Die ganze Welt im Rechteck

Die Geschichte des Schreibtischtäters

Ein alter Schreibtisch mit Büromaterial: Stiften, Papier, Zettelkasten.
Der Schreibtisch als Zentrum der Macht: Von hier aus lassen sich Weltreiche regieren. © image
Achim Landwehr im Gespräch mit Katja Bigalke · 06.10.2018
Der Siegeszug des Schreibtisches begann im 16. Jahrhundert, als Weltreiche entstanden, die sich reisend nicht mehr regieren ließen. Nun wurde die Welt "auf die Fläche des Schreibtisches" gebannt, sagt Historiker Achim Landwehr: eine Entwicklung, die bis heute anhält.
Sie sind so unscheinbar – und doch klare Insignien der Macht: Schreibtische. Politiker wie US-Präsident Donald Trump setzen sich an sie, wenn es gilt, Entscheidungen zu fällen. Umgeben von der eigenen Entourage unterschreiben sie Verträge, halten diese dann demonstrativ in die Kamera.
Der Siegeszug dieses Arbeitsmöbels als Insignie der Macht setzte Anfang des 16. Jahrhunderts ein, sagt der Historiker Achim Landwehr – "mit der Expansion des Menschen in die Welt hinaus".

Als aus reisenden Monarchen Schreibtischtäter wurden

Als Staaten und Gesellschaften aus Europa begannen, die Welt zu erobern, taten sie dies über den Schreibtisch. "Weil die Welt einfach zu groß wird, die Entfernungen zu groß werden, und die Antworten darauf gewissermaßen die massive Konzentration der Welt ist, indem man sie auf die Fläche des Schreibtische bannt."
Zuvor war es noch entscheidend, vor Ort zu sein, um Macht auszuüben: um Schlachten zu schlagen oder Verträge mit Handschlag zu besiegeln. Doch als die Entfernungen wuchsen, habe man es sich irgendwann nicht mehr leisten können, diese Strecken immer wieder zurückzulegen, so Landwehr. Und so wurden aus reisenden Feldherren und Monarchen immer mehr Schreibtischtäter.
Frühes Beispiel für einen solchen Schreibtisch-Monarchen war Phillip II. von Spanien, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur in Spanien regierte, sondern auch über Kolonien in Südamerika und Asien herrschte. Dieser habe irgendwann "wirklich nur noch am Schreibtisch gesessen", weder seinen Hof, noch sein Zimmer verlassen.

Die Schreibtischtäter der NS-Zeit

Der Schreibtischtäter, als eine Person, die per Unterschrift über Schicksale entscheidet, sich selbst "nicht mehr die Finger schmutzig macht", bekam spätestens nach der NS-Zeit eine deutlich negative Konnotation, sagt Landwehr: "Das ist natürlich ganz klar besetzt mit den Schreibtischtätern des Nationalsozialismus, die wie Adolf Eichmann versucht haben, sich darauf rauszureden, sie hätten ja gar nichts gemacht, sie wären ja selber nie vor Ort gewesen."
Spätestens der Eichmann-Prozess habe deutlich gemacht, "dass die Verstrickungen zwischen Welt und Schreibtisch sehr viel enger sind und man sie bei weitem nicht von sich wegschieben kann".

Erfolgsgeschichte oder eine Geschichte vom Verlust der Welt?

Die ganze Welt, als Zeichen verpackt und auf das Rechteck der Arbeitsplatte gebannt. Der Schreibtischtäter, der nicht mehr den Raum verlässt und doch mit der ganzen Welt verbunden ist. Ein Paradox, das wir aber "bis heute kennen" und mit dem wir "völlig problemlos leben", meint Landwehr: Nur dass unser Schreibtische noch weiter schrumpfen, unsere Abbildung der Welt immer konzentrierter und digital vernetzt geworden ist.
Eine Erfolgsgeschichte oder eher eine Geschichte von dem Verlust der eigenen, selbst wahrgenommenen Welt? – Da ist sich der Historiker Achim Landwehr nicht so sicher. Vermutlich stimme beides, meint er. "Dass wir einerseits jede Menge verlieren, weil wir einerseits die Welt gar nicht unmittelbar mehr erfahren müssen. Gleichzeitig wird uns auf diese Weise sehr viel mehr Welt zur Verfügung gestellt, als wir unmittelbar je erfahren könnten. Ein Leben würde ja gar nicht reichen, um die Eindrücke persönlich und unmittelbar zu sammeln, die man in fünf Minuten über das Internet bekommt."
(lk)