"Die Frau auf dem Wagen"

Von Ulrike Gondorf · 29.01.2010
Mit dieser Figur fand der Bildhauer Alberto Giacometti auf eine Schlag seinen persönliche Ausdrucksweise: Der "Frau auf dem Wagen" ist deswegen einen ganze Ausstellung im Lehmbruck Museum in Duisburg gewidmet.
Leicht nach vorn geneigt steht die zarte Gestalt, der weiße Körper scheint aus sich selbst zu leuchten. Die Arme sind eng an den Körper gelegt, die langen Beine berühren den Untergrund, und doch scheint die Figur zu schweben. Große dunkle Augen unter bogenförmigen Brauen fixieren den Betrachter. Es könnte der Blick einer archaischen Gottheit sein, der über Jahrtausende hinweg auf uns fällt.

Der kleine Wagen, eher ein rollbares Brett, auf dem sie steht, ein rührend unbeholfenes Vehikel für ein Kultbild? Majestätisch, unnahbar, von der Aura eines Geheimnisses umgeben ist die "Frau auf dem Wagen" von Alberto Giacometti. Seit den 80er-Jahren ist sie im Besitz des Lehmbruck Museums.

"Das ist unsere Mona Lisa und die ist so bedeutend, dass man daraus eine eigene große Ausstellung machen kann."

Kurator Gottlieb Leinz hat dafür eng mit der Pariser Fondation Giacometti zusammengearbeitet, die den Nachlass des Bildhauers hütet. Über zwei Jahre Arbeit ergaben eine zuverlässige Datierung, haben die Identität des Modells gelüftet und auch sensationelle konservatorische Entdeckungen gebracht über das Innenleben der Gipsfigur, die Giacometti mit Holzbrettchen, Metallstiften, abgebrochenen Werkzeugen und anderen Atelierabfällen stabilisierte.

Die Ausstellung ist zugleich ein Forschungsprojekt, das seinen Niederschlag im reichhaltigen Katalog gefunden hat, und gilt einem Schlüsselwerk, betont Gottlieb Leinz. Denn die "Frau auf dem Wagen" ist die Arbeit, mit der Giacometti nach langjährigen tastenden Versuchen mit einem Schlag seine persönliche Ausdrucksweise gefunden hat. Da war er schon Mitte 40 und wegen des Krieges vorübergehend wieder in seinem Heimatland, der Schweiz.

"Es ist die Geburtsstunde eines Bildhauers. Er hat seinen Stil gefunden. Er hat seine Wahrnehmung realisieren können. Er hat jetzt ein Menschenbild. Und er hat auch eine Werkreihe anschließend gemacht, die sich immer wieder mit dem Thema der Frau beschäftigt."

Spannend ist der Blick zurück und der Blick nach vorn, den die Ausstellung von diesem Wendepunkt aus eröffnet. In Vitrinen sieht man winzige Statuetten, zwei bis drei Zentimeter große Figürchen, von denen Giacometti sich zu seiner eigenen Qual jahrelang nicht lösen konnte, nachdem er sich Ende der 30er-Jahre von der abstrakten, surrealistischen Skulptur ab - und dem menschlichen Abbild zugewandt hatte.

"Und dann kam eine radikale Situation, ein Zufall, eine Erinnerung an frühere Zeiten in Paris, dass es ihm gelang, eine große Figur zu machen, auf einmal. Und die hat er an die Wand gemalt, die war fast lebensgroß, und aus der Wand heraus hat er sie als Skulptur realisiert und auf einmal war da eine Riesenfigur."

Die Künstlerin Isabel Nicholas, mit der Giacometti vor dem Krieg in Paris eine Beziehung hatte, inspirierte ihn zu der Figur, die er nach jahrelanger Trennung aus der Erinnerung schuf. Die große Bühne in der Mitte des Ausstellungssaals gehört dieser "Frau auf dem Wagen" - neben dem Duisburger Werk gibt es zwei Varianten des Themas in Gips und einen Bronzeguss.

"Diese Figur, so hat Giacometti selbst festgestellt, ist der Beginn seiner typischen überlängten dünnen Figuren, die er seitdem entwickelt hat. Das ist das entscheidende Moment und die besondere Bedeutung dieser Figur."

Das kann man in der Ausstellung nachvollziehen, mit der monumentalen "Femme Leonie" etwa, einer jener wie mit dem Röntgenblick erfassten, beinah schwere- und materielosen Figuren, die die menschliche Physiognomie aufs Äußerste verdichten und dabei durch die filigrane Oberfläche in ganz direkten Austausch mit dem Raum treten lassen. Oder im Meisterwerk des "Großen Wagens", einem Prunkstück aus dem New Yorker Museum of Modern Art.

Fünf Jahre nach dem archaischen Idol auf dem Rollbrett hat sich die Gestalt der Frau in eine luftig-elegante, goldglänzende Göttin verwandelt, die einen Triumphwagen auf riesigen, sonnenhaften Rädern lenkt. Eine außerordentlich fesselnde Dokumentation von Fotos, die Giacometti bei der Arbeit zeigen, von Skizzen und Entwürfen, für die der besessene Arbeiter alles nutzte, was ihm gerade in die Finger fiel, von halb bedruckten Buchseiten bis zu Papiertischtüchern oder der Wandverkleidung seines Ateliers, gibt dem Besucher darüber hinaus auch eine Ahnung von der künstlerischen Persönlichkeit, die dieses erstaunliche und bis heute überaus einflussreiche Werk geschaffen hat.

"Sein Durchhaltevermögen, sein Wunsch, eine Figur perfekt zu machen, nie ans Ziel zu gelangen, sondern immer sich zu hinterfragen, kann man was noch ändern. Er hat selbst die Bronze noch bemalt, um sie menschlicher zu machen. Und diese Haltung ist wichtiger als sein Stil, und die macht ihn zu einem der wichtigsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts; wichtiger in der Skulptur als jeder andere"