Die finsteren Abgründe von London

04.06.2008
Der englische Schriftsteller Jonathan Barnes hat für sein Buch "Das Albtraumreich des Edward Moon" die Ingredienzen des Schauer- und Gruselromans mit moderneren Einflüssen gewürzt. In der Geschichte erschüttert eine Reihe ungewöhnlicher Morde das von Rußnebel verhangene London. Scotland Yard steht vor einem Rätsel.
Ein Höllenpfuhl ist diese Stadt, stinkend und verkommen, bevölkert von grindigen, schuppigen, grottenhässlichen Menschen, von feisten, schwerfälligen Schmarotzern und schwitzenden Schwerenötern. Man schreibt das Jahr 1901, vor wenigen Monaten ist die große Queen Victoria nach fast 64-jähriger Regierungszeit verschieden, und jetzt geschieht Unheimliches in der britischen Hauptstadt.

Eine Reihe höchst ungewöhnlicher Morde erschüttert das von einem steten Rußnebel verhangene London, Morde, die so bizarr und abwegig sind, dass Scotland Yard vor einem Rätsel steht. Weshalb man sich an den ehrenwerten Edward Moon wendet, Zauberkünstler, Leiter des Theaters des Unglaublichen und nebenbei Privatdetektiv von Rang und Namen, der den Behörden schon mehrmals bei der Aufklärung scheinbar unlösbarer Fälle geholfen hat. Ein Mann von scharfem, analytischem Verstand, der sich, begleitet von seinem Assistenten und Leibwächter, dem hünenhaften, aber stummen Schlafwandler, sogleich diesem Auftrag widmet, der ihn in die tiefsten, finstersten Abgründe der Metropole führen wird.

Selbstverständlich kommt einem das bekannt vor. Denn Jonathan Barnes, Anfang 30, Oxford-Abschluss in englischer Literatur, Kolumnist für diverse britische Tageszeitungen und Zeitschriften, darunter auch das renommierte "Times Literary Supplement", hat sich für sein Debüt großzügig bei der angelsächsischen Genreliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bedient. Nicht zufällig wirkt sein zaubernder Detektiv wie eine Mischung aus Sherlock Holmes und Edgar Allan Poes genialem Dupin.

Aber "Das Albtraumreich des Edward Moon" ist keinesfalls eine bloße Imitation der altehrwürdigen Vorlagen. Barnes hat die Ingredienzen des Schauer- und Gruselromans mit moderneren Einflüssen gewürzt, dem Spionageroman etwa (noch immer eines der Lieblingsgenres im Vereinigten Königreich), er gibt hier eine Prise Dickens hinzu, dort ein Orwellsches Motiv, das prompt bis ins Absurde überzogen wird. So beispielsweise beim allmächtigen Geheimdienst, Direktorium genannt, einem jämmerlichen Verein, der hinter der Fassade einer verlotterten chinesischen Schlachterei residiert.

Herausgekommen ist dabei etwas Einzigartiges: ein postmoderner viktorianischer Roman. Absurd, voller Possen, falscher Fährten, grotesk verzerrter Figuren, Gestalten, die einem Kuriositätenkabinett entsprungen sein könnten, und erzählerischen Einfällen, die an die großen Opiumesser der britischen Literatur erinnern. "Das Albtraumreich des Edward Moon" ist ein faszinierendes Buch, geistreich und gespenstisch, aberwitzig komisch und schaurig zugleich, verspielt und mitunter auch unverschämt großmäulig.

Und nicht zuletzt ist es eine großartige Hommage an die Fantasie und einen der großen Fantasten der britischen Literatur, den 1834 verstorbenen Dichter und Philosophen Samuel Taylor Coleridge, der einst mit einigen Studienfreunden England verlassen wollte, um in Amerika eine perfekte Gesellschaft zu schaffen.

Rezensiert von Georg Schmidt

Jonathan Barnes - Das Albtraumreich des Edward Moon
Aus dem Englischen von Biggy Winter
Piper Verlag, 400 S., € 19,90