Die Frage nach dem Warum

Rezensiert von Michael Schornstheimer · 15.05.2006
Hannah Arendt nahm in den führen 60er Jahren an dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem teil. Ihre Erkenntnisse fasste sie in dem Buch "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen" zusammen. Einige Jahre nach dem Prozess widmete sie sich in einer Vorlesungsreihe in New York erneut der Frage, weshalb sich die "gewöhnlichen Leute" an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt hatten. Ihre Vorlesung zu ethischen Fragen ist unter dem Titel "Über das Böse" nun auf Deutsch erschienen.
Zwei Jahre waren seit der Publikation ihres Berichtes über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem vergangen. Da trat Hannah Arendt vor ihre Studenten in der New School for Social Research um über "einige Fragen der Moralphilosophie" nochmals systematisch nachzudenken. In Deutschland hatte die so genannte "Aufarbeitung der Vergangenheit" gerade erst zaghaft begonnen.

In Frankfurt am Main ging der Auschwitzprozess seinem Ende entgegen. Manche Zeitgenossen hofften, damit ließe sich das Kapitel Nationalsozialismus ein für allemal schließen. Doch die aus Deutschland vertriebene Philosophin wusste es besser. Sie war sich sicher, dass es erst richtig losging, denn die Verbrechen waren zu monströs, um abgehakt zu werden:

"Ich habe gewöhnlich gesagt, dass dies etwas ist, das niemals hätte geschehen dürfen; denn die Menschen werden unfähig sein, es zu bestrafen oder zu vergeben. Hiermit uns zu versöhnen und es zu begreifen, werden wir nicht in der Lage sein. (...) Dies ist eine Vergangenheit, die mit den Jahren schlimmer geworden ist, und das vor allem deshalb, weil die Deutschen sich so lange Zeit weigerten, sogar die Mörder unter sich vor Gericht zu stellen, aber teilweise auch weil diese Vergangenheit von niemandem 'bewältigt' werden konnte. Sogar die berühmte heilende Kraft der Zeit hat sich hier nicht eingestellt."

Warum? Das Nazi-Regime, argumentiert Hannah Arendt, hat den bis dahin gültigen Wertekanon umgeworfen und ein neues Unrechtssystem als Recht installiert. Damit schuf es den Typus des Mitläufers. Dass die überzeugten Nationalsozialisten bei den Verbrechen mitgemacht haben, war keine Überraschung. Aber auch diejenigen, die nicht überzeugt waren, die Karrieristen, die Technokraten und die biederen, kleinen Beamten konnten sich einreden, mitmachen zu müssen oder zu dürfen.

"Es wird fast immer übersehen, dass das, was moralisch wirklich zur Debatte steht, nicht beim Verhalten von Nazis, sondern bei denjenigen auftrat, die sich nur 'gleichschalteten' und nicht aus Überzeugung handelten. (...) Die Moral zerbrach und wurde zu einem bloßen Kanon von 'mores' - Manieren, Sitten, Konventionen, die man beliebig ändern kann - nicht bei den kriminellen, sondern bei den gewöhnlichen Leuten."

Diese gewöhnlichen Leute taten einfach, was die Obrigkeit und das Gesetz von ihnen verlangte. Diese Tatsache lässt für Hannah Arendt scheinbar gesicherte philosophische Grundannahmen einstürzen. Kants Kategorischen Imperativ zum Beispiel. "Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz für Alle werden kann". Aber wie soll einer handeln, wenn das Gesetz verbrecherisch ist?

Kant muss etwas davon geahnt haben, meint Hannah Arendt, denn warum sonst sollte er wiederholt erklärt haben, der "wirklich faule Fleck" in der menschlichen Natur sei das Vermögen zu lügen. Nietzsche brachte das später auf den Punkt mit seiner berühmten Formulierung: "Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."

"Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. (...) Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbare Extrem entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten. (...) Anders gesagt, wenn vergeben wird, dann wird nicht das Verbrechen vergeben, sondern der Person; beim wurzellosen Bösen gibt es keine Person mehr, der man je vergeben könnte."

Hannah Arendt eilt in ihren vier Vorlesungen durch die Geschichte der Philosophie. Sie streift das Alte und das Neue Testament, verweilt bei Augustinus und kommt immer wieder auf die Griechen zurück. Schließlich findet sie allein im subversiven Denken von Sokrates die Moral, auf die in Krisenzeiten und Ausnahmezuständen Verlass ist.

"Denken ist im Gegensatz zur Kontemplation, mit der es allzu häufig gleichgesetzt wird, wirklich eine Tätigkeit, mehr noch eine Tätigkeit, die bestimmte moralische Ergebnisse hat, nämlich dass der, der denkt, sich selbst als ein Jemand, als eine Person oder Persönlichkeit konstituiert."

Der größte denkbare Gegensatz zur Person oder zur Persönlichkeit war für Hannah Arendt der Typ Mensch, den sie in Adolf Eichmann gefunden hat. Die Nicht-Person, die glaubhaft beteuerte, keine eigenen Ansichten und Absichten gehabt, sondern nur gehorcht zu haben.

Franziska Augstein vermutet in ihrem Nachwort, Arendt habe sich von Eichmann täuschen lassen und sei seiner Verteidigungsstrategie aufgesessen. Denn der Angeklagte habe in damals noch nicht bekannten Protokollen geäußert: "Ich war kein normaler Befehlsempfänger, dann wäre ich ein Trottel gewesen, sondern ich hab mitgedacht." Doch selbst wenn Hannah Arendt sich in Eichmann getäuscht haben sollte, ist es faszinierend, ihren lebhaften Gedankengängen zu folgen.

Hannah Arendt: Über das Böse - Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik
Piper Verlag, 198 Seiten