Die dunkle Seite der Aufklärung

15.08.2013
Die Spezialität des britischen Schriftstellers Andrew Miller sind historische Romane: große Geschichtsbilder, die uns zugleich etwas über die Gegenwart erzählen. In seinem neuen Buch führt uns Miller nun ins Paris am Vorabend der Revolution.
Historische Romane tauchen meist in eine ferne Welt ein, die uns nicht auf den Pelz rückt, sondern wohlige Distanz zur Gegenwart verspricht. Anders die Romane des englischen Autors Andrew Miller, der schon mit seinem Erstling eine Parabel auf die Gegenwart entwarf, als er von einem philanthropischen Arzt im England des 18. Jahrhunderts erzählte, der ohne "Die Gabe des Schmerzes" die Welt verbessern wollte und an seiner Unfähigkeit zur Empathie scheiterte.

Gefährliches Leichengift
Auch der Held im "Friedhof der Unschuldigen" ist ein Rationalist, der an die Kraft der Vernunft glaubt. Jean-Baptiste Baratte, ein junger Ingenieur aus der Normandie, erhält den Auftrag, einen Friedhof inmitten von Paris abzutragen und den Boden für die geplanten Markthallen zu bereiten. Hunderttausende von Toten wurden hier im Lauf der Zeit begraben, viel zu viele für den kleinen Gottesacker. Fäulnis und Gestank legen sich über die Stadt, gefährliches Leichengift dringt bei Regenfällen durch die morschen Mauern.

Der junge Mann, ein liebenswürdiges Provinzei, kommt in das Paris am Vorabend der Revolution, um sein Glück zu machen. Er liest Voltaire und sympathisiert mit der "Partei der Zukunft". Voller Ideale, die der "Reinigung" der Menschheit dienen sollen, ist er nicht darauf vorbereitet, in der Vergangenheit wühlen zu müssen.

Während Berge von Knochen abgefahren werden, geschehen mysteriöse Dinge: Ein Organist spielt den Grubenarbeitern in einer Endlosschleife Bachkantaten vor, der Pfarrer irrt als Spukgestalt umher, die Tochter des Küsters wird Opfer einer Gewalttat, Baratte selbst entgeht nur knapp einem Anschlag auf sein Leben. Gepflegt wird er von dem Arzt, Dr. Guillotin, der im Dienste der Wissenschaft anatomische Studien an mumifizierten Leichen vornimmt.

Ein jugendlicher Held
Der Autor verzichtet auf einen interpretierenden, die Ereignisse vorhersehenden Erzähler, er schildert das Geschehen aus der Perspektive des jugendlichen Helden, die er nur manchmal verlässt, um in die Katakomben der aufgestapelten Leichen zu leuchten, in die Irrgänge des Versailler Schlosses oder in das Herz einer Angebeteten. Indem er szenisch vorgeht, erfasst er eher die kleinen intimen Gesten, die wachsenden Zweifel des Protagonisten und die großen Gefühle.

Man sieht, riecht und schmeckt das Paris jener Jahre. Mit schnellen Strichen und in zartem Pastell, detailreich, poetisch und naturalistisch zugleich zeichnet Miller eine vergangene Welt aus Geräuschen und Farben, Licht und Schatten, Leben und Tod. Eine Welt, in die das Technische, die Herrschaft der Apparate in Gestalt einer Tötungsmaschine, schon ihre Schatten wirft.

Wie jeder gute historische Roman, der mehr im Sinn hat als bloßen Vergangenheitskarneval, ist Andrew Millers Buch ein Gleichnis. Indem es manchmal etwas zu symbolgeladen auf die Folgen der Auslöschung der Vergangenheit verweist, liest es sich als große Metapher auf die dunkle Seite der Aufklärung. Gewissermaßen wie die Ouvertüre zu der kommenden Epoche, in der das Versprechen von Freiheit in Massenmord und Terror endete.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Andrew Miller: Friedhof der Unschuldigen
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Zsolnay-Verlag, Wien 2013
384 Seiten, 21,90 Euro
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