldmenge zu behalten, die im Umlauf ist. Umstritten ist, wie viel Einfluss die Politik auf die Zentralbank nehmen soll. Während nach keynesianischer Auffassung Zentralbanken, wenn es politisch gewollt ist, mehr oder weniger Geld zur Verfügung stellen können, widersprechen neoliberale Ökonominnen und Ökonomen.

Unabhängige Zentralbanken

Zentralbanken sollen nach ihrer Vorstellung politisch unabhängig sein. Sie sind allein für eine geringe Inflation, also stabile Preise und Zinsen zuständig – unabhängig von politischen Wünschen, oder, wie Milton Friedman es ausdrückt: den „täglichen Launen politischer Autoritäten“. Wenn dabei die Arbeitslosigkeit steigt, wird das als notwendiges Übel verstanden, um die Ökonomie auf einen langfristigen Wachstumskurs zu bringen. „Und diese Zentralbank sollte darüber, dass sie eine bestimmte Geldpolitik macht, sozusagen im Hintergrund die Wirtschaft lenken“, so Rischbieter. Sie sollten politisch unabhängig sein.
1979 wird Paul Volcker Vorsitzender der US-Amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve. Er habe sich an Milton Friedman orientiert, sagt die Ökonomin Rischbieter. Als Mittel gegen die hohe Inflation erhöht die amerikanische Zentralbank die Zinsen. Plötzlich können sich Unternehmen nicht mehr so einfach Geld leihen wie zuvor. Es wird weniger produziert, weniger gebaut, weniger gekauft, es kommt zu einer Rezession. Die Inflation ist gebändigt, aber die zuvor schon hohen Arbeitslosenzahlen steigen weiter an.

Reaganomics und Thatcherism

Das keynesianische Rezept wäre nun gewesen, Staatsschulden aufzunehmen und Konjunkturprogramme aufzulegen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Nach 1979 jedoch etabliert sich ein neues Narrativ.  „Die Rhetorik ist erst einmal, dass Schulden etwas Schlechtes sind und minimiert werden müssen, Steuern gesenkt werden müssen“, sagt Rischbieter. „Das ist das zweite große Ziel. Weniger Steuern, weniger Steuern, vor allem für die Reichen und die Ausgaben des Staates senken und damit auch die Staatsverschuldung.“
Ronald Reagan steht vor aneinander gereihten US-Flaggen
In den USA stößt Präsident Ronald Reagan mit seinem neoliberalen Kurs auf wenig Gegenwehr.© picture alliance / Everett Collection
1975 liegt der Spitzensteuersatz in Großbritannien noch bei 83 Prozent. Im Laufe der Amtszeit von Magaret Thatcher wird er um mehr als die Hälfte gesenkt und liegt 1989 bei nur noch 40 Prozent. Stattdessen werden indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer erhöht, die alle zahlen müssen, was besonders die unteren Einkommensgruppen trifft.

Kürzungen im Sozialstaat

„Wenn ich von Steuersenkungen spreche, denke ich daran, dass jede größere Steuersenkung in diesem Jahrhundert die Wirtschaft gestärkt, neue Produktivität erzeugt und am Ende neue Einnahmen für die Regierung gebracht hat, indem sie neue Investitionen, neue Arbeitsplätze und mehr Handel unter den Menschen geschaffen hat“, sagt Ronald Reagan in seiner Antrittsrede nach der Wahl zum US-Präsidenten 1980. In den USA wird der Spitzensteuersatz von rund 70 Prozent auf 28 Prozent gesenkt – dem niedrigsten Steuersatz in den Industrieländern zu dieser Zeit.
Gleichzeitig kommt es zu Kürzungen im Sozialstaatsbereich – mit einer Begründung, die breite Schichten weißer Amerikaner ansprechen soll. „Eine Figur, die hier besonders hervorsticht, ist die sogenannte Welfare-Queen, die immer wieder mobilisiert wird, von Reagan und von der gesamten Administration“, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. „Um darauf hinzuweisen, dass insbesondere afroamerikanische Frauen eben nicht bereit seien zu arbeiten, eher Kinder kriegen würden und sich dann vom Staat aushalten lassen. „Diese Figur sei „wahnsinnig wirkmächtig“ gewesen, „zur Rechtfertigung von einer Politik, wo es um das Zurückfahren von Sozialstaatlichkeit geht“.

PR für die Anti-Wohlfahrtspolitik

Die Anti-Wohlfahrtspolitik benötigt eine spezielle PR, um auch bei denen zu verfangen, die von den Leistungskürzungen betroffen sind: dazu dient die Ausgrenzung marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Das Staatsverständnis verändert sich. „Man kann die Frage, wie sich Staatlichkeit transformiert unter dem Neoliberalismus, so beantworten, dass es praktisch zwei Arme des Staates gibt: Es gibt einen fürsorglichen Staat und es gibt die harte Hand, den repressiven Arm des Staates, und dieser repressive Arm wird tendenziell ausgebaut, und da gibt es auch genug Geld“, so Biebricher. „Der fürsorgliche Arm wird tendenziell eben zurückgefahren.“
Als US-Präsident Reagan die neuen Leitideen für Politik und Wirtschaft verkündet, zahlt sich in den angelsächsischen Ländern die Netzwerk-Arbeit aus, die neoliberale Thinktanks seit der Mont-Pelerin-Konferenz 1947 geleistet haben.
„In London ist es zum Beispiel das Centre for Policy Studies. Da war Magaret Thatcher, das ist ganz interessant, 1974 schon integriert“, sagt Katrin Hirte, Autorin des Buches „Netzwerke des Marktes“. „Das heißt also, sie war in diesem Thinktank und aktiv, bevor sie die Wahl gewann.“ Schon vor ihrer Amtszeit hat Thatcher das Centre for Policy Studies gegründet, ein zur neoliberalen Atlas Foundation gehörendes Institut, eng verbunden mit der Mont Pelerin Society.
Das Center for Policy Studies schreibt explizit auf seiner Website, dass sie regelmäßig Studien veröffentlichen – mit dem Ziel, die politische Debatte zu beeinflussen. Laut Thatcher ist es der Ort, an dem die „konservative Revolution“ begann. Auf der Website heißt es: „Die Zähmung der galoppierenden Inflation, die Eindämmung der Macht der Gewerkschaften, die Privatisierungsrevolution, die Schrumpfung des Staates und Großbritanniens Umarmung des Unternehmertums – all das begann beim Centre for Policy Studies.“

Proteste gegen die neoliberale Politik Thatchers

Während in den USA die Transformation des Staates relativ geräuschlos verläuft, wird in Großbritannien der Bergarbeiterstreik 1984/85 zum Schlachtfeld im Kampf um die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik.
Die staatliche Organisation für Kohlebergbau, the National Coal Board, hatte verkündet, 20 Zechen schließen zu wollen, mit dem Verlust von ungefähr 20.000 Arbeitsplätzen. Von März 1984 bis März 1985 gehen Hunderttausende Bergarbeiter auf die Straße.
Vor einem Zaun stehen Polizisten. Dahinter streikende Bergarbeiter, die teilweise Schilder hochhalten.
Steikende Bergarbeiter 1984 in Nottinghamshire in England. Doch Thatcher blieb hart. Zahlreiche Zechen schlossen.© picture-alliance / dpa
Sie sind die Feinde der Demokratie, sie sind nicht interessiert an der Zukunft der Demokratie, sie töten Demokratie für ihre eigenen Zwecke“, sagt Thatcher, bleibt hart und setzt sich durch. 25 Zechen werden geschlossen. Nach einem Jahr Streik ist die Macht der Gewerkschaft gebrochen. Außerdem wird das Streikrecht eingeschränkt.
Im Kampf gegen die Gewerkschaften geht es nicht nur um Löhne und Arbeitsplätze, sondern auch ein anderes Thema: Die Privatisierung von Staatseigentum ist zentral für die Politik Reagans und Thatchers. Es ist die Vorstellung, dass private Unternehmen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb einer Gesellschaft eher zu Wohlstand verhelfen als staatliche Unternehmen. Denn der Staat sei kein guter Unternehmer. Dieser Gedanke hatte schon 1938 in Paris eine Rolle gespielt. Jetzt wird er zu einer mächtigen Triebkraft in der Politik.
Die Wasserwerke sollten privatisiert werden. In England und den USA seien außerdem das Telefon privatisiert worden, sagt die politische Ökonomin Brigitte Young. In den Jahren zwischen 1984 und 1990 werden in Großbritannien die British Steel, British Airways, British Telecom, British Gas und weitere staatliche Betriebe privatisiert – Betriebe, die für die öffentliche Infrastruktur wichtig sind und traditionell als hoheitliche Aufgaben eines Staates gelten. Dem britischen Staat, der unter einer hohen Staatsverschuldung leidet, verschafft die Privatisierungsstrategie kurzfristig hohe Staatseinnahmen.

Der Staat im Neoliberalismus

„Sicherlich hätten Thatcher und Reagan gesagt, aber in der langen Perspektive machen wir jetzt alles, damit dann vielleicht der Staat sozusagen weniger Einfluss hat“, sagt die Historikerin Julia Rischbieter. Aber kurzfristig seien das natürlich starke dirigistische Eingriffe, in die Sozialpolitik, in die Rentenpolitik, in die Arbeitsmarktsituation. „Und ironischerweise hat das auch alles viel Geld gekostet.“
Nach den neoliberalen Konzepten soll der Staat weniger Geld ausgeben und seine Schulden senken. In der politischen Realität steigen jedoch in der Ära Reagan die Staatsausgaben und die Schulden. Der Staat, der schlanker werden soll, investiert große Summen in Sicherheit und Rüstung.
Zur Privatisierung staatlicher Wirtschaftsbereiche kommt die Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte. 1986 dereguliert Thatcher schlagartig den britischen Finanzmarkt. Ausländische Banken lassen sich in London nieder. Die Revolution in der Mikroelektronik ermöglicht, dass der traditionelle, persönliche Handel auf elektronischen Handel umgestellt wird, Computer erhalten Einzug in die Finanzwelt und digitalisieren die Finanzindustrie.
Es ist der „Big Bang“, London wird zum internationalen Finanzzentrum, weil hier die Entfesselung der Kapitalmärkte spekulatives Wirtschaften und spekulative Kapitalanlagen in ganz neuen Dimensionen ermöglicht.
Blick von unten auf mehrere Hochhäuser vor grauem Himmel
London wird unter Thatcher zum internationalen Finanzzentrum.© picture alliance / Eibner-Pressefoto / Jürgen Biniasch
Mit der Deregulierung gibt der Staat nicht nur Aufsichts- und Gestaltungsmacht im Finanz- und Bankenwesen ab. Er gerät auch unter Druck, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und den Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes zu überlassen, wie im Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts. Hintergrund ist die Globalisierung des Wirtschaftens, bei der nationale Regelungen, etwa gewerkschaftliche Errungenschaften im Arbeitsrecht, hinderlich sind. Die Liberalisierung, das bedeutete: die Öffnung der Märkte. „Dass eben ein Staat nicht mehr Kontrolle hatte über die eigenen nationalen Regeln“, so Brigitte Young. „Die Märkte wurden geöffnet und es gab eben durch die WTO diese internationalen Regeln. Schutz für Klima oder Schutz für Arbeiter und Arbeiterinnen wurde dann als Tarifhemmnis eingestuft.“

Wirtschaftliche Ungleichheit steigt

Die Leitidee ist: angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Es ist die Vorstellung, dass Unternehmen durch geringere Steuern, geringere Auflagen im Arbeits- und Umweltschutz effizienter, ungehemmter und mehr produzieren können und dies dann zu höherem Wirtschaftswachstum und damit zu mehr Wohlstand führt.
Mit dieser Vorstellung setzt sich der Gegenentwurf zur keynesianischen Nachfragepolitik durch – die davon ausgeht, dass nicht Unternehmen gestärkt werden müssen, sondern Konsumentinnen und Konsumenten und ihre Kaufkraft, um die Wirtschaft anzukurbeln.
In der neoliberal ausgerichteten Politik verschieben sich die Gewichte zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals. Die nachlassende Gestaltungsmacht der Gewerkschaften ist ein systemimmanenter Teil dieser Politik. Mit statistisch ablesbaren Folgen: etwa beim Anstieg ökonomischer Ungleichheit in den Gesellschaften. Während 1986 die reichsten zehn Prozent in den USA 63 Prozent des gesamten privaten Vermögens besitzen, sind es 2012 77 Prozent. 

Das Individuum im Neoliberalismus

In einem Interview sagt Margaret Thatcher 1987 einen Satz, der Berühmtheit erlangt hat, weil er das Gesellschaftsbild offenlegt, das der neoliberalen Wende in der Wirtschaftspolitik zugrunde liegt: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“, sagt sie. „Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien, und keine Regierung kann irgendetwas tun, außer durch Menschen, und Menschen müssen sich zuerst um sich selbst kümmern.“
Das Individuum sei zentral für eine neoliberale Ordnung, sagt Thomas Biebricher. „Das Individuum soll von seiner individuellen Freiheit produktiven Gebrauch machen, sich in Märkte, in Wettbewerbe einbringen. Aber das entwickelt sich eben in gewisser Weise dann auch zu einem Zwang, von dieser Freiheit diese Art von Gebrauch zu machen. Von daher ist es halt nicht so, dass man mit dieser Freiheit anfangen kann, was man will, sondern man muss in Konkurrenz treten mit anderen.“

Die Entfesselung der Märkte

Zur Entfesselung der Kapitalmärkte in der Wirtschaft kommt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Ökonomisierung allen gesellschaftlichen Lebens. „Dass wir dazu angehalten werden, eigentlich uns immer weiter zu optimieren, uns immer zu verbessern, nie stillzustehen, immer Ausschau zu halten nach neuen Möglichkeiten, um uns selbst zu verwirklichen oder um Profit einzustreichen“, erläutert Biebricher.  „Diese Vorstellung, dass es nie einen Ruhepunkt geben kann und darf, dass es immer weitergehen muss, dass Stillstehen schon Zurückfallen heißt, das ist einer der ganz großen sozialpsychologischen und individualpsychologischen Effekte des Neoliberalismus.“
Wie ein Unternehmen zu denken: effizient, kostensparend und profitorientiert, das ist ein universeller Anspruch an alle – an Bürgerinnen und Bürger, an den Staat und seine gesellschaftlichen Einrichtungen, an Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, die Wohnungs- oder die Wasserversorgung.

Die Serie „Free to Choose“

Dass diese Ideen verinnerlicht werden, liegt auch an der medialen Begleitmusik zur neoliberalen Politik. „Free to Choose“: So heißt eine zehnteilige Serie, die Milton Friedman, Gründungsmitglied der Mont Pèlerin Society und ökonomischer Berater von Thatcher und Reagan, 1980 im US-Fernsehen startet.
 Eine Textilfabrik in New York. Schummriges Licht. Dutzende Frauen sitzen an kleinen Tischen und arbeiten in Akkordarbeit an ihren Nähmaschinen. In der Mitte steht Milton Friedman. Die meisten Arbeiterinnen der Fabrik seien in die USA immigriert, erzählt er, sie würden hier aber nicht lange bleiben. Die Fabrik gibt ihnen die Möglichkeit, in den USA anzukommen, sich hochzuarbeiten, eigenen Wohlstand aufzubauen. Ohne einen freien Markt wäre das nicht möglich.
Diese Fabrik verletzt alle Arbeitsrechte. Sie ist überfüllt, schlecht belüftet und es gibt keinen Mindestlohn. Aber wem würde es nützen, würde die Fabrik geschlossen werden, fragt eine Stimme aus dem Off. Sicherlich nicht den Frauen, so die Stimme, sie bauen den Wohlstand für die nächsten Generationen auf. “Im Gegenteil. Sie und ihre Kinder werden ein besseres Leben haben, da sie die Möglichkeiten, die Ihnen ein freier Markt gibt, zum Vorteil machen“, betont Friedman.
„Free to Choose“ bezeichnet der Historiker Sören Brandes als „neoliberalen Populismus“. Er hat in seiner Doktorarbeit Milton Friedmans Serie analysiert. „ImKern geht es darum, dass es immer ein Narrativ ist, wo auf der einen Seite wir stehen, also die normalen Menschen, und auf der anderen Seite steht der Staat, Big Gouvernement.“ Der neoliberale Rahmen dabei sei. „Der Markt kann alles, der Markt ist gut, der Markt ist das, was uns nicht nur befreien wird, sondern was uns halt auch mehr irgendwie ökonomischen Wohlstand beschert.“
„Free to Choose“ ist ein Erfolg. Bei der Erstausstrahlung schalten pro Folge rund drei Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner ein. Die Sendung wird nicht nur in den USA ausgestrahlt, sondern in vielen Ländern auf der Welt, unter anderem auch im Bayrischen Rundfunk, sie trägt so zu einem gesellschaftlichen Narrativ bei: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wer will und sich anstrengt, kann sich Wohlstand erarbeiten.
Diese Verheißung ist das Fundament, auf dem die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie aufbaut. Wer arbeitslos ist, trägt selbst Verantwortung für sein Schicksal beziehungsweise für das, was aus ihm wird. Strukturelle Ungleichheit spielt in diesem Gesellschaftsbild, das ganz auf die Individuen setzt, keine Rolle.

Internationale Verschuldungs- und Ölkrise

Die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik hat weltweite Konsequenzen, vor allem auch für den Globalen Süden, angefangen mit der Verschuldungskrise. „Diese Verschuldungskrise der 80er-Jahre war dann auch eine Situation, wo neoliberale Konzepte im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme in die Welt gebracht wurden“, sagt Julia Rischbieter von der Uni Konstanz. „In der internationalen Verschuldungskrise der 80er-Jahre sind ungefähr 47 Länderungefähr bankrottgegangen.“
Blick auf eine leere Autobahn - die Schilder zeigen Richtung Hamburg und Lübeck
Fahrverbot während der Ölkrise 1973: Die Autobahnauffahrt kurz vor Hamburg liegt ausgestorben da. © picture alliance / Werner Baum
Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank folgen dem Dreiklang aus Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung. Doch all diese Länder konnten, auch wenn sie die Maßnahmen ergriffen haben, ihre Schulden kaum reduzieren, „hatten verschiedenste Wirtschaftskrisen, Finanzkrisen, Währungskrisen, neben noch ganz massiven anderen sozialen Kosten für die Bevölkerung, Kindersterblichkeit und so weiter und so fort“.
In diesem Zusammenhang spielt auch das Ende des Kolonialismus ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Rolle, als die ehemaligen Kolonien dafür kämpften, souveräne Nationalstaaten zu werden.
Ein Kartell aus Ölstaaten, die OPEC-Staaten, demonstriert in den 1970er-Jahren ihre neue Macht. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian, hat hierzu intensiv geforscht. "Die Ölkrise in den 1970er-Jahren war ein wichtiger Moment“, betont er. „Es war das erste Mal, dass die Länder des globalen Südens in der Lage waren, eine Art Einfluss und Druckmittel auf die reicheren Nationen Europas und Nordamerikas auszuüben. Es machte den Vereinigten Staaten klar, dass sie auf andere Teile der Welt als ihr eigenes Territorium angewiesen waren."
Die wichtigste Erkenntnis: die Entstehung souveräner Staaten bedroht Kapitalinteressen. Deshalb wird es, laut Slobodian, zum zentralen Anliegen der Neoliberalen, einen supranationalen Rechtsrahmen zu entwerfen, der international Privateigentum gegen Enteignung und radikale Umverteilung schützen kann.

Kapitalinteressen schützen – die WTO

Das Ende des Kalten Krieges eröffnet neue Möglichkeiten. 1995 wird die Welthandelsorganisation gegründet. Nach Slobodian die Krönung neoliberaler Bemühungen. „Was sie wirklich hofften, was sie versuchten zu fördern, war, eine Welt in der die Staaten mit ihren Institutionen es als extrem wichtig ansehen würden, Eigentumsrechte zu schützen, egal wo auf der Welt sie sich befinden, und die Welthandelsorganisation ist in gewisser Weise ein schönes Beispiel dafür in Aktion.“
Laut Quinn Slobodian verkörpert die WTO die neoliberale Idee, die sich seit seinen Anfängen in den 1930er-Jahren durchzieht: Es ist die Idee, dass es einen gesetzlichen Rahmen braucht, der den Markt schützt. Ein gesetzlicher Rahmen, der ökonomische Ziele festschreibt und sie dem staatlichen und damit dem Einfluss von Bevölkerungen entzieht. Gesetze, die Kapitalinteressen schützen.
Dagegen formiert sich allerdings eine so starke Widerstandsbewegung, dass eine WTO-Konferenz in Seattle 1999 abgesagt werden muss. In den führenden westlichen Ländern setzt sich das neoliberale Denken dennoch in Wirtschaft und Politik immer weiter durch.
Auf der Straße sitzen junge Demonstrant*innen. Dahinter stehen Polizisten mit Schutzhelmen.
Proteste gegen die WTO in Seattle am 1. Dezember 1999.© picture-alliance / dpa / John G. Mabanglo
Um die Jahrtausendwende regiert in den USA der Demokrat Bill Clinton, Tony Blair in Großbritannien, die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder in Deutschland. Sie alle folgen in ihrer Politik neoliberalen Ideen. Nun zeigt sich, so Thomas Biebricher, „dass in diesen für diese Entwicklungen zentralen Ländern, Großbritannien und USA, die politische Konkurrenz von links der Mitte, letztendlich die zentralen Vorstellungen von Reagan und Thatcher übernimmt. Das zeigt eben, dass der Neoliberalismus in der Phase wirklich so etwas wie eine hegemoniale Stellung hat, wenn die politische Konkurrenz die Ideen übernimmt, dann muss man sagen: Das ist hegemonial. Und dann mit einer kleinen Verzögerung findet sich das auch in Deutschland.“ Dabei laute das Stichwort Hartz IV. Darüber hinaus „haben wir es mit einer Deregulierung des Arbeitsmarktes zu tun, die Einführung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, ein riesiger Niedriglohnsektor, der hier entsteht – nach manchen Messungen der größte in Europa. Das sind auf jeden Fall die zentralen neoliberalen Pfeiler dieser Politik.“

Zäsur der Weltfinanzkrise

2008 folgt die Weltfinanzkrise. Eine Zäsur, meint Biebricher, die darin bestehe, „dass sich ein Bild von Kapitalismus zeigt, wo eigentlich gar keine Güter oder gar nichts Nützliches mehr produziert wird, sondern wo es einfach eine Geldvermehrungsmaschine gibt“. Um einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern, greift der Staat massiv in die Wirtschaft ein.
Staaten knüpfen Rettungspakete, retten Banken und Unternehmen und regulieren Teile der Finanzmärkte. Der Staat als Retter in der Not. Der Mythos vom sich selbst regulierenden Markt scheint enttarnt. Doch trifft das den Kern des Neoliberalismus? „Möglicherweise ist das eben ein Missverständnis“, wendet Thomas Biebricher ein. „Weil Neoliberalismus gar nicht zentraler Weise die Idee beinhaltet, dass es um selbst regulierende Märkte geht.“
In der Mitte des Raumes steht ein großer Monitor der vor allem rote Bereiche zeigt. Daneben sieht man Brooker*innen bei ihrer Arbeit.
Mit der Weltfinanzkrise 2008 wird das neoliberale Denken zunehmend infrage gestellt.© picture alliance / dpa / Justin Lane
Als Ende der 1970er neoliberales Denken hegemonial wird, dominiert ein verengter Freiheitsbegriff: in dem die Freiheit des Einzelnen vor allem als wirtschaftliche Freiheit verstanden wird. Der Mensch ist Teil eines Wettbewerbssystems, dem man sich nicht wie in einem Spiel entziehen kann. Der Staat soll nach neoliberaler Vorstellung kein fürsorglicher, kein Wohlfahrtsstaat sein. Letztlich soll er die gesamte Daseinsvorsorge an die Privatwirtschaft abgeben – Krankenhäuser, Schulen, Wohnen, Wasser. Doch in der Weltfinanzkrise gibt es nur einen, der die Weltwirtschaft retten kann: der Staat.
„Ich denke, einer der größten Fehler, den die Leute machen, wenn sie versuchen, den Neoliberalismus als Philosophie zu verstehen, ist, dass sie ihn als einen Versuch sehen, den Staat abzuschaffen oder den Staat zurückzudrängen oder die Rolle des Staates im Wirtschaftsleben zu reduzieren“, meint der kanadische Historiker Quinn Slobodian und bringt damit eine Lebenslüge neoliberaler Denkmuster zum Ausdruck. Auch im Neoliberalismus wird der Staat gebraucht, um den Markt, Privateigentum und Wettbewerb zu schützen.
Offen ist seit 2008, wie sich die Weltfinanzkrise auf den Neoliberalismus, seine Theorien und seinen politischen Einfluss auswirkt. Die zweite und dritte Frage sind: ob mit der Klimakrise und der Pandemie die neoliberalen Aufbrüche von 1938 und 1947 an ihr Ende kommen.

Es sprachen: Katja Hensel, Timo Weisschnur, Joachim Schönfeld
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Winfried Sträter

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