Die Eigenbrötlerin

23.11.2009
Else Lasker-Schüler, eine der wichtigsten deutschen Dichterinnen, stand Anfang des 20. Jahrhunderts im Zentrum der Berliner Bohème. Mit ihrer expressionistischen Lyrik war sie die Radikalste unter den Radikalen. Kerstin Decker hat ihr Leben in einer fulminanten Biografie festgehalten.
Im Oktober 1900 kommt es im Casino am Berliner Nollendorfplatz zu einem Zwischenfall. Else Lasker-Schüler betritt den Raum, in dem der Literaturzirkel "Die Kommenden" tagt, und wird von den Anwesenden aufgefordert, etwas vorzutragen. Sie zögert. Da stellt sich Heinrich Hubert Houben, Vorstandsmitglied jenes Zirkels, vor sie hin und grinst und ruft: "Frau Else Lasker-Schüler will auf Wunsch, wie man so sagt, vortragen." Es ist unfehlbar Ironie in seinem Ton. – Und was macht die Dichterin? Sie gibt dem Herrn eine Ohrfeige, dreht sich um und geht.

Es ist bei weitem nicht die einzige Ohrfeige, die Else Lasker-Schüler in ihrem Leben verteilen wird. Ihre Biografin Kerstin Decker erklärt das so: Die Dichterin sei eine Welterfinderin, eine Weltschöpferin, deren Glück und Tragik darin liege, dass sie in ihrer eigenen Welt wohnt – und gefangen ist. Kerstin Decker beschreibt Else Lasker-Schüler als eine verletzbare und sensible, eine mutige und exzentrische Frau. Eine Frau, die in Gesellschaften immer wieder aneckt, weil sie keine "Gemeinschaftliche" ist, weil ihr "eine Mitte" fehlt, eine Sphäre der "verbindlichen Unverbindlichkeit".

Eine "Frau ohne Maß" ließe sich leichthin sagen – doch Decker fragt: "Wer legt das Maß fest?" – Wie in ihren anderen Biografien (über Paula Modersohn-Becker oder Heinrich Heine) schlägt sich Kerstin Decker auch hier mit Verve auf die Seite ihrer Heldin. Das ist zwar nicht immer sachlich, aber stets erfrischend und lebendig. Wenn Else Lasker-Schüler behauptet, sie wäre mit ihrem Vater oft auf den Turm des Elternhauses in Elberfeld (heute Wuppertal) gestiegen und hätte bei gutem Wetter bis zu Heinrich Heine an den Rhein hinüberschauen können, schreibt Decker: Egal ob das Haus nun einen Turm hatte oder nicht: "Wer die seelische Wahrheit einer Dichterin nicht ernst nimmt, nimmt diese selbst nicht ernst."

Was Decker dann in ihrem Buch erzählt, ist die Geschichte einer Frau, die ihre äußere Heimat verloren hat. Als Else Lasker-Schüler elf Jahre ist, stirbt ihr Lieblingsbruder; mit 21 verliert sie ihre Mutter. Sie heiratet zweimal, lässt sich zweimal scheiden. Die Hälfte ihres Lebens besitzt sie keine eigene Wohnung, sondern lebt völlig mittellos in Pensionen oder irgendwo zur Untermiete. 1927 stirbt ihr einziger Sohn an Tuberkulose. Und 1933 schließlich verlässt sie Deutschland, nachdem sie als Jüdin mehrfach zusammengeschlagen wurde.

Else Lasker-Schülers Heimat ist die Welt, die sie sich mit ihrer Dichtung selbst schafft. Sie gibt sich den Namen "Jussuf, Prinz von Theben" und schreibt Dramen, Erzählungen, Briefe und Gedichte; Liebesgedichte vor allem – denn verliebt ist sie ihr ganzes Leben, auch noch mit 70. Die äußere Welt, die Welt der Spießer, kann das nicht verstehen. Die Rheinisch-Westfälische Zeitung bescheinigt ihr "vollständige Gehirnerweichung". Und ein Gericht urteilt über eines ihrer Gedichte, es habe einen "auffallenden Mangel an vernünftigem Sinn".

Kerstin Decker hingegen spricht kein Urteil über ihre Protagonistin. Am Anfang ihres Buches steht das Motto "Biografie ist radikale Vergegenwärtigung". Das hat Decker eingelöst – mit einer emotionalen, teilweise szenischen und assoziativen Sprache, die es dem Leser nicht leicht macht, sondern ihn herausfordert. So sehr, dass man am Ende des Buches eigentlich wieder von vorn beginnen will.

Besprochen von Marcus Weber

Kerstin Decker: Mein Herz - Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler.
Propyläen Verlag, Berlin 2009
474 Seiten, 22,90 Euro