"Die Franzosen" bei der Ruhrtriennale

Geister im Glaskasten

Agata Buzek und Claude Bardouil in dem Stück "Die Franzosen" in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck
Agata Buzek und Claude Bardouil in dem Stück "Die Franzosen" in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck © dpa / picture alliance / Bernd Thissen
Von Dorothea Marcus · 21.08.2015
Krzysztof Warlikowski gelingt mit "Die Franzosen" in Gladbeck ein grandioser Abgesang auf Europa. Nach Motiven von Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" zeigt er Langeweile, Borniertheit und Sehnsucht in großen Momenten.
Was bei Marcel Proust das in Tee getunkte Madeleine-Gebäck war, aus dem die gesamte Erinnerung entspringt, ist bei Krzystof Warlikowski eine spiritistische Séance – wie sie einst zum Zeitvertreib in den Fin-de-Siècle-Salons der Aristokratie betrieben wurde.
"Ich will Wahrheit! Ich will Leben!" haucht das Medium, das in Trance verfällt und die Geister der Vergangenheit hervorruft. Zuallererst den jüdischen Offizier Dreyfus, über den bei Prousts Gesellschaft eigentlich meist in Abwesenheit hergezogen wird: Die Dreyfus-Affäre, in der er zweimal unschuldig wegen Landesverrat verurteilt wurde, stürzte Frankreich um 1900 in eine schwere politische Krise und enthüllte tiefsitzenden Antisemitismus. Bei Warlikowski ist Dreyfus einer der drei Alter Egos des Autors, die durch den fünfstündigen Abend geistern. Ein müder, alter Erzähler, der zu Beginn desillusioniert an der Seite steht und über Grenzen philosophiert.
Die phallisch wabbelnde Orchidee
Die feine Gesellschaft in schwarzen Cocktailkleidern steht dagegen unter einem abgeschotteten Glaskasten und plappert sich besinnungslos in den Abgrund – ein schlichtes und schönes Bild für die Ignoranz des reichen Europas. Und zwischendurch sondert man schlimmste antisemitische Parolen im Salonton ab, ist rassistisch, ermattet, gelangweilt – und sexgeil. Devot staubt der Hausdiener (der großartige Tänzer Claude Bardouil) mit Schwarzen-Maske und Spitzentanzschuhen, unbekümmert "blackgefaced", immer wieder eine riesige, phallisch wabbelnde Orchidee ab: Die bürgerliche Langeweile ist nur durch den gepflegten Exzess zu ertragen.
Hinter dem Glaskasten ist ein kalter Edelstahl-Tresen aufgebaut, natürlich mit Uhr, denn es geht hier ja um die vergehende Zeit von vielen Jahrzehnten. Dort trifft man sich zuweilen, lässt aus Langeweile die Liebesaffärchen beginnen, die Proust so ausschweifend beschreibt, wild durcheinander, ob Männer oder Frauen – Videobilder von Seepferdchen-Kolonien und wuchernden Orchideen hat der Videokünstler Denis Guéguin dazu geschaffen, in all der manierierten Künstlichkeit liegt doch immer die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen verborgen.
SM-Spielchen aus dem Insektenreich
Auch wenn er die Chronologie der sieben Proust-Bände nicht wahrt, zieht Warlikowski an diesem Abend einen roten Faden durch die gewaltige Erzählung, in dem er aus den berühmtesten Szenen große Schauspielermomente kreiert. Die Schauspielerin und Mätresse Odette etwa, die den älteren Aristokraten Swann durch Gleichgültigkeit zur Verzweiflung treibt: Bei Warlikowski spielen sie zunächst SM-Spielchen aus dem Insektenreich nach, bevor Odette kalt und unbekümmert in die Oper geht und den flehenden Swann zurücklässt. Viele Szenen später sieht man die gealterte Odette betrunken durch die Szene stolpern, oder noch viel später als geschickt finanzgesicherter Geliebte eines Anderen. Viele Charaktere von Proust werden so durch die Jahre verfolgt, etwa der Erzähler, der erst als unbeteiligter Hipster-Jüngling in Turnschuhen und langen Haaren am Rand sitzt und sich später immer mehr in Liebesdinge verstrickt und im Ballett-Tutu vom Hausdiener vergewaltigt wird.
Unter all dem liegt jedoch ein melancholischer, klagender Ton, die Diagnose einer Endzeit, ein Abgesang auf Europa, das sich abschottet, das alt, degeneriert und verbraucht ist und sich nicht mehr auf dem Reichtum ausruhen kann. Das wäre sicher keine sehr originelle Aussage, wenn bei Warlikowskis "Franzosen" nicht doch auch das gefeiert würde, was Europa ausmacht: die Kunst. Und so wird einer der grandiosesten Momente des Abends, als der Cellist Charles Morel (am echten Cello: Michal Pepol) im Salon der Sidonie Verdurin aufspielt.
Dazu werden Grafikanimationen von wuchernden Blumen und Schmetterlingsschwärmen projiziert. Mit der Kamera fliegt man durch mythische Wälder, mal vernebelt, mal sonnenbeleuchtet, und fühlt sich erhaben in der Sehnsucht nach Schönheit, Wahrheit und Liebe – nur in der realitätsfernen Kunst ist das möglich, aber immerhin, ein großer Moment. In der gigantischen Maschinenhalle Gladbeck flattern zu allem Überfluss auch noch zwei echte Fledermäuse durch die Szenerie. Zum Schluss hängen die ergrauten Proust-Gestalten ermattet an der Bar oder am Tropf: Wer niemanden hereinlässt, erstarrt auf verbrecherische Weise in Ignoranz.
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