Die Folgen rhetorischen Unvermögens

Der ehemalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU)
Der ehemalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) © picture alliance / dpa /Martin Athenstädt
Von Otto Langels · 11.11.2013
1988 hielt der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger vor dem Plenum eine Gedenkrede zur Reichspogromnacht. Seine Wortwahl erwies sich jedoch als äußerst ungeschickt. Ohne hörbare Distanz verwendete er Nazi-Begriffe. Sein "mangelndes gedankliches und sprachliches Einfühlungsvermögen" kostete ihn sein Amt.
"Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt."

Als Philipp Jenninger am 10. November 1988 diese Sätze im Deutschen Bundestag sprach, verließen die ersten Abgeordneten empört den Plenarsaal. Der Bundestagspräsident erinnerte in der Gedenkstunde zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 an die außenpolitischen Erfolge Hitlers, er verwies auf den Abbau der Massenarbeitslosigkeit und den Wohlstand breiter Schichten im Dritten Reich.

"Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen?"

Philipp Jenninger lag es fern, den Nationalsozialismus zu verharmlosen oder zu rechtfertigen. Er wollte den Zuhörern lediglich verständlich machen, warum in den Jahren nach 1933 die große Mehrheit der Deutschen hinter Hitler stand und die Politik des NS-Regimes guthieß.

Doch die Absicht misslang gründlich, weil der Bundestagspräsident eine rhetorisch miserable Rede hielt, nur marginal auf die Schrecken der Diktatur einging und ohne hörbare Distanz Nazi-Begriffe aus dem Wörterbuch des Unmenschen verwendete; zum Beispiel in seinen Ausführungen zum Judenbild der Nationalsozialisten.

"Sie standen hinter den "Novemberverbrechern" des Jahres 1918, den "Blutsaugern" und "Kapitalisten", den "Kulturschändern" und "Sittenverderbern", kurz, sie waren die eigentlichen Drahtzieher und Verursacher allen Unglücks, das Deutschland heimgesucht hatte."

Mehrere Dutzend Abgeordnete von SPD, Grünen und FDP verließen während der Rede den Bundestag. Politiker und Medien warfen dem CDU-Mitglied Jenninger anschließend fehlende Sensibilität vor, sie nannten seine Rede "fehlgeschlagen", weil er in der Diktion der Nazis gesprochen habe. Angesichts der heftigen Kritik zog Philipp Jenninger bereits am nächsten Tag die Konsequenzen. Am 11. November 1988 verlas Annemarie Renger, Vizepräsidentin des Bundestags, in seinem Namen eine Mitteilung.

"Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestags und gebe dazu folgende Erklärung: Die Reaktionen auf meine gestrige Ansprache vor dem Deutschen Bundestag haben mich erschreckt und sie bedrücken mich auch. Meine Rede ist von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden, wie ich sie gemeint hatte. Ich bedaure das zutiefst, und es tut mir sehr leid, wenn ich andere in ihren Gefühlen verletzt habe."

Damit ging eine politische Karriere abrupt zu Ende, die Philipp Jenninger 1969 in den Bundestag und 1984 in das Amt des Parlamentspräsidenten geführt hatte. Vertreter von CDU/CSU zeigten sich "betroffen" und zollten ihm "großen Respekt", so die üblichen Sprachfloskeln. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel nannte seinen Rücktritt folgerichtig.

"Philipp Jenninger hat damit eine angemessene Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass er in einem Zusammenhang, während das gedankliche und sprachliche Einfühlungsvermögen und die Sorgfalt der Darstellung besondere Anforderungen stellte, diesen Anforderungen nicht gerecht geworden ist."

Nicht der Inhalt, sondern das sprachliche Unvermögen wurde Philipp Jenninger zum Verhängnis. Wer seine Rede mit zeitlichem Abstand las, konnte darin den Versuch entdecken, die Begeisterung der Deutschen für Hitler und das NS-Regime zu ergründen. Der Historiker Götz Aly, der Jenninger nach dessen Rede als politischen Versager eingestuft hatte, meinte Jahre später:

"Er hatte eigentlich recht. Im Grunde ist er vorangeschritten, hat versucht, etwas zu erklären, was man damals noch nicht erklärt haben wollte."

Ein Jahr nach dem Eklat im Deutschen Bundestag sprach Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Frankfurter Synagoge zu den Novemberpogromen von 1938. Da ihm, wie er freimütig einräumte, nach jahrzehntelangem Verlesen von Texten zur Pogromnacht nichts Neues mehr eingefallen sei, habe er einfach längere Passagen aus Jenningers Ansprache wortwörtlich übernommen, die auch er vorher kritisierte. Niemand nahm Anstoß an der Rede.