Die Experimente des Dirigenten Hermann Scherchen

Schall und Klang

Von Christina Kubisch · 20.10.2017
"Ich möchte einen Raum haben, in dem ich den Raum ausschalte." In der Mitte des letzten Jahrhunderts zog der Dirigent Hermann Scherchen nach Gravesano, ein abgelegenes Tessiner Dorf.
Auf seinem Anwesen baute er ein experimentelles Tonstudio und schuf so einen Begegnungsort für Wissenschaftler, Elektroakustiker und Musiker aus aller Welt. Über die Weihnachtsfeiertage 1956 befasste er sich intensiv mit der Positionierung von Mikrofonen.
In ihrer Komposition transformiert Christina Kubisch die Aufnahmen dieser Studie – erst unmerklich, dann entschieden – und reflektiert so ein weiteres Mal die Verbindung von Klang und Raum.
Besonderen Dank an die Akademie der Künste Berlin für das Archivmaterial.

Mit den Stimmen von Hermann Scherchen und Kathrin Röggla
Eckehard Güther: AKS Synthesizer
Christina Kubisch: elektromagnetische und elektronische Klänge sowie field recordings
Ton: Eckehard Güther
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2017/ Studio für Elektroakustische Musik der
Akademie der Künste / Studio Hoppegarten 2017
Länge: 48'29
Ursendung

Christina Kubisch, geboren 1948 in Bremen, zählt zur ersten Generation der Klangkünstler in Deutschland. Studium der Malerei, Musik und Elektronik. Eigene Kompositionen seit 1972. Ab 1980 vermehrt Klanginstallationen, Klangskulpturen sowie elektroakustische Kompositionen und Hörspiele. Internationale Stipendien und Auszeichnungen. Lehrtätigkeit als Professorin für audiovisuelle Kunst von 1994 bis 2003 an der Kunsthochschule Saarbrücken. Christina Kubisch ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin. 2016 wurde sie zusammen mit Peter Kutin und Florian Kindlinger für das Stück "Desert Bloom" (WDR 2015) mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnet.

Ein an einem Rinnsal platziertes Mikrofon: Aufnahme der Wasserläufe im Gelände oberhalb des Hauses
Aufnahme der Wasserläufe im Gelände oberhalb des Hauses© Christina Kubisch
Christina Kubisch über ihre Arbeit an "Schall und Klang"
"Das Experimentalstudio hat einen großen Vorteil: es ist eine vollständig unabhängige Schöpfung, das heißt, es gibt keine Instanz, die vorschreibt, was geschehen darf." (Hermann Scherchen)
Die Gravesaner Studios von Hermann Scherchen sind heute, 50 Jahre nach seinem Tod, als Meilenstein in der Forschung elektroakustischer Musik und experimenteller Aufnahmetechnik weltweit bekannt.
1954 zog Scherchen mit seiner jungen Frau Pia Andronescu in das damals noch abgelegene kleine Tessiner Dorf und kaufte dort am Ende des Ortes ein großes bäuerliches Anwesen mit zusätzlichen Gebäuden, Ställen und einem riesigen Gelände am Berghang mit Garten, Weinberg und Kastanienwald.
Gravesano Casa Scherchen vom Garten gesehen circa 1972
Gravesano Casa Scherchen vom Garten gesehen circa 1972© Reto Ressegatti
Dort begann er mithilfe eines Architekten, direkt an das Haus angrenzend, drei Studios zu bauen mit einem Aufnahmestudio, einem kleineren (schalltoten Raum) und einem Technikraum. In den ehemaligen Viehställen ließ er außerdem vier sogenannte Nachhallräume einrichten, in denen Tonaufnahmen erneut aufgezeichnet werden konnten.
Hermann Scherchens Haus mit Schwimmbad
Hermann Scherchens Haus mit Schwimmbad© Reto Ressegatti
Alle Studios hatten unregelmäßige Formen, ungerade Wände und asymmetrische Grundrisse. Die Ausstattung war einfach: Wände waren mit Pferdedecken, mit Teppichen und mit einem Verpackungsmaterial für Eier ausgekleidet und gedämmt. Scherchen entwarf selbst Lautsprecheranlagen und im Laufe der Zeit kamen ständig neue "Apparaturen" hinzu.
Scherchens Studio innen mit Walter Ehrler September 1961
Scherchens Studio innen mit Walter Ehrler September 1961© Reto Ressegatti
Die Berichte der Musikwissenschaftler, Komponisten, Klangforscher, Musiker und Radiotechniker (Frauen kommen als Autoren nicht vor) gehen auf die Eigenheiten der Studios und die Forschungsergebnisse der dort stattfindenden Symposien detailliert ein, das Umfeld aber bleibt in den Zeitzeugnissen eher Nebensache.
Scherchens Studio innen mit Gerüst
Scherchens Studio innen mit Gerüst© Reto Ressegatti
Gravesano war ein Nest mit 200 Einwohnern. Es war laut einer Zeitzeugin so ruhig, dass Besucher aus großen Städten die Stille anfangs befremdend und sogar unangenehm empfanden. Es gab in dem armen Tessiner Dorf kaum Autos. Die Menschen stiegen morgens von den Bergen ins Tal, nahmen die Regionalbahn nach Lugano und fuhren abends zurück. Die typischen Klangereignisse kamen von Nutztieren und Insekten, den Glocken und an Markttagen von den Karren der Händler.
Das Haus mit seinem großen Gelände war Heimat von Vögeln, Fröschen und Wasserläufen. Im Hause Scherchen gab es nicht einmal ein Telefon. Rief jemand für den Maestro an, so kam die Nachbarin, die einen Anschluss hatte, und holte ihn oder seine Frau.
Diese Stille vor Ort war für Scherchen, der rastlos reiste, wichtig. Auf seinem Lieblingsplatz im Garten, unterhalb des Weinbergs, arbeitete er viel und gerne im Freien.

Neben vielen anderen Faktoren hat die Erfahrung von Stille, räumlicher Weite und Natur sicher auch die Forschungsarbeiten in den Studios beflügelt. Von allen Seiten hört man heute am ehemaligen Sitzplatz die kleinen Bäche, die den Berg herabkommen, Insekten, den Wind, Blätterrauschen, von ferne Glocken. Man saß sozusagen inmitten einer minimalistischen Klanginstallation, die die Freude jedes heutigen field recordisten gewesen wäre.
Sicher war auch für die Gäste die Stille und Abgeschiedenheit des Ortes eine atmosphärische Gelegenheit, sich abseits von Lärm und Hektik zu treffen und auszutauschen. Nicht von ungefähr geht es in den Gravesaner Blättern manchmal auch um die Erforschung sehr stiller Laute, Stimmen von Tieren und Naturklängen oder auch Glocken. Die damals noch vorhandene absolute Ruhe der Umgebung machte ein sensibilisiertes Hören erst möglich.
Weinberg hinter dem Haus von Hermann Scherchen, sein Lieblingsplatz im Gartengelände
Weinberg hinter dem Haus von Hermann Scherchen, sein Lieblingsplatz im Gartengelände© Christina Kubisch
Der letzte verbliebene Stuhl aus dem großen Studio. Die heutigen Besitzer des Hauses haben ihn im Garten gefunden und dort auch gelassen.
Der letzte verbliebene Stuhl aus dem großen Studio. Die heutigen Besitzer des Hauses haben ihn im Garten gefunden und dort auch gelassen.© Christina Kubisch
Diese Soundscape existiert so heute nicht mehr. Gravesano und das gesamte Vedeggio Tal hat sich zum ständig wachsenden industriellen Hinterland von Lugano entwickelt. Die Autobahn und zwei weitere Straßen gehen direkt am Ort vorbei, überall wird frenetisch gebaut und der Verkehrslärm überlagert bei Tag und Nacht wie eine akustischer Nebel nicht nur das Tal, sondern auch das Anwesen von Scherchen selbst.

Die Bevölkerung, meist Menschen, die mit der dortigen Industrie zu tun haben, ist in Gravesano auf das Zehnfache angestiegen. Scherchen und die Geschichte des Studios ist hingegen im Ort mehr oder weniger vollkommen unbekannt. Erst im abgelegenen Hinterland findet sich noch die Stille und Klarheit, die auch das Hören leiser und entfernter Klänge möglich macht.
Das heutige Gravesano - die Autobahn zerschneidet die einstmalige Stille des Ortes
Das heutige Gravesano - die Autobahn zerschneidet die einstmalige Stille des Ortes© Christina Kubisch
Blick auf den Luganer See in Richtung Gravesano, 2016
Blick auf den Luganer See in Richtung Gravesano, 2016© Christina Kubisch

Zum Hörspiel
Das Hörspiel beruht auf dokumentarischem Originalmaterial und eigenen Klängen.
Die Quellen:

1.Tonaufnahmen, die Hermann Scherchen 1956 in seinen Studios in Gravesano über die Weihnachtstage machte. Mit dabei waren André Moles vom Ircam und ein Radiotechniker. Scherchen gibt Anweisungen zur Einstellung und Position der drei für die Aufnahme eingesetzten Mikrofone und singt dann mit wechselnder Intensität immer wieder den Beginn der Ode an die Freude aus der 9. Symphonie von Beethoven. Insgesamt singt er die "Ode" einhundertdreimal während eines Zeitraums von drei Tagen.
2. Die Gravesaner Blätter, eine Reihe von Zeitschriften mit teilweise beigelegten Schallplatten, die die Aktivitäten in den Gravesaner Studios dokumentieren.
Die Themen sind "musikalische, elektroakustische und schallwissenschaftliche Grenzprobleme". Von diesen Schallplatten werden Hermann Scherchens Ansagen zu verschiedenen akustischen Versuchsreihen und einige andere Stimmbeispiele benutzt.

3. Die Überschriften der Kapitel der Gravesaner Blätter werden nacheinander von einer Frauenstimme gelesen. Die Ansagen ertönen im Abstand von jeweils einer Minute.
Gravesaner Blätter und Schallplatten
Gravesaner Blätter und Schallplatten© Dieter Scheyhing
4. Field recordings (Naturaufnahmen) die zum Teil 2016 in und um Gravesano gemacht wurden. Weitere Aufnahmen aus meinem Archiv wurden nach Beschreibungen ausgesucht, die mir Myriam Scherchen von der Klangwelt in Gravesano machte. Die Klänge gehen von Froschkonzerten, Kühen und Brunnen bis zu knarrenden Treppen und den militärischen Übungen der Schweizer Armee im großen Gartengelände.
5. Elektromagnetische Aufnahmen und elektronische Klänge von Christina Kubisch.
6. Klänge eines originalen Synthesizers AKS (hergestellt von den EMS Studios in London).
7. Aufnahmen von Rückkopplungen, Tonbandmaschinen und anderen Geräten.

Hermann Scherchen 1958 in Gravesano mit Prof. Dr. Winckel (TU Berlin), W. Schlechtweg (damaliger Direktor von Telefunken -Studiotechnik) und Dr. Enkel (Technischer Leiter des Elektronischen Studios beim WDR in Köln)
Hermann Scherchen 1958 in Gravesano mit Prof. Dr. Winckel (TU Berlin), W. Schlechtweg (damaliger Direktor von Telefunken -Studiotechnik) und Dr. Enkel (Technischer Leiter des Elektronischen Studios beim WDR in Köln)© Gerhard Steinke
Mit Dank an:
Myriam Scherchen für die Beschreibung ihrer akustischen Erinnerungen aus Gravesano.

Esther Domenighetti für die Erzählungen über ihre Teilnahme an der Eröffnung des Gravesaner Studios und das Leben in den 50er Jahren in Gravesano.

Reto Ressegatti für die Möglichkeit, die ehemaligen Studios in Gravesano zu besuchen und im Garten von Hermann Scherchen Tonaufnahmen machen zu können.

Gregorio Garcia Karmann für die Unterstützung im Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste.
Kathrin Röggla für ihre Stimme.