Die EU als Bedrohung

Von Ruth Reichstein · 27.08.2012
Kolumbien ist das erste Entwicklungsland, mit dem die EU solch ein Abkommen schließt. Gewerkschaften und NGOs rechnen mit enorm negativen Auswirkungen auf Kolumbien: EU-Produkte werden den Markt überschwemmen. Profiteure sind die großen multinationalen Konzerne, Leidtragende sind die einfachen Bauern.
Es ist kurz nach fünf am Morgen. Die Sonne sucht ihren Weg durch den Frühnebel. Die ganze Nacht hat es geregnet - wie schon die letzten zwei Wochen. Die Wiesen im Hochland rund um die kolumbianische Hauptstadt Bogotá haben sich in tiefen Morast verwandelt.

Blanca Mireya hat sich einen schwarzen Regenmantel übergezogen. Ihr Gesicht ist unter der Kapuze kaum zu erkennen. Die Bäuerin sitzt auf einem Schemel und fährt mit geübten Handbewegungen über das Euter ihrer Kuh. Langsam läuft die weiße Flüssigkeit in einen großen Metalltopf.

"Ich habe nur zwei Kühe. Für mehr reicht mein Land nicht. Wenn es gut geht, verkaufe ich neun Liter am Tag. Ungefähr. Es hängt natürlich davon ab, wie viel die beiden Kühe genau geben."

Der Erlös aus dem Milchverkauf ist das einzige Einkommen der 45-jährigen kolumbianischen Bäuerin. Pro Liter bekommt sie rund 40 Cent von der Molkerei. Damit unterstützt sie auch ihre Schwester, die mit ihrem Mann und ihren beiden jugendlichen Töchtern bei ihr im Bauernhaus wohnt.

Ihre drei Jahre jüngere Schwester Lucy räumt drinnen in der Küche die Reste vom Frühstück weg. Die beiden Mädchen sind bereits auf dem Weg zur Schule. Vorher gab es ein großes Glas frische Milch für alle.

"Meine Schwester ist die einzige, die hier Geld verdient - mit ihren Kühen. Ich verdiene nichts. Wir könnten niemals so leben, wenn wir dieses Geld von der Milch nicht hätten. Die Schule zum Beispiel ist teuer für uns: Die Uniform, die Unterrichtsmaterialien. Und meine Schwester macht das wirklich gut mit den Tieren. Sie ist sehr fürsorglich."

Die Familie lebt in dem Haus, in dem schon die Großeltern Viehzucht betrieben haben. Die Milchproduktion ist Familientradition - und die Kühe sind Blancas Leben.

Aber seit ein paar Wochen hat die Kolumbianerin Angst. Angst davor, bald all das aufgeben zu müssen. Sie wischt sich ein paar Regentropfen aus dem Gesicht. Schuld an ihren Befürchtungen sei, erzählt sie, das Freihandelsabkommen, das ihr Land gerade mit der Europäischen Union geschlossen hat.

"Es bedeutet für uns ein großes Unglück. Wir rechnen damit, dass viel mehr Milch importiert wird und europäische Milch ist viel billiger. Das heißt, auch für uns wird der Preis enorm sinken. Und wir können nicht mehr davon leben. Die Europäer denken nicht darüber nach, wie es uns hier geht. Sie denken nur ans Geld verdienen. Genau so ist es."

Im Juli haben die kolumbianische Regierung und - stellvertretend für alle EU-Mitgliedsstaaten - der EU-Handelskommissar Karel de Gucht - den Freihandelsvertrag unterschrieben. Spätestens im Oktober soll das Europäische Parlament darüber abstimmen. Dann kann das Abkommen in Kraft treten. Auf den ersten Blick klingt der Deal gut: Ein gleichberechtigter Vertrag, der beiden Ländern einen unkomplizierten Zugang zum jeweils anderen Markt ermöglichen soll. Aber in Kolumbien wächst die Angst, dass die einheimische Wirtschaft mit der viel stärkeren und weiter entwickelten Konkurrenz aus Europa nicht mithalten kann. Zum Vergleich: Eine EU-Kuh gibt im Durchschnitt 18 Liter Milch am Tag. In Kolumbien sind es gerade einmal fünf. In Kolumbien leben zurzeit rund eine halbe Millionen Menschen von der Milchproduktion. Für sie ist der Freihandelsvertrag eine Katastrophe, sagt auch Gustavo Triana Suárez, Vizepräsident des größten Gewerkschaftsbundes von Kolumbien:

"Wir haben hier keine großen industriellen Molkereien. Es sind vor allem kleine Betriebe, die die Milch zum Beispiel zu Süßwaren oder Käse weiterverarbeiten. Aber das sind rudimentäre Arbeitsweisen. Die Produkte, die hierher importiert werden, werden viel, viel billiger sein, weil sie in der EU unter ganz anderen Bedingungen produziert werden. Außerdem bekommen unsere Bauern keine Subventionen. Es gibt keine technische Unterstützung, keine billigen Kredite, keine Düngermittel. Auch das ist ein echter Nachteil gegenüber der Produktion in Europa."

Im Vergleich zu den europäischen Großbauern sind die kolumbianischen Produzenten echte Zwerge. Wie Blanca Mireya besitzen die meisten von ihnen - rund 80 Prozent - nur zwischen einer Kuh und zehn Tieren. In der EU liegt der Durchschnitt bei 24. Ein paar Kilometer südlich von Blancas Hof, im Dorf Tenjo, bewirtschaftet Isabel Ancizar-Sordo ihre Hacienda. Sie gehört mit ihren 70 Kühen schon zu den größeren Produzenten. Aber auch sie fürchtet das Freihandelsabkommen. Obwohl der Vertrag noch nicht in Kraft getreten ist, spürt sie schon erste Auswirkungen:

"Man hat uns bereits die Preise gekürzt - und zwar um 35 Pesos pro Liter. In anderen Regionen sind es sogar 50 bis 100 Pesos. Viele Bauern verdienen so nicht einmal mehr den Mindestlohn."

Der beträgt in Kolumbien umgerechnet gerade einmal 280 Euro im Monat. Isabel Ancizar-Sordo bezahlt ihren beiden Angestellten etwas mehr. Aber sie fürchtet, dass sie diese demnächst entlassen muss, falls die Preise weiter fallen. In der Europäischen Union zahlen die Molkereien den Bauern zurzeit zwischen 20 und 35 Cent pro Liter Milch. Dafür bekommen die Bauern umfangreiche staatliche Subventionen. Zurzeit machen die rund 50 bis 60 Prozent der Gesamteinnahmen der europäischen Landwirte aus. Für die Zeit von 2014 bis 2020 will die EU über 435 Milliarden Euro für die Unterstützung der Agrarproduktion ausgeben. In Kolumbien ist daran nicht zu denken, sagt Isabel Ancizar-Sordo:

"Hier hilft uns der Staat überhaupt nicht. In den zwölf Jahren, die unsere Kooperative besteht, haben wir nie irgendeine Art von Unterstützung bekommen - nicht von der Region, nicht von der nationalen Regierung. Wir haben mehrere Projekte eingereicht, zum Beispiel für einen Kühltank für die Kooperative. Aber das hat nie geklappt."

Mittlerweile sind ihre Kühe in den Stall zurückgekommen, um sich melken zu lassen. Vor ein paar Jahren hat die Landwirtin dafür eine Melkmaschine angeschafft. Sie schaut ihren beiden Mitarbeitern zu, wie sie die Zapfschläuche an die Euter hängen.

Sie kann gut von ihrer Milch leben. Allerdings hat sie nun erst einmal alle Investitionen auf Eis gelegt. Eigentlich wollte sie einen Kühltank anschaffen. Aber damit will sie erst einmal warten. Denn sobald der Freihandelsvertrag in Kraft ist, wird die EU über 60 Millionen Liter Milch ohne Schutzzölle nach Kolumbien liefern dürfen. Eine unberechenbare Konkurrenz für die Bäuerin. Der Vertrag mit der Europäischen Union ist das zweite Freihandelsabkommen, das Kolumbien in letzter Zeit geschlossen hat. Mitte Mai ist ein ähnlicher Vertrag mit den Vereinigten Staaten von Amerika in Kraft getreten.

"Die Bauern, die hier in Kolumbien Baumwolle produzieren, haben daraufhin erklärt, dass sie ab der zweiten Jahreshälfte keine Baumwolle mehr herstellen werden, weil die Baumwolle aus den USA 40 Prozent billiger ist. Es lohnt sich nicht mehr für sie. Da werden viele Arbeitsplätze verloren gehen."

sagt der Gewerkschaftler Gustavo Triana Suárez. Er versucht seit Monaten, die endgültige Unterzeichnung des Abkommens mit der Europäischen Union zu verhindern. Sogar nach Brüssel ist er im Frühsommer geflogen, um dort EU-Abgeordnete zu treffen. Immer wieder wiederholt er die gleichen Argumente: Die uneingeschränkte Öffnung der Märkte schade Kolumbien. Die bisherige Entwicklung gibt ihm recht: Noch in den 90er Jahren hat das Land ausreichend Lebensmittel für die eigene Versorgung produziert. Mittlerweile importiert Kolumbien jedes Jahr mehr als zehn Millionen Tonnen Agrarprodukte.

Die Regierung zeichnet unterdessen ein ganz anderes Bild. Seit dem Abkommen mit den USA habe sich etwa der Export von Milchprodukten um 70 Prozent gesteigert. Und auch vor der europäischen Konkurrenz müssten die einheimischen Produzenten keine Angst haben, sagt der stellvertretender Minister für Außenhandel, Gabriel Duque in seinem Büro in der Landeshauptstadt Bogotá:

"Wir haben da eine Schutzklausel eingebaut. Wenn der Vertrag in Kraft tritt, wird es nicht viel mehr Importe geben als jetzt - etwa so viel wie das, was die Kolumbianer an zwei, drei Tagen im Jahr konsumieren. Das wird langsam mehr werden und die Schutzzölle, die zurzeit bei 98 Prozent liegen, werden sinken. Wir werden also Zeit haben, die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft hier zu verbessern. Meine Vision ist, dass wir eines Tages sogar Milch und Käse an die Europäische Union liefern."

Von seinem Schreibtisch im siebten Stock eines Hochhauses hat Duque einen atemberaubenden Blick auf die Bogotáer City. Er hofft auf europäische Call-Center in Kolumbien, die Arbeitsplätze schaffen werden und auf die Senkung der Schutzzölle etwa für kolumbianische Bananen. Vor allem die großen Exportkonzerne sollen von dem Abkommen profitieren - wie etwa Banacol. Der Konzern produziert Bananen. 60 bis 70 Prozent der Früchte exportiert das Unternehmen nach Europa - und zwar auch für andere Marken wie Chiquita. Die Marketing-Chefin des Konzerns, Maria Teresa Velasquez Posada, gibt sich optimistisch.

"Der große Vorteil ist, dass die Schutzzölle weiter sinken werden. Der bisher gültige Vertrag, der in der Welthandelsorganisation ausgehandelt worden ist, sieht eine Senkung auf 114 Euro pro Tonne bis 2017 vor. In dem bilateralen Vertrag mit der EU werden die Zölle bis 2020 aber auf 75 Euro sinken. Das ist für uns ein unglaublicher Mehrwert und bringt uns mehr Gewinn."

Tatsächlich profitieren werden vor allem die großen multinationalen Konzerne, die in Kolumbien Rohmaterialien fördern und in die Europäische Union exportieren. Kolumbien ist etwa der wichtigste Lieferant für Kohle in Deutschland. Für diese Unternehmen wird es mit dem Freihandelsabkommen einfacher und billiger. Für die Menschen in Kolumbien bringt das allerdings wenig. Die Unternehmen zahlen nur sehr niedrige Steuern - oftmals nur eine Art Grundsteuer, die bei Kohle bei gerade einmal zehn Prozent liegt. Und eine Studie der Vereinten Nationen hat gezeigt, dass die ausländischen Direktinvestitionen kaum Arbeitsplätze in Kolumbien schaffen. 2011 wurden über 13.000 Millionen Dollar in dem Land investiert. Mit Hilfe dieses Geldes wurden aber nur schlappe 3,8 Prozent der 2011 neu geschaffenen Arbeitsplätze bezahlt. Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch ist das Abkommen bedenklich, sagt Gewerkschaftsvertreter Gustavo Triana Suárez:

"Kolumbien ist das Land, in dem die Gewalt gegen Gewerkschaftler weltweit am größten ist, gemeinsam mit Guatemala. Zwischen Februar 2011 und April 2012 gab es 32 Morde an Gewerkschaftlern. Dazu kommen Bedrohungen und Vertreibungen. Aber die Europäische Union hat sich nicht darum gekümmert, dass sie einen Vertrag mit einer Regierung schließt, die die Gewerkschaften und die Bürgerrechte nicht respektiert. Dass wir hier Korruption, Morde und Diskriminierung haben. Das einzige, was diese europäischen Länder interessiert, ist, wie sie ihre Investitionen hier gewinnträchtiger machen können."

Der Vertrag bedeutet für Kolumbien einen Imagegewinn, die Absolution für die Politik der liberalen Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos. Zwar gibt es im Vertrag einige Absätze zu Menschenrechten und nachhaltiger Entwicklung, aber die werden in der Praxis kaum Auswirkungen haben - sagt auch der stellvertretende kolumbianische Minister für Außenhandel Gabriel Duque:

"In allen Verträgen geben die Staaten einen Teil ihrer Souveränität ab. Wir können zum Beispiel nicht einfach die Schutzzölle wieder erhöhen. Aber kein Land - auch Kolumbien nicht - wird die Hoheit über Umwelt- oder Sozialpolitik abgeben. Das würde kein Land der Welt akzeptieren."

Nur wenige Kolumbianer haben sich bisher überhaupt mit dem Freihandelsabkommen auseinander gesetzt. Für die meisten ist die Europäische Union weit weg und sie hoffen, dass der Vertrag doch noch Gutes bringt.