Die Gelehrtenrepublik

Von Heinz-Jörg Graf · 30.12.2009
Erasmus von Rotterdam war hier, Charles Darwin und John Maynard Keynes. Die berühmte Universität wurde vor 800 Jahren gegründet. Dutzende von Nobelpreisträgern zieren ihre Annalen. Der Ort muss auf intellektuelle Köpfe ungemein anregend wirken.
Mit einem Gewaltverbrechen fing alles an. Im Jahre 1209 wurden zwei Oxforder Studenten des Mordes an einer Prostituierten beschuldigt. Als die Täter flohen, hielt sich die Obrigkeit kurzerhand an ihren Mitbewohnern fest und hängte sie auf. Aus Protest verließen Magister und Scholaren die Stadt. Einige zogen nach Cambridge und gründeten dort ein Konkurrenzunternehmen.

Unter den Kapellenchören von Cambridge ist der King´s Choir vom King´s College der berühmteste. Fast eine nationale Institution - Weihnachten lauscht halb England und die Welt, wenn die BBC die Messe live aus der King´s Chapel überträgt - und ein Überbleibsel aus frommeren Zeiten, als kirchliche Autoritäten noch den Rahmen zimmerten, der sich für Lernen und Wissenserwerb geziemte, in dem sich ein Studium zutragen durfte.

Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts war jeder Student in Cambridge verpflichtet, die Morgenandacht in der Kapelle zu besuchen, bevor er sein geistiges Tagwerk beginnen konnte. Und bis heute läuten vor dem Abendessen die Glocken in den Colleges und laden zum "evening service" ein. Zwar ist die Teilnahme nicht mehr obligatorisch, doch niemand würde diesen Brauch abschaffen wollen. Traditionen, meist von kirchlich-sakralem und unerschütterlichem Charakter, werden in Cambridge außerordentlich wertgeschätzt. Bei den "formal dinners", den Abendessen mit "dress codes" in den Colleges – Anzug, Abendkleid und Talar ist vorgeschrieben - , wird manches Tischgebet noch auf Lateinisch gesprochen.

Die Anfänge in Cambridge gestalteten sich bescheiden. Nach ihrer Flucht aus Oxford wohnten Lehrer und Studenten zunächst in gemieteten Räumen, in Herbergen: 1280 existierten 34 dieser Studentenheime in der Stadt. Doch sie sollten nicht von Dauer sein. 1284 gründete der Bischof von Ely Peterhouse das älteste College in der Stadt. Und schon 1382 gesellte sich ein zweites College hinzu, das Clare-College, gestiftet von Lady Elizabeth de Clare, deren Schatulle mit dem Gelderbe drei verstorbener Ehemänner gut gefüllt war. In der Präambel der Stiftungsurkunde heißt es:

"Elizabeth de Burgh, Lady of Clare, an alle Kinder der heiligen Mutter Kirche, die diese Worte lesen. Die Erfahrung, unser Ratgeber in allen Lebenslagen, lehrt uns, dass Wissen für uns Menschen einen großen Vorteil darstellt. Am Besten wird es in einer Universität, in einer anerkannten Gemeinschaft, vermittelt. Wenn die Schüler es dort erworben haben, schickt die Universität sie gut vorbereitet in die Welt hinaus, damit sie dort – entsprechend ihren Fähigkeiten – Kirche und Staat dienen mögen.

Es ist unser Wunsch, der wahren Religion zu dienen und das öffentliche Wohl durch Bildung zu fördern – so weit uns dieses Vermögen durch Gott gegeben ist. Deshalb wenden wir uns der Universität von Cambridge in der Diozöse Ely zu, wo es eine Studentengemeinschaft gibt. Es ist unsere Absicht, dass sie durch Studium und Unterricht, die köstlichen Perlen des Wissens für sich entdecken und besitzen lernen, sodass das Wissen nicht versteckt bleibe, sondern draußen in der Welt all jenen gezeigt werde, die auf den dunklen Pfaden der Unwissenheit wandeln.

Wir haben im folgenden Verordnungen erlassen, die es den Scholaren an unserem College – durch strikte Beachtung der Regeln – ermöglichen, ein harmonisches Leben zu führen und sich an ihrem Studium zu erfreuen."

Das Leben in den neugegründeten Colleges gestaltete sich von Anfang als Gemeinschaftsleben: Lehrende und Lernende wohnten, aßen, lernten und studierten unter einem Dach. Eine Regel von damals besagte, dass den Studenten Mentoren zugeordnet werden mussten. Solchen, die für ihre intellektuelle Entwicklung verantwortlich waren und andere, die über ihr Betragen wachten und aufpassten, dass sie ihre Aufgaben erledigten. Der Tagesablauf selbst gehorchte einer liturgischen Praxis, die klösterlichen Lebensformen abgeschaut war: Gebete, Gesänge und Andachten, die nicht nur Gott lobten, sondern auch den Stifter, und die dem Wissenserwerb eine ritualisierte Form gaben.

Während sich Cambridge – was die Studieninhalte und Examensanforderungen anging – von anderen Universitäten wie Paris, Bologna oder Heidelberg kaum unterschied, führte die enge Beziehung zwischen Lehrern und Schülern an der englischen Universität allerdings dazu, dass sich auf der Insel ein anderer Typ von Wissensvermittler entwickelte als auf dem Kontinent, einer, der seinen Studenten gegenüber mehr als Tutor, als Lehrer und Ratgeber, auftrat, weniger als Professor, der ex Cathedra dozierte. So konnte sich in Cambridge eine Lehr- und Lebensform entfalten, die dem Ideal einer Gelehrtenrepublik nahekam. Peter Burke, emeritierter Geschichtsprofessor und Fellow am Emmanuel-College ist überzeugt, dass Cambridge auch heute noch von diesem alten pädagogischen Ethos durchdrungen ist:

"In vielerlei Hinsicht ist Cambridge eine Gelehrtenrepublik geblieben. Das liegt an der Vorstellung, dass hier alle den gleichen Status haben sollen, obwohl einige alt und andere jung sind, einige schon viele akademische Auszeichnungen erworben und andere noch nicht einmal ihre Doktorarbeit geschrieben haben. Auch wenn Sie der führende Experte auf einem Gebiet sind und der Student, der mit Ihnen seinen Essay bespricht, gerade erst angefangen hat zu studieren, ist die Gleichbehandlung – zumindest in der Ansprache – von großer Bedeutung."

Für Peter Burke wird diese Beziehung, in der sich Lehrer und Schüler auf gleicher Augenhöhe treffen, besonders in den Supervisions gelebt. Das sind wöchentliche Treffen zwischen einem Studenten und seinem Professor, auf denen ein Essay besprochen wird, den der Student geschrieben hat.

"Es ist ein Zweiergespräch, das die Studenten genauso unterbrechen können wie ich. Ich versuche nicht, das Gespräch zu dominieren, weil ich zufällig mehr weiß. Wir gehen behutsam miteinander um. Wenn ich meine Randbemerkungen auf einen Essay schreibe, dann nicht in roter Tinte. Das erinnert zu sehr an einen Lehrer in der Schule. Oft versehen Sie die Bemerkungen auch mit einem Fragezeichen? Wollen dem Studenten damit sagen, dass man die Sache vielleicht auch anders sehen könnte. Wollen ihn ermuntern, dass er über diese Alternative nachdenkt. Sie schreiben nicht einfach: 'Das ist falsch.' Natürlich begreifen die Studenten das. Ich erzähle ihnen nicht, dass sie einen blöden Fehler gemacht haben, aber sie haben ihn gemacht, und das wissen sie auch."

Für Charlotte Klonk, die als Studentin der Kunstgeschichte 1991 nach Cambridge kam und heute an der Humboldt-Universität in Berlin ist, waren diese Supervisions eine prägende Erfahrung:

"Dann kam ich nach Cambridge und saß in einem Raum zusammen mit einem Lehrenden, einem Professor und maximal noch einem Mitstudierenden und wir diskutierten zu dritt oder zu zweit das jeweilige Thema, was pro Woche angesagt war (...) Wenn man in so einer 1:1-Diskussion mit einem gestandenen Forscher sitzt (...), wenn die das gut machen, (...) das ist (...) so eine sokratische Technik über Fragen den anderen immer da abzuholen, wo er gerade ist, und das ist unglaublich, da wächst man unglaublich intellektuell (...) Ja, an dem Schritt, an dem man gerade ist, wird man abgeholt und eine Stufe höher transportiert (...), das ist schon toll."

31 Colleges sind in Cambridge gestiftet worden. Als Gesamtheit bilden sie die "University of Cambridge". Die mächtigen Gebäude – meist eng beieinanderliegend und mit einer Mauer umgeben - dominieren das Stadtbild. Manche sehen trutzig aus, haben fast Festungscharakter, andere bieten sich dem Auge gefälliger dar, wirken aufgeschlossener. Doch alle zeigen sich von achtungsgebietender Präsenz. Wohl nicht nur der Wissenschaft wollten die Stifter – Könige, Bischöfe und reiche Privatleute – Reverenz erweisen, sondern auch der eigenen Person. Während vor den Mauern der Stadtlärm tost, herrscht auf den Innenhöfen der Wissenstempel majestätische Stille, schimmern große, grüne Rasen. Kein schlechter Ort zum Lernen. Auch nicht zum Leben.

In den Colleges fand die Gelehrtenrepublik ihren räumlichen und sinnlichen Ausdruck. Das Biotop wurde von seinen Bewohnern gehasst und geliebt. Cambridge sei der "reinste Palast der Winde", ätzte Samuel Taylor Coleridge, der spätere Dichter und Philosoph, und musste sich gleich in seinem ersten Trimester 1791 mit Rheuma ins Bett legen. Sir Francis Bacon beklagte sich über die Dons, so der Name des akademischen Personals in Cambridge, und warf ihnen "Freizeit in Fülle und beschränkte Belesenheit" vor.

Virginia Woolf, deren Vater in Cambridge als Professor lehrte, schwärmte: "Kein Ort der Welt kann schöner sein", monierte aber auch: "Vielleicht ist Cambridge zu höhlenhaft."

Andere wiederum erlagen komplett dem Reiz des Ortes. Charles E. Raven, nach dem 2. Weltkrieg Vizekanzler der Universität, schreibt über seine Zeit am Trinity-College:

"Und am Abend, wenn die Arbeit getan war und die Zeit nahte für Kaffee und ein Gespräch mit einem Freund, da lag dieser große Innenhof von Trinity, wundervoll anzuschauen in der schlichten Perfektion seiner Rundung und seinem großartig gestalteten Brunnen. Sein schönstes Gesicht zeigte er, wenn der Himmel verhangen war und das Licht aus erleuchteten Zimmern die Collegemauern geheimnisvoll aufscheinen ließen, während der Brunnen im Halbdunkel plätscherte. Einmal färbte die Sonne bei ihrem Untergang den Himmel blutrot ein, die Bäume schimmerten in düster-violetten Trauerfarben, die Dämmerung durchwob schicksalsschwer das Los der alten griechischen Götter. In solchen Momenten meinte ich zu spüren, dass die Zeit aufgehört hatte zu existieren, dass die sichtbare Welt sich transzendierte, dass sich mir Ewigkeit offenbarte, eine Ewigkeit, die hinter den normalen Dingen liegt, und mich mit ihr eins werden ließ."

Ein College ist ein Mikrokosmos, ein "hot spot", der Reibung erzeugt und Funken sprühen lässt. Jeder kennt hier jeden. Jeder kommuniziert hier mit jedem. Offline ist in Cambridge kaum einer. Charlotte Klonk:

"Ich hab am Anfang gedacht, das ist entsetzlich, ich hatte in einer WG gewohnt in Hamburg, war ein selbstständiges Leben gewöhnt und hab einen Schreck gekriegt, dass ich jetzt in so ein Wohnheim (...) mit anderen Studierenden einziehen sollte und hab das dann als sehr, sehr gut empfunden. Ich hab noch heute Freunde aus dieser Zeit, die Architekten waren, Literaturwissenschaftler, weil wir einfach in Diskussionsrunden zusammenkamen in diesem doch intensiven gemeinschaftlichen Leben. (...) Man lebt da immer unter (...) Hochspannung und trifft (...) alle in der Bibliothek. (...) Man muss sich auch vorstellen, dass Cambridge räumlich natürlich alles sehr eng aufeinander sitzt, sodass das wirklich diese Semesterzeiten, dort heißt es Termzeiten, wie so ein Gewächshaus ist, das hitzt sich alles unglaublich auf, man zirkuliert in den Bibliotheken, man muss dauernd schreiben. (...) Das ist irgendwann auch so eine Kunst des Schreibens, die dort kultiviert wird."

Traditionen haben sich in der Gelehrtenrepublik vom Mittelalter bis heute fast ungebrochen bewahrt. Zum Beispiel das alte Tutorensystem. Auch im Cambridge von heute wird dem Studenten assistiert, damit er für sich die Perlen des Wissens entdecken und besitzen möge. Hubertus Jahn, Professor für russische und osteuropäische Geschichte am Clare-College:

"Der große Vorteil dieses Systems ist, dass die Studenten, vor allem die Studenten, die stehen bei uns eindeutig im Mittelpunkt, mehr als alles andere. Also mehr auch als die Forschung, würde ich fast sagen. Die Studenten (...), dass denen der Kopf frei gehalten wird von den Problemen des täglichen Lebens, mit anderen Worten, dass die sich wirklich vollkommen auf ihre Arbeit und ihr Studium konzentrieren können, auf ihre Hobbys (...) von der debating society (...) Sportclubs und Theatergruppen (...), dass die wirklich sich diesen Dingen widmen können, also im Sinne fast (...) Humboldtscher Ideale, dass man sich (...) frei bewegen kann und diese Ziele verfolgen kann, die man sonst nicht könnte, wenn man auf Essensjagd gehen muss, wenn alle möglichen Jobs nebenher machen muss, um sich zu finanzieren. Studenten bei uns, hier ist es verboten, zu arbeiten, Geld zu verdienen nebenher, deshalb muss am Anfang eines Studiums nachgewiesen sein, dass sie wirklich die drei Jahre (...) finanziell überbrücken, das geschieht in den meisten Fällen über irgendwelche (...) Stipendien und dann können sie sich wirklich hier voll ihrem Studium hingeben."

Mittagszeit in der "Dining Hall" des Clare College. Die Halle ähnelt einem kleinen Kirchenschiff. An langen Tischreihen sitzen die Studenten, am oberen Ende, dort, wo in der Kirche der Altar stände, tafeln an einem Quertisch die Dozenten. "High Table" wird dieser Platz genannt und tatsächlich liegen die Dielenbretter hier ca. fünfzehn Zentimeter über dem Boden des Hallenraumes. Am oberen Ende der hohen Seitenwände hängen Bilder, ernste Gesichter in Öl gemalt, die auf die Studenten hinabschauen. Eine Ahnengalerie. Alle Vorsteher des Clare-College sind hier verewigt.

Stuart studiert Geschichte am Clare-College:

"An einem Ort Geschichte zu studieren, der 800 Jahre alt ist, das heißt schon etwas, das ist ziemlich einzigartig. Das Clare College ist das zweitälteste in Cambridge, es wurde um 1326 errichtet. Dieses Gebäude ist 400 Jahre alt, das Zimmer, in dem ich wohne, wurde in der Zeit des englischen Bürgerkriegs gebaut, in der Zeit von Oliver Cromwell und Charles II. Das sind Themen, über die ich arbeite, und dann an einem solchen Ort zu wohnen, der vor Geschichte lebt, ja, doch, das heißt schon etwas. Der Speisesaal hier hat eine lange Tradition. Menschen haben hier seit Hunderten von Jahren gesessen und ihre Mahlzeiten immer zu den gleichen Zeiten eingenommen, mit den gleichen Ritualen. Und ich tue das Gleiche, was schon Generationen vor mir getan haben. Das mag ich, da läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter, das ist klasse."

Collegeleben ist Gemeinschaftsleben von Studenten und Dozenten. Das wird zwar heute nicht mehr so streng reglementiert wie früher – die Formen haben sich gelockert: Heute dürfen die Dons auch heiraten, bis 1870 war ihnen das verboten –, doch noch 1987 konnte Peter Burke, der damals frisch ans Emmanuel-College gekommen war, in einem ethnografischen Essay über seine Fellows, seine Mitgefährten und Kollegen, schreiben:

"Für viele Fellows bildet das College eine Gemeinschaft, besonders für solche, die hier schon länger als 20 Jahre sind oder für die Unverheirateten. Sie leben das ganze Jahr über im College. Das ist ihr einziges Zuhause. Sie haben ihren bevorzugten Lehnstuhl im Clubraum, wo sie Kaffee trinken, Zeitung lesen und über Kollegen herziehen. Diese "resident fellows", die ständig im College anwesend sind, geben dem Collegeleben die Atmosphäre eines altmodischen Hotels oder eines kleineren Londoner Clubs. Einige Fellows haben tatsächlich ihr gesamtes Erwachsenenleben hier zugebracht, von ihrer Militärzeit einmal abgesehen. Sie kamen hier vor 40 oder 50 Jahren als Studenten an und blieben."

Die Zahl der "Resident Fellows" hat sich inzwischen weiter verringert. Doch nach wie vor ist das Klubleben und die Verbundenheit zwischen Dozenten und Studenten groß und bildet immer noch ein konstitutives Element der Gelehrtenrepublik. Man lebt und lernt, feiert und trinkt zusammen und ist sich seiner Einzigartigkeit bewusst – wie schon Generationen von Dozenten und Studenten vorher.

Drei Jahre dauert ein Studium in Cambridge. Wer sich nach bestandener Prüfung auf eine Stelle bewirbt, hat gute Chancen, sie auch zu bekommen. Das war in den letzten 800 Jahren so und gilt auch heute noch. Über mangelnde Berufsaussichten können sich die Studenten nicht beklagen. Sie haben sich schon immer eines doppelten Nimbus erfreut: Zum einen steht ihre akademische Ausbildung in hohem Ansehen, zum anderen stammen Cambridge-Absolventen nicht gerade aus den Schmuddelecken der Gesellschaft, sondern gehören zur "upper class" in Großbritannien.

Das gilt zum großen Teil auch heute noch, obwohl die Universitäten in den letzten Jahrzehnten viel unternommen haben, den Zugang auch für Jugendliche aus anderen sozialen Schichten zu öffnen. Trotzdem: ein kollektiver Erinnerungsort ist Oxbridge vor allem für Kinder aus der Oberschicht geblieben, ein Ort, der über Jahrhunderte eine geistige Haltung geprägt hat, die kaum Selbstzweifel kennt, sondern selbstsicher in sich ruht.

Paul Ainsworth, der als Pressesprecher für die Bezirksregierung von Cambridgshire arbeitet und in den 1970er-Jahren in Cambridge englische Literatur studierte, fiel es zunächst schwer, als Student in Cambridge Fuß zu fassen: er stammt aus einer Arbeiterfamilie:

"Das war sehr komisch. Viele Studenten, die damals auch am College waren, hatten eine Public School besuchte, das sind ziemlich elitäre Privatschulen in England. Die zeigten sich alle so kultivierter, selbstsicherer und weltgewandter als ich, obwohl sie genauso alt waren wie ich. Oxbridge, das ist eine Säule der traditionellen britischen Gesellschaft. Einmal, weil man Teil der Tradition und Geschichte ist. Da sind aber auch die Werte, die diese Universität vermittelt, also die Gelehrsamkeit, die als ein Wert für sich gesehen wird, dass es sich lohnt, sie zu erlangen, nicht, weil sie Fähigkeiten für einen späteren Beruf vermittelt, sondern, weil sie einen Menschen hervorbringt, den so leicht nichts mehr erschüttern kann. Ein solcher Mensch wird im Leben mit jeder Situation fertig. Das ist eine großartige alte Denktradition in der britischen Oberschicht: Ihre Mitglieder sollten in die Welt hinausgehen und in jeder Situation bestehen können. Sie sollten Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben und wissen, dass sie führen können, weil sie einfach besser sind."

Während seines Arbeitslebens ist es Paul Ainsworth öfter passiert, dass Kollegen vor ihm zurückschreckten, wenn er sagte, dass er in Cambridge gewesen sei: Oh, Cambridge, oh, I see, oh, well. Paul Ainsworth spürte, wie die Kollegen insgeheim auf Distanz gingen und sein Wissen und Können plötzlich höher einschätzten als vorher. Wer aus der Gelehrtenrepublik stammt, steht im Licht und wirft Schatten – ein Leben lang.

Cambridge, die Universitätsneugründung von 1209, brauchte einige Jahrhunderte, um an Macht und Prestige mit der Rivalin von Oxford aufzuholen. Spätestens im 15. Jahrhundert, als die Dons auf die Seite der Reformierten wechselten, zog Cambridge mit Oxford gleich. Seine Position baute Cambridge später weiter aus, indem es Oliver Cromwell unterstützte statt Charles I. Das Duovirat Oxford und Cambridge beherrschte fortan die universitäre Szene, ist auch heute noch fast ungeschlagen. Allerdings hat sich London an die beiden Universitäten nahe herangekämpft. Deshalb ist heute auch weniger die Rede von "Oxbridge" als vom "Golden Triangle", vom goldenen Dreieck, wenn man von englischen Spitzenuniversitäten spricht.

Einen Kratzer bekam die Glorie der Oxbridge Universitäten in den 1980er-Jahren. Mit enormem bürokratischen Aufwand wurde damals – von der Regierung gefordert und durchgesetzt – nach der Qualität von Lehre und Forschung an den Universitäten im Land gefragt. Es war ein Schock ins System der Gelehrtenrepublik. Charlotte Klonk:

"In Cambridge und Oxford war man sich so sicher, dass man der beste Ort der Welt war. (...) Man musste sich nicht mit anderen Institutionen messen. (...) Und plötzlich stellte sich heraus, man war ja gar nicht die beste Institution in allen Fächern, (...) in den Naturwissenschaften zum Beispiel waren Oxford und Cambridge überhaupt nicht so besonders herausragend. Cambridge hat es jetzt in den letzten Jahren (...) wieder wettgemacht (...) Also es hat zu großen Unruhen geführt und auch großen Zerwürfnissen (...) in den Instituten selber, weil man auf einmal festgestellt hat, hier gibt´s Leute, die (...) sitzen ja nur am 'High Table' im College und machen gar keine Forschung mehr, die ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus. (...) Und das konnte man als Institut nicht mehr mittragen, weil hier auf einmal alle Beschäftigten gemessen (...) wurden und die Institute (...) eine Note bekommen haben und je nach der Note auch entsprechende Gelder."

Von alter Selbstherrlichkeit der Dons zeugte auch, dass sie Frauen bis spät ins 20. Jahrhundert hinein das Studium in Cambridge verwehrten. Erst 1972 öffneten die Colleges ihre Pforten auch für Frauen. Die Flaggen wehten damals auf Halbmast und die Dons, die sich gegen eine Aufnahme entschieden hatten, trugen eine schwarze Armbinde. Bis dahin hatten sie Frauen vor allem als Mütter, untergeordnete Ehefrauen und Prostituierte geschätzt, kaum aber als im Geiste gleichberechtigte Wesen.

Frauencolleges, die nur Frauen aufnahmen, existierten allerdings schon mit Einschränkungen vor 1972. Jennifer Wallace, Literaturwissenschaftlerin und Fellow am Peterhouse, dem ältesten College in Cambridge:

"Erst als die beiden Frauencolleges im späten 19. Jahrhundert gegründet wurden – Girton und Newnham – konnten Frauen hier studieren. Die Männer leisteten damals Widerstand, sie waren verunsichert, weil sie die Folgen nicht abschätzen konnten. Deshalb siedelte man Girton außerhalb der Stadt an - es dauert mit dem Fahrrad ziemlich lange, um dort hinzukommen. Man dachte, dass auf diese Weise die Männer die Frauen nicht ablenken konnten und umgekehrt. Frauen konnten also nur in Girton und Newnham studieren. Aber nur studieren, einen akademischen Grad durften sie nicht erwerben. Obwohl sie die gleichen Prüfungen ablegten wie die Männer. Ich glaube, erst 1948 erhielten auch Frauen ihren Abschlussgrad. Vor einigen Jahren fand hier in Cambridge eine Feier statt, bei der die Universität Frauen, die vor diesem Datum in Cambridge studiert hatten, nachträglich einen akademischen Grad verlieh. Ich war nicht auf der Feier, aber ich sah die Frauen, wie sie später durch die Straße prozessierten. Ein sehr bewegender Tag."

In der Gelehrtenrepublik von Cambridge werden Traditionen besonders gepflegt und gehätschelt. Sie sind ein wichtiges Lebenselixier, das die Collegegemeinschaften bei Stange hält, mittels dessen sie sich immer wieder ihrer selbst vergewissern.

Manchmal geht es dabei zu wie in Harry Potter-Filmen. Studenten, die in ihren Prüfungen besonders gut abgeschnitten haben, werden in einer feierlichen Zeremonie – auch hier ist der schwarze Talar vorgeschrieben -, zu Scholaren des College ernannt. Sie müssen schwören, dem Master des College und anderen Studenten zu gehorchen. Oder: Nach bestandenem Abschlussexamen knien Studenten in einer mittelalterlich anmutenden Zeremonie auf ein Holzbänkchen nieder, nehmen ihre Urkunde in Empfang und werden feierlich aus dem Collegeleben entlassen. Und alle machen mit und mögen es. Peter Burke:

"In dieser Hinsicht erinnert mich die Universität von Cambridge an einen dieser Computerläden in New York, die alle von chassidischen Juden mit der runden Kopfbedeckung betrieben werden. Sie nehmen das alte Testament sehr ernst, sogar wörtlich, aber sie kennen sich auch mit der neuesten Technologie von Macintosh aus. Früher habe ich Traditionen bekämpft. Ich ging damals an die neue Universität von Sussex und fühlte mich sehr glücklich. Es existierten keine Traditionen. Meine Kollegen und ich und was wir taten – das bildete die Tradition. Wir haben uns wie von einer alten Last befreit gefühlt, das war fantastisch. Aber es dauerte nicht lange, bis wir einige Traditionen vermissten. Besonders deutlich fiel uns das auf, als die erste Studentengeneration nach drei Jahren die Universität verließ. Ohne Verabschiedungszeremonie. Die Studenten kamen einzeln zu mir, um "Auf Wiedersehen" zu sagen. Manchmal war ich nicht da in meinem Büro, dann schrieben sie einfach ein paar Zeilen und gingen fort. Das hinterließ ein Gefühl der Leere. In Cambridge zelebrieren wir ein großes Ritual am Anfang des ersten Studienjahres, um die neuen Studenten zu begrüßen, wir veranstalten im zweiten Jahr ein großes Abendessen, da sitzen Studenten und Fellows zusammen, der 'High table' ist an diesem Abend abgeschafft und dann am Ende des dritten Jahres feiern wir mit einem großen Essen den Abschied. Diese drei Rituale markieren den Lebenszyklus eines Studenten an der Universität."

Die Pflege der Traditionen scheint dem geistigen Überschwang, der in Cambridge herrscht, Struktur und Form zu geben. Auch am Abend finden außerhalb des normalen Lehrbetriebs noch unzählige Veranstaltungen statt, die gut besucht sind. Beides, die alten Rituale, an denen man mit Lust partizipiert, weil sie den Einzelnen teilhaben lassen an einer Vergangenheit, auf die er stolz ist und die das Selbstbewusstsein natürlich ungemein stärkt und das Collegesystem der Tutorials, machen Cambridge ziemlich einzigartig und produzieren nicht nur von sich selbst überzeugte Eliten, sondern immer wieder auch helle, wache Köpfe. Jennifer Wallace:

"Ich glaube, Cambridge schafft es, seinen tief verwurzelten Traditionssinn mit Neugier und Offensein für Neues zu verbinden. Das ist Teil seines Erfolges. Ich vermute auch, dass die Aufgeschlossenheit neuen Ideen gegenüber und die Fähigkeit, selbst originelle Gedankengänge zu entwickeln, durch das Collegeleben gefördert wird. Weil das Lehr- und Lernsystem diese Art von Individualismus ausprägt. Es gibt nicht nur Massenvorlesungen, sondern eben auch diese Gespräche in sehr kleinen Gruppen. Da formt sich eine geistige Unabhängigkeit, die den Studenten befähigt, den eigenen Kopf zu gebrauchen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Dieses System hat in Cambridge immer wieder Individualisten hervorgebracht, auch Exzentriker, jedenfalls Menschen, die flexibel sind, experimentierfreudig, geistig frei. Genau das macht Cambridge aus."