Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux

Die Meisterin des Autofiktionalen

05:44 Minuten
Annie Ernaux
Die Autorin Annie Ernaux hat Verständnis für die Anliegen der Gelbwesten-Bewegung. © imago/ZUMA Press/Ulf Andersen/Aurimages
Von Dirk Fuhrig · 24.03.2019
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In Frankreich ist Annie Ernaux für ihre autofiktionale Literatur berühmt. In ihren Büchern schreibt sie über sich und ihre Herkunft. Noch wichtiger ist es für sie, in Zeiten der Gelbwesten-Proteste auf die gesellschaftliche Spaltung hinzuweisen.
Annie Ernaux ist gerade vor einem begeisterten Publikum auf der lit.cologne aufgetreten, als wir miteinander sprechen – mit ihrem Roman "Der Platz", ein Buch, das sie vor mehr als 35 Jahren geschrieben hat, und das nun in einer Neuübersetzung erschienen ist. Ein autobiografischer Text, in dem sie sehr offen das Leben ihres Vaters schildert, der als Wertarbeiter und Kleinkrämer in prekären Umständen gearbeitet hatte:
"Als der Text in Frankreich erschien, war das für alle eine Überraschung. Wie konnte jemand auf diese Weise über jemanden aus der Arbeiterklasse schreiben? - Heute haben sich die Zeiten geändert. Es gibt jetzt eine große Sensibilität, was gesellschaftliche Unterdrückung anbetrifft. In den 80er-Jahren, als ich das Buch schrieb, war es unangebracht, von einer 'Klassengesellschaft' zu sprechen."

Didier Eribon und Édouard Louis nennen sie ihr Vorbild

In Deutschland kennt man die 78 Jahre alte Schriftstellerin erst seit kurzem etwas besser. "Erinnerungen eines Mädchens" und "Die Jahre" waren ihre erfolgreichen Bücher. In beiden erzählt sie ebenso "autofiktional" wie in "Der Platz":
"In 'Der Platz' nehme ich die Perspektive eines Menschen ein, der die Klassenunterschiede und damit die gesellschaftliche Unterdrückung internalisiert hat."
Dass Annie Ernaux jetzt auch in Deutschland mit großer Begeisterung entdeckt wird, hat sicher auch damit zu tun, dass soziale Fragen wieder dringlicher gestellt werden, auch hierzulande. Der französische Soziologe Didier Eribon und sein Schüler Édouard Louis sind bei uns gefeierte Stars - mehr als in ihrer Heimat Frankreich. Beide verehren Annie Ernaux als Vorbild.
Die Schriftstellerin kommentiert das knapp und mit Bescheidenheit:
"Ich freue mich sehr, dass die Bücher von Didier Eribon und Edouard Louis so populär sind."

Politisch bei den Gilet jaunes

Nicht nur das "autofiktionale Schreiben", also die in Romanform verpackte, exemplarische Autobiographie, haben die drei gemeinsam. Auch in ihrer politischen Haltung ist sich Ernaux mit Eribon und Louis einig. Gerade was die "Klassenfrage" und die neue soziale Bewegung in Frankreich angeht.
"Hinter den Gilets jaunes steht kein intellektuelles Konzept. Von denen hat ganz sicher keiner Pierre Bourdieu gelesen, und wohl auch kaum etwas von Didier Eribon oder Édouard Louis. Aber durch die Kraft des Faktischen haben die Gelbwesten ein politisches Bewusstsein entwickelt."

Gelbwesten - keine perfekten Revolutionäre

Und dass die Gelbwesten-Bewegung immer mehr durch Gewaltexzesse in die Schlagzeilen gerät? - Für Annie Ernaux ist es eine Art Kollateralschaden:
"Man würde sich sicherlich den idealen Revolutionär wünschen, der in allem perfekt ist. Aber das ist nicht möglich. In so einer Bewegung kann es natürlich Leute geben, die antisemitische oder fremdenfeindliche Tendenzen haben. Und es ist klar dass die extreme Rechte, Marine Le Pen, versucht, das für sich zu vereinnahmen. Es gab diesen Vorfall mit dem Philosophen Alain Finkielkraut, der antisemitisch beschimpft wurde.
Aber auch sonst in der Gesellschaft grassiert der Antisemitismus, nur wird der nicht so in den Fokus gerückt. Es sind eben alle Mittel recht, um die Gilets jaunes zu diskreditieren."

"De-Klassierung" durch die Art zu sprechen

Die engagierte Dame schreibt seit Jahrzehnten an ihrem Projekt der literarischen Selbstvergewisserung. Der reflektierende, oft kühl analysierende Rückblick auf das eigene Leben ist die Stärke ihrer Literatur. Noch wichtiger als das Verhältnis Mann-Frau ist es für sie, immer wieder auf die gesellschaftliche Spaltung gerade in Frankreich hinzuweisen.
"Die Kluft zwischen mir und meinen Eltern hat sich an Dingen wie dem Geschmack, dem Stil gezeigt - aber vor allem in der Ausdrucksweise. Denn in der Sprache wird die Klassenzugehörigkeit ja am deutlichsten. Über die 'De-Klassierung' durch die Art zu sprechen könnte ich Ihnen stundenlang etwas erzählen. Als ich anfing, als Lehrerin im Gymnasium zu unterrichten, musste ich mir eine andere Sprache angewöhnen, und lange Zeit fühlte ich mich so, als wäre ich gar nicht ich selbst."

Auf der Suche nach dem Platz in der Gesellschaft

"Der Platz" – der Titel dieses Buchs sagt viel über ihre eigene Suche nach ihrer Position in einer Gesellschaft, die – sie empfindet es so wie nicht wenige Franzosen und Deutsche – immer weiter auseinander driftet.
Annie Ernaux,die große alte Dame der sozial engagierten Literatur, geht zwar nicht mit den Gilets jaunes auf die Straße. Mit fast 80 Jahren ist ihre Waffe die Literatur, das Schreiben. Ein neues Buch ist in Arbeit, verrät sie am Schluss unseres Gesprächs. Worum es geht, allerdings noch nicht.
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