Die französische Provinz vor der Wahl

Wo die Uhren anders ticken

Region Cantal
Die ländliche Region Cantal © Deutschlandradio / Burkhard Birke
Von Burkhard Birke · 19.04.2017
In der französischen Region Cantal leben mehr Kühe als Menschen. Kaum eine Gegend verkörpert wohl besser das ländliche Frankreich, wo die Menschen hart arbeiten und jeder jeden kennt. Paris ist weit weg, zu weit, um wohl die Menschen und ihre Probleme noch zu verstehen.
Abwechslung ist durchaus willkommen in Chaussenac. Schnell entfaltet sich ein angeregtes Gespräch mit dem weitgereisten Besucher im einzigen Café des 232 Seelen- Dörfchens. Sebastien Lac sitzt im Overall an der Theke, nippt an der kleinen Tasse mit dem petit noir, nimmt einen Schluck Espresso und legt los:
"Die Pariser haben eine schlechte Meinung von uns Landwirten."
Und dann erzählt der schlanke Mittdreißiger von seiner Erfahrung auf der Landwirtschaftsmesse, wo sich die Pariser darüber mokiert hätten, wie mager einige Kühe der Rasse Holstein waren. Paris und Chaussenac trennen eigentlich nur 550 Kilometer, sechs bis sieben Stunden Autofahrt – es liegen jedoch Welten zwischen der Hauptstadt und dieser Ecke des tiefen ländlichen Frankreich.
"In Paris? Da könnte ich niemals leben. Hier nehmen wir uns Zeit und die sind immer in Eile. Wir leben viel draußen, das war schon immer so. Wir gehen auf die Jagd, gehen angeln. Wir leben mit Tieren. Hier gibt es Platz. Man hat seine Ruhe und wird nicht von den Nachbarn genervt."

Victor ist Anfang 20, verdingt sich als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und träumt davon, eines Tages selbst Rinder oder Milchkühe zu züchten, so wie Sebastien Lac. Der kommt immer mehr in Fahrt, echauffiert sich nicht nur über die Geringschätzung der Pariser für seinen Berufsstand, sondern auch für seine Produkte.
Bauer Sébastien Lac
Der Bauer Sébastien Lac mit einem Melkroboter© Deutschlandradio / Burkhard Birke
"Ein Kilo Käse kostet in Paris 49,90 Euro. Hier bekommt man den guten Cantal für 15 Euro das Kilo."
Und Sebastien nur 33 Cents den Liter für die Milch seiner Kühe.
"Das ist nicht rentabel. Wir bräuchten 45 Cents, um unsere Ausgaben zu decken, die Kredite zu bedienen. Für uns bliebe da noch immer nichts übrig."
Dabei hat Sebastien Lac in die Zukunft investiert: Seine 70 Kühe werden von einem 150.000 Euro teuren Roboter gemolken. Wie viele Milchbauern im Cantal leidet Sebastien Lac jedoch unter der Aufhebung der Milchquote. Von den Politikern fühlt er sich im Stich gelassen.
"Die sind doch alle gleich. Alle versprechen viel, aber wir Bauern sind in der Politik nicht gut angesehen. Viele Bauern wählen Front National. Viele sagen jedenfalls, dass sie ihn wählen werden – wieviele? - Keine Ahnung! Ich selbst bin noch unentschlossen. Ich hatte eine Partei, aber wir sind belogen worden – man hatte uns viel versprochen. Manchmal frage ich mich, ob Front National zu wählen nicht eine Lösung wäre. Ich habe aber Angst, Europa zu verlassen. Dann hätte ich keinen Job mehr."

147.000 Einwohner und etwa drei Mal so viele Rinder und Kühe zählt man im Cantal: Viele Milchbauern und Viehzüchter der Region können eigentlich nur mit den Hilfen der europäischen Agrarpolitik überleben. Jean Marie Duffayet ist auch einer von ihnen. Er arbeitet allerdings sehr traditionell. Anders als Sebastien Lac ist der 62-Jährige noch nicht mit einem Melkroboter in der Arbeitswelt 4.0 angekommen. Er denkt eher an die Rente und daran, seinem Sohn die 70 Kühe ganz zu überlassen.
Jacques Klem
Jacques Klem, Bürgermeister des französischen Dorfes Chaussenac.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
"In zwei Jahren gehe ich in Rente, wenn alles gut läuft. Da aber nichts gut läuft… Das widert uns alles an. Ich habe keine Angst, das zu sagen. Das widert mich an. Ich werde zwischen 680 und 700 Euro Rente pro Monat bekommen – wirklich eine kleine Rente und das obwohl ich seit meinem zwölften Lebensjahr gearbeitet habe."
Tiefe Furchen im Gesicht, Schwielen an den Händen: 70 Stunden Wochen zeitlebens haben ihre Spuren bei dem hageren Mann hinterlassen. Die Auseinandersetzung über die Abschaffung oder Beibehaltung der 35 Stunden Woche im Wahlkampf: Darüber kann Jean Marie Duffayet nur die Stirn runzeln. Am Ende des Monats hat er nicht einmal annähernd den Mindestlohn. Überleben kann Jean Marie Duffaillet schon jetzt nur, weil er eine niedrige Pacht, einen Gemüsegarten hat und Geflügel sowie Hammel zum Schlachten züchtet.
"Wir leben, nicht gut, aber wir leben. Das Leben ist sehr hart heutzutage – weil wir die Kälber zum gleichen Preis wie vor 30 Jahren verkaufen. Ein Kalb der Rasse Salers für 1330 Francs!"

Ein bisschen wie anno dazumal

Die Zeit scheint stehen geblieben hier im Cantal. Selbst die Währungsumstellung scheint an Menschen wie Jean Marie Duffayet vorbeigegangen. Er verrichtet seinen Job wie anno dazumal. Das einzig moderne in dem zur Pacht gehörenden bescheidenen Haus aus grauem Vulkangestein sind der Fernseher und der Ofen, der an der Stelle des traditionellen gemauerten Kamins in der Küche steht. Vor dem Haus steht ein uralter Peugeot 205 Diesel mit mehr als 300.000 Kilometern auf dem Buckel – mehr kann sich die Familie nicht leisten.
Er sieht keinen Präsidentschaftskandidaten, der ihn aus seiner Misere zieht, Versprechen würden sie aber alle viel, glaubt Jean Marie Dufayet, der im Gegensatz zu anderen immerhin eines bewahrt hat: Seinen Stolz und seinen Lebensmut:
"Es ist dramatisch. Einige Bauern haben sich das Leben genommen. Sie konnten ihre Kredite nicht mehr abbezahlen. Das ist eine Schande! Ich kenne einen, der war erst 36. Er war verheiratet. Seine Frau hat jetzt den Hof verpachtet."
Wer als Landwirt eine Überlebenschance will, muss auf Wachstum und moderne Technik setzen, verschuldet sich häufig und bricht angesichts des Preisverfalls für Agrarprodukte unter der Last der Kredite zusammen. Nicht nur im Cantal sehen die Landwirte ihre Existenz bedroht.

Menschen fühlen sich abgekoppelt

Überall im ländlichen Frankreich fühlen sich die Menschen zusehends abgekoppelt. Dörfer wie Chaussenac sterben immer mehr aus. Vor 27 Jahren wurde der ursprünglich aus Lothringen stammende Jacques Klem zum Bürgermeister gewählt. 340 Einwohner zählte die Gemeinde damals. Heute sind es noch 232. Die Bevölkerung schrumpft stetig. 1700 Einwohner verlor das neuerdings zur Region Lyon Rhône Alpes zählende Departement Cantal zwischen 2009 und 2014. Das hat Konsequenzen.
Jacques Klem: "Die Schule wurde geschlossen. Es gab nur noch ein Dutzend Schüler. Die haben wir dann ins Nachbardorf geschickt. In 25 Jahren hat sich die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe halbiert. Größere Betriebe, mehr Arbeit, mehr Industrialisierung der Landwirtschaft. Als es mehr Bauern gab, gab es mehr Nähe und Solidarität. Damals gab es jeden Sonntag eine Messe. Jetzt nicht mehr. Der Pfarrer ist für 17 Gemeinden zuständig. Als es noch die Messe gab, sind die Leute anschließend ins Café gegangen. Heute gehen die Leute nur noch nach Beerdigungen ins Café."
Tod auf Raten!? Einsam und verloren ragt der Turm der weiß angestrichenen Kirche empor. Wie lange das Café mit angeschlossenem Kolonialwarenladen von Anne Marie Lac noch überlebt ist fraglich.
"Wir und eine Friseurin das sind die einzigen Geschäfte, die es noch gibt. Früher gab es eine Menge Geschäfte in Chaussenac. Wir haben den Laden vor acht Jahren übernommen, aber jedes Jahr sinkt der Umsatz. Die Bevölkerung wird immer älter. Letztes Jahr sind zehn Personen gestorben, das bedeutet zehn Kunden weniger."


Gegen diesen Trend kann die Lokalpolitik wenig ausrichten. Mehr Mittel für die Regionalförderung, eine gezieltere Entwicklung ländlicher Regionen wünscht sich Bürgermeister Jacques Klem. Bis vor kurzem war er noch Mitglied der sozialistischen Partei. Im Cantal zählt die Persönlichkeit mehr als die politische Ausrichtung: Deshalb wurde der mittlerweile pensionierte Agraringenieur in diesem konservativen Milieu stets wiedergewählt. Auch bei ihm hat sich jedoch Frust eingestellt, Frust vor allem über die Pariser Politik. Wegen der umstrittenen Arbeitsrechtsreform ist der über 70-Jährige aus der sozialistischen Partei ausgetreten. Auf kommunaler Ebene bemüht er sich um Ausgleich: Vor allem auch zwischen Nostalgikern, die als Rentner im Cantal das ursprüngliche Frankreich suchen und den Bewohnern, die ständig hier leben. Bislang ist dem erklärten Linken der Spagat gelungen, aber:
Blick über eine Kuhweide auf Salers im Departement Cantal. (Undatiert). Der mittelalterliche Charakter des Ortes wurde bis heute erhalten.
Blick über eine Kuhweide auf Salers im Departement Cantal. Der mittelalterliche Charakter des Ortes hat sich bis erhalten.© picture-alliance / dpa / Klaus Kerth
"Wenn ich am Morgen nach dem zweiten Wahlgang aufwache und eine Mehrheit meiner Wähler Front National gewählt hat, dann werde ich mir grundlegende Fragen stellen und womöglich mein Amt aufgeben."
Eine Mehrheit für den Front National in der ländlichen Idylle, die am Subventionstropf Brüssels hängt und wo weit und breit kein Mensch anderer als weißer Hautfarbe zu sehen ist? Nichts scheint mehr undenkbar. Im benachbarten Brageac, einem 66 Einwohner Dorf wie aus dem Bilderbuch mit einer romanischen Kirche und hübsch aneinandergereihten Vulkansteinhäuschen, treffe ich Jeannine Cabanne, die ihre 78 Jahre allesamt ausschließlich in der Auvergne gelebt hat.

Menschen ärgern sich über Politiker

Ein Willkommensgruß im Dialekt, der immerhin noch von der Hälfte der sehr bodenständigen und eher als zurückhaltend geltenden Menschen hier gesprochen wird. Beim Thema Politik gibt Jeannine Cabane ihre Zurückhaltung auf.
"Ich ärgere mich oft. Die Haltung von Fillon stört mich sehr. Ich mag nicht, wenn die Leute falsch sind. Entweder man vertritt bestimmte Ideen und respektiert diese oder nicht, aber man bricht doch nicht sein eigenes Wort."
Als skandalfreier Saubermann war der Kandidat der konservativen Republikaner als Sieger der Vorwahl hervorgegangen, bis ihn die Vergangenheit einholte. Jahrelange hat er Frau und Kinder als Parlamentsassistenten mutmaßlich ohne Gegenleistung beschäftigt. Es geht um knapp eine Million Euro insgesamt! Dann kam raus, dass er zwei Luxusanzüge im Wert für 13.000 Euro geschenkt bekam, Luxusuhren ebenfalls. Und dieser Mann will Frankreich eine harte Spar- und Reformkur verabreichen?
"Ich verstehe bei Francois Fillon und bei Marine Le Pen übrigens auch nicht, wie die antreten können, von den Leuten Ehrlichkeit verlangen, und selbst nicht aufrichtig sind."
Auch Huguette Haag, die seit Jahr und Tag in Chaussenac lebt, ist enttäuscht – und erinnert daran, dass auch der Front National im Verdacht steht, Assistenten des Europaparlaments für die Parteiarbeit eingesetzt zu haben. Eine schon seit langem bekannte Affäre. In Brageac hat sie die Wähler nicht abgeschreckt, wundert sich Jeannine Cabane.
"Wir haben doch ein relativ ruhiges Leben. Wir werden nicht von diesem oder jenem heimgesucht. Hier gibt auch keine Ausländer. Ich kann mir das nicht erklären, aber die Leute sind manchmal merkwürdig. Wir sind keine große Gemeinde, aber der Front National hat eine Mehrheit, schon immer."

Zweifel an Wahlversprechen

In Brageac kommt der patriotische Ton von Marine Le Pen offenbar gut an. Sie verspricht vor allem Wirtschaftspatriotismus, will französischen Landwirtschaftserzeugnissen Vorrang einräumen, die gemeinsame europäische Agrarpolitik durch eine französische Politik der Unterstützung für Bauern ersetzen und die Grenzen für Einwanderer und Konkurrenzprodukte dicht machen, die den französischen Normen nicht entsprechen. Jean Marie Fabre hält nicht viel von solchen Versprechen. Er ist Viehzüchter, konservativ und Bürgermeister einer anderen kleinen Gemeinde, von St. Chamant. Er hat Jean Lassalle seine Unterstützung für dessen absolut aussichtslose Präsidentschaftskandidatur gegeben.
"Die ländlichen Gebiete spielen in der Politik generell und auch in diesem Wahlkampf keine Rolle. Die Frage der ländlichen Entwicklung ist zweitrangig. Natürlich gibt es Vorschläge, aber die werden nicht mit dem nötigen Nachdruck vertreten."
Und das nicht erst seit gestern. Seit Jahren fühlt sich das ländliche Frankreich ausgeschlossen.
"Wir werden allein gelassen. Das ist ein Handicap. Die anderen müssten ein wenig an uns denken. Die ländlichen Gegenden leisten doch ihren Beitrag zum Gemeinwohl. Man isst doch gerne unseren Käse, den Cantal, unser Fleisch und unsere Wurst."
Mahnt der über 80-jährige Jean Pierre Lagane. Jahrelang hat er als Tourismussekretär in Salers gearbeitet, einer anderen kleinen Gemeinde wie aus dem Bilderbuch, die der Rasse der rot braunen Rinder der Region ihren Namen gegeben hat. Im Sommer kommen die Touristen und die Besitzer der zu Feriendomizilen umgebauten alten Bauernhäuser. Sie genießen die Abgeschiedenheit in der eher kargen grünen Hügellandschaft, kommen zum Wandern, Kajakfahren oder einfach nur um die Ruhe zu genießen, die Bewohner wie der Schreiner Jean Louis Belhomme das ganze Jahr über genießen.

Die idyllische Ruhe soll bleiben

"Hier kannst Du mitten auf der Straße anhalten, da sagt niemand etwas. Man kann alles draußen lassen, die Häuser werden nicht abgeschlossen, hier kommt nichts weg. Wir leben ruhig hier. Wir kümmern uns um den Garten, die Hühner, die Hasen."
Die idyllische Ruhe soll bleiben – die hart arbeitenden Menschen in der Auvergne wie Jean Louis Belhomme sehnen sich jedoch nach besseren wirtschaftlichen Bedingungen.
"Arbeit für alle und weniger Ausländer sollen ins Land kommen. Dann könnte es besser werden. Und natürlich darf es keine Atom- oder Chemiewaffenangriffe geben. Es muss was passieren, sonst fährt alles gegen die Wand. Ich werde nicht sagen für wen ich stimme, aber ich glaube, der Front National hat Chancen."
Bahnt sich auch im Cantal, dort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, wo man sich von der Politik im Stich gelassen fühlt, ein Vormarsch der Rechtspopulisten an? Auszuschließen ist es nicht, wahrscheinlicher scheint jedoch das, was George Haag ´vote utile` nennt. Abgestimmt wird nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand.
"In Frankreich haben wir keine Wahl mehr. Wir wählen das kleinste Übel. Um Le Pen zu verhindern, wählen wir Macron, damit wir nicht am Ende Fillon bekommen."

"Weltzeit"-Serie: Frankreich vor der Präsidentschaftswahl vom 18.4. bis 20.04.17
Am 23. April 2017 beginnt in Frankreich die Präsidentschaftswahl. Der Staatspräsident wird direkt vom Volk gewählt. Da laut Umfragen einige KandidatInnen nahezu gleichauf liegen, wird aller Voraussicht nach keiner im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit erzielen. Somit ist von einem zweiten Wahlgang auszugehen, der für den 7. Mai geplant ist. Die "Weltzeit" beschäftigt sich in drei Sendungen mit der politischen Lage des Landes und dem Wahlkampf.

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