"Die europäische Identität ist für mich ein Humbug"

Moderation: Klaus Pokatzky · 02.01.2012
Für Stanislaw Mucha findet man Europa in Dietenhofen und Oberkotzau. Die "Illusion namens Europa" liege dort wahnsinnig fern, es würden mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten betont. Die Bürger interessierten sich weniger für Kultur als dafür, was sie günstig verkaufen könnten.
Klaus Pokatzky: Die Schriftsteller Hans Christoph Buch und Peter Schneider haben gemeinsam mit den beiden französischen Philosophen André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy ein Manifest zu Europa veröffentlicht, ein Bekenntnis zu Europa in der Krise. Wir wollen in dieser Woche im "Radiofeuilleton" nach der europäischen Identität oder den europäischen Identitäten fragen und dazu begrüße ich nun im Studio Stanislaw Mucha, guten Tag, Herr Mucha!

Stanislaw Mucha: Guten Tag, hallo, alles Gute für 2012!

Pokatzky: Danke, ebenso! Sie haben in den Karpaten nach der Pop-Ikone Andy Warhol geforscht und Sie haben einen faszinierenden Film gedreht darüber, wo die Mitte Europas liegen könnte. Und Sie haben dabei viele Mitten in Europa aufgetan! Europa zieht sich ja ohnehin durch all Ihre Filme, gibt es da irgendeine Szene, so eine Begegnung auf dieser Suche nach der Mitte Europas, an die Sie immer denken müssen, weil sie Sie vielleicht auch persönlich so berührt hat?

Mucha: Ja. Meine Lieblingsmitte Europas, unabhängig von der emotionalen Mitte, weil die emotionalste Mitte Europas war für mich die älteste Mitte Europas der Welt, nämlich in den Waldkarpaten in der Ukraine, Locus Perennis genant, also ewiger Ort sozusagen. Aber meine Lieblings-, Allerlieblingsmitte Europas war Braunau am Inn, das, was da …

Pokatzky: … warum ausgerechnet Braunau, da, wo Adolf Hitler herkommt?

Mucha: Weil da, das hat mich sehr überrascht, dass die Österreicher sozusagen weggehen von dem schlechten Rülpser namens Adolf Hitler und alles tun, damit man das wirklich anerkennt, diesen Ort nicht mehr als Geburtsort von Adolf, sondern einfach, es soll jetzt Mitte Europas sein, und diese Anstrengungen und diese Unternehmungslust der Österreicher hat mich sehr begeistert.

Pokatzky: Aber das hat ja schon was Schalkhaftes! Wie ernst nehmen Sie denn Ihr Projekt, die Mitte Europas zu suchen, überhaupt?

Mucha: Projekt sehr ernst, allerdings von der sogenannten europäischen Identität halte ich nichts, das ist für mich ein Humbug, wenn Sie so wollen. Das heißt, also, ich glaube, es gibt eine deutsche Identität, es gibt eine polnische, russische und französische Identität, aber von europäischer Identität halte ich nichts. Das ist ein Begriff wie, was in der letzten Zeit natürlich große Karriere gemacht hat wie, ich weiß nicht, Globalismus oder so. Wenn Sie von Europa was erfahren wollen, dann müssen Sie nach Oberkotzau oder Dietenhofen oder Faldera fahren, und da würden Sie …

Pokatzky: … wo ist das?

Mucha: Keine Ahnung, irgendwo in Deutschland, also die …

Pokatzky: … in Bayern …

Mucha: … nein, Scherz! Ich weiß, wo das ist, also, Dietenhofen liegt bei Nürnberg, Faldera im Schwabenland, Oberkotzau bei Hof, in …

Pokatzky: … und da finde ich die europäische Identität?

Mucha: Ja, nein, nicht europäische Identität, sondern Sie werden feststellen, dass wahnsinnige Ängste herrschen, was Europa angeht, dass die Idee, die grandios ist, muss man sagen, die Illusion namens Europa, dass das wahnsinnig fernliegt, dass offensichtlich auch die Europäer aus Brüssel nicht daran interessiert sind, dass die Idee auch wirklich nach Dietenhofen ankommt. Und Sie werden feststellen, das, was, denke ich mir, Europa verbindet momentan immer noch, nämlich: Es gibt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Das heißt, Sie werden feststellen in Dietenhofen, zum Beispiel in der Wirtschaft namens "Schwarzer Adler", dass, sofort werden betont die Unterschiede und Gefahren und nicht das Gemeinsame.

Und das kommt daher, das ist nicht so, weil die Menschen dort so komisch drauf sind, sondern das kommt daher, dass, man kann nicht von europäischer Identität sprechen, weil, uns verbinden eigentlich nur Autos – Bauen, Klauen und so weiter – und Kriege, unzählige Kriege. Und das heißt, jetzt, wo dieser Turbokapitalismus aller Europäer herrscht in Europa und man eigentlich pfeift auf Kultur letztendlich, sondern man interessiert sich, wo kaufe ich billig, wo verkaufe ich teurer, wer nimmt mir diese Plastikstühle ab oder Anhänger voller, ich weiß nicht, Container oder was auch immer, also, das hat mit Europa nichts zu tun für mich.

Und das hat uns eingeholt und meiner Meinung nach sollen wir nicht aufhören zu sprechen und jammern über Wirtschaftskrise, sondern das ist eine Krise der Kultur, der europäischen Kultur. Das, was für mich persönlich eine Identität sein könnte, weil, ich würde gerne einen Menschen in Europa sprechen und treffen, dem das Herz ein bisschen höher klopft, wenn er eine europäische Fahne sieht. Das ist Humbug für mich.

Also, wie gesagt: Ich finde, man sollte eher im Falle Europa nicht über Identität sprechen, sondern über das, was die Philosophen als Entität beschrieben haben, nämlich das Vorhandene, das, was da ist, was ein bisschen an babylonische Wirrnisse erinnert. Deshalb nehme ich meine Themen wirklich auch ernst und komme irgendwie immer wieder … Weil, ich will einfach auch zeigen, dass Europa, das ist das Kennenlernen, das ist das, nicht nur irgendwo als Vertreter von Ikea oder Mercedes-Benz hinfahren, Billiglöhne mieten, um Schrauben anzuziehen, und dann wieder abhauen, sondern sozusagen sich umschauen auch in ein bisschen abgelegenen, skurrilen Orten vielleicht.

Und ich versuche, da in dieser Richtung meine Filme herzustellen und zu realisieren und zu zeigen sozusagen, dass es wichtig ist. Weil möglicherweise diese Herangehensweise uns die Ängste ein bisschen abbauen kann. – Nicht viel!

Pokatzky: In Deutschlandradio Kultur suchen wir mit dem polnischen Filmemacher Stanislaw Mucha europäische Identität oder europäische Identitäten. Ist es denn überhaupt richtig, Sie als polnischen Filmemacher zu bezeichnen? Sie sind in Polen geboren, leben und arbeiten aber in Berlin. Inwieweit sind Sie noch Pole?

Mucha: Ja, ich bin hundertprozentiger Pole, mehr polnisch kann man nicht sein!

Pokatzky: Wie, geht nicht?

Mucha: Nein, ich fühle mich als Pole und bin Pole und werde wahrscheinlich auch sterben. Und unabhängig davon, wie viele Pässe ich besitzen werde. Einen Pass zu haben oder eine Identität heutzutage ist kein Problem, in Berlin auf dem Flohmarkt kann man für ein paar Euro kaufen, ohne eine Quittung.

Pokatzky: Aber was heißt das, Sie sind Pole?

Mucha: Ich komme aus Polen, das ist meine Heimat, ich bin in dort aufgewachsen …

Pokatzky: Ja gut, ich sage aber, ich komme aus Deutschland, ich bin in Deutschland aufgewachsen, aber ich würde mich durchaus auch als Europäer definieren und beschreiben.

Mucha: Das ist für mich Humbug, ich erlaube einfach nicht, dass einer kommt zu mir und redet mir ein, ich sei Europäer oder … Natürlich bin ich ein Europäer, das ist das, was ich meinte, das Seiende, das Vorhandene: Mich muss man nicht erinnern daran, dass ich ein Mensch bin. Für mich ist keine Entdeckung, wenn einer kommt und sagt, oh, Sie haben da zwei Hände! Ich habe noch, wenn ich eine verliere, werde ich nur eine haben.

Pokatzky: Aber Herr Mucha, Sie haben eben ja beschrieben eine Zustandsbeschreibung Europas, die im Wesentlichen aufbaut auf wirtschaftlichen Interessen, auf wirtschaftlicher Integration.

Mucha: Ja.

Pokatzky: Ihnen fehlt ja das Kulturelle.

Mucha: Ja.

Pokatzky: Was fehlt Ihnen genau und was müsste da sein, damit Sie sagen könnten, wir beide, die wir jetzt hier in der Mitte Europas in diesem Studio sitzen, können friedlich miteinander sagen, wir sind beide gerne Europäer?

Mucha: Na ja, das ist Öffnen für das Historische, Kulturelle, also das geschieht für mich zu wenig. Also, reinschauen in die "Wikipedia", das ist das eine, aber dann irgendwo hinfahren … Mir geht es nicht darum, dass jetzt Reisebusse irgendwo vollgepackt werden und wir zum Beispiel die ukrainische Mitte Europas in den Waldkarpaten besuchen, sondern mir geht es sozusagen um dieses Bewusstseinerweiterung, nicht mithilfe von Drogen, sondern mithilfe von Wissen, von Kennenlernen, von Anschauen. Und da ist natürlich Film ein wahnsinnig gutes Medium. Vorausgesetzt, man bekommt Geld dafür, und vorausgesetzt, einer ist interessiert daran, die Filme zu vertreiben oder zu ermöglichen, dass jemand das anguckt.

Pokatzky: Aber gerade in den Filmen gibt es so zwei Szenen, die mich unglaublich berührt haben. Das ist das eine Mal, ich weiß gar nicht, wo, Richtung Osten, ein Orchester von ganz jungen Menschen, so, ja, zwischen Kindheit und früher Jugend, die die Europahymne, mit einer Inbrunst und Leidenschaft und Konzentration und Disziplin gespielt haben! Da sah ich Europa. Und dann die Jugendlichen in Tschernobyl, die da wie die Wilden rumgekifft haben. Das war beides für mich so richtig Europa. Ist Europa nicht vielleicht doch mehr schon da, als Sie das jetzt in Ihrer Skepsis sagen?

Mucha: Doch, das ist da, das sage ich doch. Das ist vorhanden. Man muss das nur zeigen oder sich öffnen demgegenüber und akzeptieren und … Übrigens, das war nicht in Tschernobyl, das waren Jungs aus Tschernobyl, die in der ukrainischen Mitte Europas Urlaub gemacht haben. Und das andere war ein polnisches Dorf in Ostpolen.

Pokatzky: Heißt das, Europa ist da und wir sehen es nicht ausreichend?

Mucha: Genau, genau. Und meiner Meinung nach, uns interessiert auch, die Substanz Europa ist sehr unpopulär. Wie gesagt, alle beschäftigen sich mit …

Pokatzky: … wer ist jetzt "uns", sind das wir Deutschen, sind das vielleicht …

Mucha: … nein, wir Europäer …

Pokatzky: … wir Europäer, und die Jungs aus Tschernobyl, die da in der Ukraine Urlaub gemacht haben?

Mucha: Sind auch Europäer.

Pokatzky: Ja. Aber sehen die Europa vielleicht viel mehr als wir?

Mucha: Die sind wahrscheinlich mehr Europäer als wir und ich finde, es ist eine Frechheit, denen sich gegenüberzusetzen und zu sagen, pass auf, ab 2012 oder 2014 werden ihr Europäer. Also, das fand ich, das gehört sich nicht, das ist schlecht erzogen.

Pokatzky: Werden wir beide noch erleben, dass wir beide sagen können in einem Studio wie hier, in der Mitte Europas, ja, jetzt sind wir beide Europäer und wir sind stolz darauf?

Mucha: Ich glaube nicht. Weil, Europa überhaupt ist ein Abenteuer, ein sehr schöner Traum, eine Illusion, was Gott sei Dank begonnen wurde. Und ich denke, da muss man wahnsinnig an diesem, was, damit das nicht ein hohler, leerer Begriff ist, europäische Identität, da muss man wahnsinnig viel tun und basteln. Also, diese Identität, die muss emotional, kulturell, geschichtlich, die muss gebastelt werden. Da reicht nicht, einfach Plastikfenster in Breslau einzubauen oder, die hinfahren nach Krakau und sagen, bitte, in dem schönen Schloss da, weg mit den mittelalterlichen Fenstern, die sind zu alt, jetzt muss Plastik her!

Pokatzky: Sie haben zwischendurch ja gesagt, wir müssen basteln, wir müssen basteln an diesem Europa, so. Und jetzt will ich noch mal sagen: Sie basteln aber unbeirrt weiter!

Mucha: Ich bastele weiter, ja, ja. Also gut, ich meine, mein letzter Film, da habe ich beschlossen, dass ich nicht hinfahren werde, weiß ich nicht, in Richtung Ost-, Südeuropa oder was auch immer, sondern ich fahre eben nach Dietenhofen. Und wir haben einen schönen Film unter anderem für Arte gemacht, "Die Pfandleihe". Wir wollten uns die Krise, die uns eingeredet wird und die tatsächlich wahrscheinlich vorhanden ist, die finanzielle Krise Europas, wollten wir uns angucken aus der Perspektive eines Pfandleihers, aus diesem Fensterchen, wo der Kunde und Pfandleiher sich treffen. Und wir haben sehr viel recherchiert. Ich habe beschlossen, nur in Deutschland zu drehen. Und unter anderem haben wir uns für Dietenhofen entschieden und für das einzige Waffenpfandleihhaus in Deutschland, das es gibt.

Pokatzky: Dietenhofen in der Nähe Nürnbergs, was auch schon eine europäische Metropole schon seit mittelalterlichen Zeiten war.

Mucha: Ja.

Pokatzky: Stanislaw Mucha im Deutschlandradio Kultur über europäische Identitäten und wie wir zu einer europäischen Identität vielleicht doch irgendwann einmal kommen und das erleben werden. Und morgen Nachmittag im "Radiofeuilleton" in unserer Reihe "Unser Europa" hören Sie den Regisseur Hannes Stöhr, der an die United States of Europe glaubt.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Weiterführende Informationen auf dradio.de:

Sendereihe im Radiofeuilleton: Unsere Antwort auf Europa
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