Die ganze Wucht des Leidens

09.11.2010
Das Thema ist groß und erschütternd, Fachliteratur und Ratgeber gibt es reichlich. Das Buch "Demenz", herausgegeben von drei "Spiegel"-Journalisten, findet dennoch überraschend neue und andere Perspektiven.
Am Anfang verrutschen nur die Zeiger, dann verwirrt sich das Zifferblatt. Schließlich bleibt nur die wackelige Umrandung, darin ein paar hilflose Striche und Punkte. Eine Uhr zu zeichnen, scheint simpel, doch demente Menschen verlieren diese Fähigkeit schon in einem frühen Stadium. In so genannten "Gedächtnisambulanzen" nutzen Ärzte die Aufgabe mit der Uhr deshalb zur Früherkennung. Rund 1,2 Millionen Demenzkranke leben derzeit in Deutschland. Weil es immer mehr alte Menschen gibt, steigt ihre Zahl kontinuierlich.

Das Thema ist groß und erschütternd, Fachliteratur und Ratgeber gibt es reichlich. Das neue Buch "Demenz", verlegt in der Deutschen Verlags-Anstalt und herausgegeben von drei "Spiegel"-Journalisten, findet dennoch überraschend neue und andere Perspektiven. An die zwanzig Autorinnen und Autoren berichten aus Gedächtnisambulanzen, Pflegeheimen und Angehörigen-Gruppen, haben mit Ärzten, Pflegekräften und Rechtsexperten gesprochen. Nicht nur die dramatischen Fakten, sondern auch Hoffnungsschimmer, Momente der Liebe und des Optimismus loten sie aus.

So fühlen sich pflegende Angehörige der Sprunghaftigkeit und den Wutattacken Demenzkranker oft hilflos ausgesetzt. Doch es gibt Wege zu kommunizieren, erklärt die Psychotherapeutin Gudrun Hirsch vom Vorstand der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft und plädiert für das "psychobiografische Pflegemodell": Dabei konfrontiert man den Kranken nicht etwa mit seiner Vergesslichkeit, sondern spricht ihn bewusst und immer wieder auf seinen alten Beruf ("Guten Morgen, großer Lehrer!"), seine früheren Vorlieben und Werte an.

Wenn die Patienten selbst in Gesprächsrunden und Interviews zu Wort kommen, spürt man die ganze Wucht dieses Leidens, das Ringen um Würde, um Worte, um Identität. Mit einer ebenso schonungslosen wie berührenden Offenheit gibt der amerikanische Psychologieprofessor und Alzheimer-Aktivist Richard Taylor der Reporterin über Einsamkeit und Fischölkapseln Auskunft, schildert seine Zettelwirtschaft, die Entfremdung von seinen Freunden und seiner Frau und die wohltuenden Besuche der Enkeltochter, die den Großvater nimmt, wie er ist, und ihn mit Brettspielen wach hält.

Nahtlos fügt sich in die weiten Maschen dieser Sammlung aus kürzeren und längeren Essays, Reportagen, Interviews und Informationskästen auch ein literarischer Text des US-Autors Jonathan Franzen. "Das Gehirn meines Vaters" heißt er und erzählt, wie ein Sohn sich fühlt, der im Valentinspäckchen der Mutter zwischen Schokoladenriegeln und pinkfarbener Grußkarte auch ein Blatt Papier findet, darauf der Autopsiebericht des Pathologen, der das von Alzheimer zerfressene Gehirn seines toten Vater sezierte. Dicht und präzise schildert der Schriftsteller die Erfahrung der Angehörigen, all die Stadien des Nichtwahrhabenwollens und des Nichtbegreifens, der Ungeduld mit dem Kranken und eines endlosen Abschiednehmens.

Eine Heilung gibt es für Alzheimer nicht. Keine großen Hoffnungen. Die kleine besteht darin, mit Respekt behandelt zu werden. Dieses Buch ist dabei.

Besprochen von Susanne Billig

Annette Bruhns, Beate Lakotta und Dietmar Pieper (Hrsg.): Demenz - Was wir darüber wissen, wie wir damit leben
Deutsche Verlags-Anstalt
304 Seiten, 19,99 Euro
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