Die Duftwelten der Literatur

Zimtstraßen, Veilchenworte und Moschusgedanken

Nicht zu unterschätztende literarische Komponente: Düfte.
Nicht zu unterschätztende literarische Komponente: Düfte. © dpa / picture alliance / David Ebener
Von Anat Kalman · 05.04.2015
Weihrauch, Rosmarin und Rosendüfte durchziehen die Literaturgeschichte, Aromen beschreiben Stimmungen und schärfen die Sinne für Landschaften. Düfte sind eine nicht zu unterschätzende literarische Komponente.
Zitator: "Die Diktatur des Proletariats konnte den Geschmacks-und Geruchsnerven meines Vaters nichts anhaben. Mein Vater hat die ganze Welt aufgegessen. Und dabei erfand er die besten Gerichte. Zum Beispiel das Ferkelragout nach Brasover Art. Alle glaubten, dass das ein altes ungarisches Gericht wäre. Aber nein, mein Vater hat es Anfang der fünfziger Jahre erfunden. Damals, als er gleich nach unserer Deportation eine kleine Kneipe aufgemacht hat. Ich kann mich noch erinnern, das Frauenklo war im Kinderzimmer installiert worden..." (Aus "Harmonia Celestis", S. 100)
Peter Esterhazy: "Ich muss es so formulieren, dass ich von den stalinistischen Zeiten nur gute Erinnerungen habe. Wir wurden depotiert, das ist natürlich ein dramatisches Ereignis, nicht aber für ein Kind, nur für die Eltern. Alles, was ich über meine Kindheit dann in Erinnerung habe, das hat dann mit diesen sogenannten historischen Zeiten nichts zu tun. Nicht einmal mit der Armut , weil, vielleicht so arm waren wir nicht oder ein Kind, das sieht einfach nicht. Denn wenn man Brot hat und Melonen, Wassermelonen, in konkreto Wassermelonen, dann hat man alles. Also ich hab' auch alles gehabt."
Die glücklichen Momente der eigenen Kindheit stehen auch bei dem ungarischen Schriftsteller Peter Esterhazy im Zeichen des Geschmacks und Geruchs. Denn Anfang der fünfziger Jahre – als er und seine Familie wegen ihrer aristokratischen Herkunft vom kommunistischen Regime in ein ostungarisches Dorf verbannt wurden - rochen Wassermelonen und Brot noch genauso intensiv, wie frisch gebratenes Schweinefleisch. Das ist heute nur noch wenigen bewusst, aufgrund der weit verbreiteten Geschmacks- und Geruchslosigkeit von Treibhausfrüchten und Industriebackwaren.
Geruchs-und Geschmackerlebnisse sind es aber, die die Jahre der schlimmsten stalinistischen Epoche für den kleinen Peter Esterhazy in eine Zeit der Wassermelonen, des weißen Brotes und der gebratenen Schweinefleischerfindung seines Vaters verwandeln. Und da heraus entsteht dann ganz wie von selbst das Bild des ungarischen Flachlandes, mit seinen heißen, mitteleuropäischen Sommern und den langezogenen, nichtgeteerten Dorfstrassen. Dort, wo die aufgeschnittenen, grün-rot leuchtenden Wassermelonen wie große Lampions auf den Holztischen der Melonenverkäufer liegen. Ein Geruch, ein Geschmack, ein Ort – und damit ein Stück Schicksal.
Zitator: "der Anblick des kleinen Madelainegebäcks hat mich nicht sonderlich berührt ... aber der Geruch ...! selbst wenn nichts mehr bleibt von der Vergangenheit, nach dem Tod derer, die wir kannten und nach dem Verschwinden der Dinge, die uns umgaben, so schweben doch Geruch und Geschmack so lebendig und so flüchtig, so unverwechselbar und treu wie Seelen, noch lange durch das, woran wir uns erinnern, was wir erwarten und hoffen ..." (Marcel Proust, Du côté de chew Swann)
Annick Le Guérer: "Gerüche und Düfte treten in der modernen und zeitgenössichen Literatur sehr oft in Zusammenhang mit Kindheitserinnerungen auf. Das gilt auch für Marcel Proust, der in seinem 1913 erschienenen Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beschreibt, wie er an einem Wintertag eine Madelaine in den Früchtetee tunkt und wie mit einem Schlag vergangene Jahre wieder wach werden. Aus dem Tee steigt der Geruch der Madelaine auf und Proust fühlt sich plötzlich in jene Ferientage zurückversetzt, die er bei seiner Tante in Combray verbringen durfte. Ohne es zu wollen, steht alles wie leibhaftig vor seinem geistigen Auge: die Menschen die er damals kannte, das Haus dieser Tante, und was dort gegessen wurde. Deshalb sagte Marcel Proust immer, dass mit Hilfe des Duftes und des Geschmacks mehr als mit den anderen vier menschlichen Sinne die Zeit übersprungen werden kann. Denn der Duft verbindet auf sehr sinnliche Art und Weise Vergangenes mit dem Jetzt."
Zitator: "All diese flüchtigen Düfte, die der Strassen, der Felder, der Häuser, der Möbel ... die süßen und die schlechte, die warmen Düfte der Sommernächte und die kalten der dunklen Winterabende, sie alle rufen Erinnerungen hervor, gerade so, als ob im Duft selbst die vergangenen Dinge einbalsamiert wären." (Guy de Maupassant "Fort comme la mort")
Die französische Anthropologin Annick Le Guérer untersucht die symbolische Sprache von Düften und Gerüchen in der europäischen Literatur - und Philosophiegeschichte. Sie hat dabei entdeckt, dass Duft, Geschmack und Parfum eigentlich erst seit Ende des 19. Jahrhundert literarisch wichtig werden und wie bei Peter Esterhazy und Marcel Proust als Erinnerungsauslöser auftauchen. Bis dahin spielten sie literarisch keine besondere Rolle. Selbst im naturmystischen Ansatz der Romantiker sind sie nur Nebenerscheinungen . Düfte treten in der romantischen Literatur zwar auf, denn sie sind Teil der Natur, die selbst Stimmungen im Betrachter auslösen. Aber diese Stimmungen sind frei von persönlich gefärbten Dufterinnerungen. So wie etwa bei Johann Wolfgang von Goethe und seinen geliebten Bäumen, an deren Düfte er zwar einen wehmütigen und gleichzeitig sehr spritzigen Abschied knüpft – ohne aber anzudeuten, um welche Bäume und um welche spezifischen Düfte es sich dabei genau handelt.
Zitator: "Lebet wohl, - geliebte Bäume! - Wachset in die Himmelsluft. - Tausend liebevolle Träume - schlingen sich durch euren Duft - Doch was steh ich und verweile? -Wie so schwer,
so bang ist's mir? - Ja, ich gehe! - ja, ich eile! - Aber, ach! - mein Herz bleibt hier."
Das philosophische, wissenschaftliche und literarische Interesse an der Vielfalt der Düfte und Gerüche erwachte nämlich erst Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bis dahin, so erklärt die französische Anthropologin Annick Le Guérer, galt der Geruchssinn als der "niedrigste" und "archaischste" der fünf menschlichen Sinne.
Annick Le Guérer: "Die Entwertung der Gerüche und des Geruchssinn setzte eigentlich schon im Mittelalter ein. Die Kirche vertrat nämlich die Meinung, dass Gerüche und Düfte, sofern sie nicht unangenehm sind, bestenfalls der Frivolität dienen können und darum für die spirituelle Entwicklung der menschlichen Seele äußerst gefährlich seien. Deshalb wurde ihr Gebrauch streng auf die Kriche beschränkt."
Und auch die im 18. Jahrhundert sich emanzipierenden Wissenschaften erklärten, dass die Erfahrungen des Geruchssinns kein eigenes Vokabular besitzen, sich darum immer des Vokabulars der anderen Sinne bedienen müssen und somit für die exakte Erkenntnis wertlos seien. Gerüche werden ja als "frisch", als "stark", als "leidenschaftlich" oder als "blumig" beschrieben und das sind die Kategorien des Fühlens und Sehens – nicht des Riechens selbst. Darum setzte der deutsche Philosoph Immanuel Kant den Geruch selbst noch hinter den Geschmack. Nur.... "so schrieb er abfällig in seiner "Kritik der Urteilskraft", ".... dass er noch aufdringlicher sei , da man dem Geruch eines anderen Menschen oder einer Umgebung nicht entfliehen kann."
Diese Verachtung des menschlichen Geruchssinns widersprach jedoch der gleichzeitig gängigen Vorstellung, dass gute Düfte und Parfums nützliche Mittel zur Krankheitsbekämpfung seien. Denn seit der großen Pest um 1348 waren Parfums und andere gut riechende Produkte für die Hygiene in Europa außerordentlich wichtig geworden. Damals glaubten die Ärzte nämlich noch, dass die Pestilenz über das Wasser und über die schlechten Gerüche weitergetragen werde und darum wurde Ende des 14. Jahrhunderts die Schließung aller öffentlichen Bäder angeordnet. Wie sich das Volk von da an sauber hielt, darüber gibt es keine Zeugnisse. Doch die bessere Gesellschaft des Adels reinigte sich fortan nur noch mit Duftessenzen. Im 17. Jahrhundert erreichten diese Praktiken dann am Hofe von Ludwig dem XIV. ihren Höhepunkt.
Die Toilette des Sonnenkönigs war typisch für die Gepflogenheiten dieser Zeit. Der Graf von Saint-Simon beschreibt in seinen Memoiren, dass sich Ludwig der XIV am Tag nur einmal wusch. Und das waren seine Hände. Die tauchte er in eine Schüssel mit destilliertem Alkohol. Sauber sein, das hiess damals nämlich nicht "sich waschen". Sauber sein hieß: sich die Haut mit Zitronen-oder Orangenseife einreiben. Sich Gesicht und Hände mit duftendem Essig bespritzen, sich die Zähne mit dem sogenannten Mundparfum aus Ingwer und Coriander zu reinigen und die Haare mit Sandelholzöl, Rosen-oder Jasminöl zu waschen. Und schwitzte man im Sommer, fuhr man sich mit in Parfumessig getauchten Tüchern – den sogenannten Venustüchern - übers Gesicht.
Annick Le Guérer: "Das 18. Jahrhundert, das all diese Duftessenzen übernahm, wurde dann zum Jahrhundert der Parfumerie schlechthin. Es war ja das Jahrhundert der Eleganz, der Subtilitäten, des Luxus. Die ersten wunderschönen Parfumflakons wurden kreiert. Daran kann man heute noch erkennen, wie wichtig gute Düfte und Gerüche für die Aristokraten waren, die damals ja kurz vor der Guillotine standen. Von Marie-Antoinette wird sogar erzählt, dass sie, als sie auf der Flucht nach Varennes war, nur an eines dachte: an ihr Parfumnecessaire, das sie unter keinen Umständen vergessen wollte."
Zitator: "Frühling lässt sein blaues Band – wieder flattern durch die Lüfte; süße, wohlbekannte Düfte –streifen ahnungsvoll das Land. – Veilchen träumen schon – wollen balde kommen. Horch, von fern ein leiser Harfenton ! Frühling, ja du bist's !
Dich hab ich vernommen !" (Eduard Mörike)
Jean Kerleo : "Nun, wie immer dem auch sei, der Duft und auch das Parfum regen zum Träumen an. Sie provozieren Gefühle. Man kann sogar sagen, sie bewegen unsere Psyche. Sie lassen einen grauen Tag fröhlicher erscheinen, so, wie eine neue Frisur oder ein neues Kleid. Sie vervollständigen etwas in ihnen. Aber sie sind vor allem dazu da, das Leben schöner zu machen. Ja, genau das ist es. Denn dort wo es keine Düfte und keine Parfums gibt, gibt es auch keine Träume und damit keine Zukunft mehr."
Jean Kerleo war sein Leben lang Parfumeur gewesen und vor zehn Jahren hat er die Osmothèque gegründet. Ein Parfummuseum ganz besondere Art, das in Versailles, in der Nähe des Schlosses des ehemaligen Sonnenkönigs Ludwig XIV steht und über eine Sammlung von über 2000 Parfums verfügt – Nachkompositionen von Düften und Aromen aus fast allen Epochen und Regionen Europas und des Mittelmeerraumes.
Düfte und Aromen – so erklärt er - wirken wie Momente der Stille, oder sie regen an, erfrischen und erinnern. Der Duft fesselt, lässt den Menschen innehalten und ist wie ein Augenblick der Besinnung. Und all das komme nicht von ungefähr. Das sei keine Einbildung. Denn es sei bekannt, dass die aromatischen Moleküle pflanzlicher Substrate durch unsere Lungen in die Blutbahn dringen und sich über den ganzen Körper verteilen. Ähnlich verhält es sich mit Düften, die auf die Haut gestrichen werden, erklärt Jean-Pierre Chaumont, Botanikprofessor und Aromatherapieforscher der Universität Besançon.
Jean-Pierre Chaumont: "Ja, natürlich. Die volatilen Elemente der Duftessenzen gehen durch den Körper. Das sind sehr leichte Moleküle, die sich im Körper schnell verteilen. Es reicht schon, einen Tropfen einer Duftessenz auf die Haut zu streichen oder noch besser auf den Ellenbogen, also auf Zonen, die leicht absorbieren und die Moleküle gehen sofort ins Blut."
Die Duftmoleküle haben also ihre eigene Sprache, die durch den menschlichen Körper spricht. Spontan, aber doch immer im Rahmen einer ähnlichen Bedeutung. Denn Düfte sind – so Jean Kerleo - Töne oder anders gesagt: Duftnoten. Und wie die Welt der Klänge in Dur-und Molltonleiter geordnet ist, die eine durchaus universelle Sprache sprechen, so gibt es auch in der olfaktorischen Geruchswelt sogenannte "Duftfamilien", die Düfte in objektiv nachvollziehbare Kategorien unterteilen.
Jean Kerleo: "In der Parfumerie unterscheiden wir insgesamt sieben solcher sogenannten Duftfamilien, die dem Parfumeur zur Komposition seiner Parfums zur Verfügung stehen. Die erste ist die der 'Esperiaden', der fruchtigen Düfte, zu denen das Kölnisch Wasser gehört. Sie bestehen vorwiegend aus Gartenfrüchten. Dann haben wir die 'Flora-Familie', die blumigen Parfums, dann die Familie der Sträucher, die sogenannte 'Farnkraut-Familie'. Danach kommt die 'Zypressen-Familie, die herbere Holzfamilie, die orientalische "Amber-und Moschus-Familie' und schließlich die 'Leder-Familie' mit einem sehr starken, besonders charakteristischen Geruch, der heute so gut wie überhaupt nicht mehr gefragt ist."
Duft - Stimmung -Ton. Wie verwandt diese drei miteinander sind, hat der französische Parfumhistoriker Septimus Piesse schon im Jahre 1905 in seiner ersten französisch-sprachigen "Geschichte der Parfum"s dargestellt. Im Kapitel über " die Harmonie der Düfte" zeichnet er auf, welchen "Duftoktaven" – das heisst Tonleitern die einzelnen Duftfamilien angehören. Und darum ist für Jean Kerleo die Parfumerie als Kunst die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik.
Zitator: "So wie bei den Tönen gibt es auch zwischen den Düften Harmonieverbindungen, wie Oktave und Terz. Vanille und Mandeldüfte gehören zum Beispiel einer Oktave an. Zu einer höheren Oktave gehören Zitrone, Limone und Orangenschale. Dann gibt es zwischen den Düften auch "Halbtöne", wie etwa zwischen der Rose und der Geranie. Und man kann Düfte schließlich so mischen, dass sie zusammen einen anderen bekannten Duft ergeben. Aus fast allen Florakombinationen kann so zum Beispiel der Jasminduft hergestellt werden, gerade so, als wäre das Jasmin ursprünglich der Duft aller Düfte gewesen."
Jean-Kerleo: "Deshalb lernt der Parfumeur wie ein Komponist die einzelnen Duftnoten der jeweiligen Grundstoffe erkennen, ja wir erreichen sie und das sind dann unsere 'Geruchstonleitern'. Und erst wenn wir fähig sind, alle Duftnoten voneinander zu unterscheiden, dann können wir damit in unserer Phantasie auch spielen, das heißt 'komponieren'. Darum erfinden wir unsere "Formeln" erst in unserer Vorstellung, und danach probieren und wiegen wir eigentlich erst aus."
In diesem ausgeklüngelten und feinsinnigen System von Duftoktaven, Halb-und Ganz-Dufttönen bewegen sich auch viele literarische Duftbilder. Doch nicht etwa so, dass nun alle die gleichen Düfte benutzen, um das gleiche auszudrücken. Es gibt aber Dufträume, innerhalb derer sich Schriftsteller und Dichter wie selbstverständlich Bedeutungen aussuchen, die dem Dufttonsystem des Septimus Piesse durchaus entsprechen. Blumendüfte sind dafür ein Beispiel. Sie haben olfaktorisch sogar klassische Rollen zugesprochen bekommen.
Tote Heilige Bernadette von Lourdes hat einen "guten Duft" verströmt
Etwa das Veilchen, als klassisches Symbol für Frühling und Jugend. Oder die Rose, als klassisches Symbol für Liebe, Leidenschaft, Reinheit und Treue. Ganz gleich, ob William Shakespeare im 16. Jahrhundert vom lieblichen Duft der Rose spricht, "den die Winde enthüllen und umkosen" oder ob Hermann Hesse vierhundert Jahre später in wenigen poetischen Zeilen die "süße Gegenwart" des Rosenduftes beschwört. Ihre Qualität und ihr symbolischer Einsatz in der Literatur bleiben über Jahrhunderte unverändert, was nach Septimus Piesse keineswegs erstaunlich ist. Denn der Rosenduft ist neben dem Jasminduft in seiner jeweiligen Dufttonleiter der "höchste" , weil chemisch der "vielschichtigste" und darum "lieblichste" Duftton.
Zitator: "der Duft der Rose nimmt dich in einen süßen Bann, - der rührt dich liebkosend leise, - wie eine Liederweise, -mit Ahnung voller Schönheit an, - ist ohne Gleichnis rein und zart: - du kannst es nicht ermessen, - fühlst nur ein süß Verlangen – und eine süße Gegenwart". (Hermann Hesse, die Rose)
Paul Faure: "Auch im Alten Testament sind Duftnoten, Balsame und Parfums wichtig. Einige von ihnen wurden sogar zu heiligen Düften, von Moses höchst persönlich eingeführt. Etwa Saktetropfen, Räucherklaue, Galbanum und reiner Weihrauch. Sie durften unter keinen Umständen zu profanen, also persönlichen Zwecken verwendet werden, sondern ausschließlich zur Verehrung Gottes."
Zitator: "und der Herr sprach zu Mose : Nimm' Dir Balsam von der besten Sorte : fünf-hundert Schekel erstarrte Tropfenmyrrhe, halb so viel wohriechenden Zimt und Gewürzrohr, so wie fünfhundert Schekel Nelken, dazu ein Hin Olivenöl und mach' daraus ein heiliges Salböl. Damit bestreiche das Offenbarungszelt und die Lade der Bundesurkunde, den Tisch und den Leuchter mit ihren Geräten und den Rauchopferaltar. So sollst Du sie weihen, damit sie hochheilig seien. Und ein jeder, der sie berührt, wird heilig. Aber auf keinen menschlichen Körper darf es gegossen werden und ihr dürft auch keines in der gleichen Mischung herstellen."
Im Duftnotensystem des Septimus Piesse stehen die Gewürzdüfte eine Duft-Tonleiter hinter den Esperiaden-und Floradüften. Doch in der Bibel – so erklärt der französische Byzantinist Paul Faure - nehmen sie "als Düfte der Heiligkeit" und des Paradieses den ersten Platz ein. Noch heute wird im Judentum, zum Ausklang des Schabbat, die sogenannte Bessomimbüchse – eine mit Nelken und Zimtdüften gefüllte Zierdose - herumgereicht, damit jedes Familienmitglied vor Wochenbeginn ihren guten - das heißt heiligen - Duft einatme, während der Betende spricht.
Paul Faure: "Und wenn sie die Evangelien gelesen haben, dann wissen Sie auch, welche Rolle das Parfum im Orient zur Zeit von Jesu Geburt spielte. Welche Geschenke die drei Könige dem neugeborenen Jesuskind mitbrachten. Das war Gold, Weihrauch und Myrrhe."
Duft und Heiligkeit. - Paul Faul verweist hier immer wieder gerne auf die « zwei Seiten » der daraus entstandenen himmlisch-duftenden Liebe, wie sie im "Lied der Lieder", im sogenannten Hohelied erscheint. Denn die dort beschworene Liebe zwischen Mann und Frau ist vielschichtig und im wahrsten Sinn des Wortes "würzig". Sie gehört ins Reich des Lichtes, ist sowohl paradiesisch-sinnlich, erotisch und romantisch, als auch ewig und göttlich. Und in ihrer Sinnlichkeit wird sie zum Symbol der Liebe Gottes zur Welt. Gefühl, Sinnlichkeit und Spiritualität sind im Alten Testament noch eins und werden erst von den christlichen Kirchenvätern streng getrennt. Erst ab dem 4. nachchristlichen Jahrhundert gehört die Sinnlichkeit der Ebene des menschlichen "Geruchs" an und die Göttlichkeit der Ebene des "erhabenen Duftes". Die wahrhaftig biblische Liebe war jedoch noch beides und roch wie der Garten Eden....
Zitatorin: "Wieviel süßer als Wein ist Deine Liebe – Deine Salben köstlicher als alle Balsamdüfte – Von Deinen Lippen tropft Honig – der Duft Deiner Kleider ist wie des Libanon Duft. – Ein verschlossener Garten – ein versiegelter Quell – ein Lustgarten sprosst aus Dir – Granatbäume – Hennadolden – Nardenblüten – Krokus – Gewürzrohr – Weihrauchbäume – Myrrhe und Aloe .... Meine Geliebte komm' in den Garten und iss' von diesen köstlichen Früchten" (aus dem Hohelied 4.10 –4.16)
Paul Faure: "Das nannte man im Griechischen 'Aroma', was auch mit dem Begriff 'Kultur' übersetzt werden kann. Denn die Menschen haben schon seit der frühesten Bronze-Zeit vier Dinge parfumiert: ihre Frauen, ihre Götter, ihre Priester und ihre Könige. Sie meinten, dass 'gute Düfte' göttlich seien und dass die Feinde der Götter – die Dämonen – dagegen 'schlecht' riechen. Man muss nämlich wissen, dass man in Ägypten und in Griechenland , wie überhaupt im Vorderen Orient glaubte, dass beim jüngsten Gericht, die Götter... etwa Osiris, aber auch all die anderen.... die Seelen nicht etwa wiegen müssten, sondern dass es den Göttern selbst ausreiche, eine Seele zu riechen. Und von daher leitet sich schließlich auch die alte christliche Vorstellung des 'Geruchs der Heiligkeit' ab. Ein Toter, der 'gut' roch und dessen Körper langsam oder gar nicht verweste, galt lange als 'Heiliger'."
Ein Motiv, das in der europäischen Religions- und Literaturgeschichte noch im 19. Jahrhundert lebendig war. So soll etwa der Körper der verstorbenen Heiligen Bernadette von Lourdes lange einen "guten Duft" ausgeströmt haben und literarisch war es Dostojewski, der diese Idee von der gut riechenden "Heiligkeit" wieder aufgriff – wenngleich auch mit einem leicht sarkastischen Unterton. Die französische Anthropologin Annick Le Guérer hierzu
Annick Le Guérer: "Dostojewski spricht es in seinem Roman 'die Brüder Karamassow' an, in Bezug auf den Tod des Mönches Sosima, Die, die diesem Mönch nahestehen, halten ihn für einen heiligen und sehr reinen Menschen und erwarten deshalb nach seinem Tod, dass sein Köper einen 'heiligen Geruch' ausströmen wird. Doch leider tritt das Gegenteil davon ein. Es ist kein 'guter Geruch', sondern Gestank, der sich da langsam breit macht und der die Persönlichkeit des Mönches preiszugeben scheint. Und das bringt diejenigen, die um sein Totenbett herumstehen und beten, in große Verlegenheit. Vor allem in dem Moment, in dem die Frage laut wird, ob man nicht die Fenster öffnen soll."
Zitator: "Nur einige von den Anwesenden mochten diese Frage gehört und sich gedacht haben, dass die Annahme, die Leiche des Entschlafenen könne verwesen und einen Verwesungsgeruch ausströmen, reiner Unsinn und wegen der Kleingläubigkeit und Leichtfertigkeit des Fragestellers bedauerlich, wenn nicht gerade lächerlich ist. Denn man erwartete doch genau das Gegenteil." (Dostojewski, aus : die Brüder Karamassow)
Annick Le Guérer: "Hier sieht man, wie sehr der Geruch eigentlich als intimer Ausdruck von Charakter verstanden wird. Jemanden 'riechen' oder eben 'nicht riechen' können... denn plötzlich wenden sich die Betenden vom Mönch Sosima ab, obwohl sie ihn bis dahin geliebt haben. Das heißt, von nun ab gilt Sosima mehr oder weniger als schlecht. Dostojewski verwendet hier eindeutig ein altes religiös olfaktorisches Motiv."
Granatbaum als Symbol paradiesisch-biblischer Liebe
Myrrhe, Zimt und Weihrauch als Düfte der Heiligkeit. Der duftende Granatbaum als Symbol paradiesisch-biblischer Liebe. Ausdünstungen der Verwesung als Zeichen der Sündhaftigkeit. Duftnoten wie Ingwer und Coriander, Sandelholzöl, Rosen- und Jasminöl dagegen als Garant für Gesundheit und Wohlbefinden. Obwohl er den Geruchssinn lange verachtete, lebte der Mensch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein in einem unglaublich reichen olfaktorisch-symbolischen Universum.
Städte und Dörfer rochen auch wesentlich stärker, als sie es heute tun. Und das nicht nur im "angenehmen" Sinne. Die Strassen stanken jahrhundertelang nach Pferdemist, die Hinterhöfe oft nach Urin, Essensresten und verbrannten Abfällen, die Treppenhäuser nach altem, faulenden Holz, die ungelüfteten Stuben nach muffigem Staub und die Schlafzimmer nach feuchten Federbetten und dem stechend süßen Geruch der Nachttöpfe.
Andererseits besaßen die Länder ihre charakteristischen Gerüche – in gewisser Hinsicht ihre spezifischen geographischen Individualgerüche. Für den französischen Dichter Paul-Jean Toulet roch Großbritannien nach Marmelade und Steinkohle. Marokko dagegen nach Zitrusbäumen und Narzissen, während in Spanien vor allem Thymian, Lavendel, Rosmarin und Origan die Luft der Strassen füllten. Und der algerisch-französische Schriftsteller Albert Camus tauchte die weiße Hitze Algiers in Wermutsdüfte.
Zitator: "Schon nach wenigen Schritten überwältigt uns der Duft der Wermutbüsche.
Ihr Saft gärt in der Hitze und verbreitet über das Land einen Duftäther, der zur Sonne steigt
und den Himmel schwanken macht". (aus : der Mythos des Sysiphos)
Doch ganz gleich ob Reisebeschreibungen, Gedichte oder Prosa – es scheint, als ob bis Ende des 19. Jahrhunderts nur die "guten" Düfte literarisch wertvoll waren. Wozu Tiergerüche – mit Ausnahme von Gebratenem – keinesfalls zählten. Und das obwohl man schon lange vor unserer Zeitrechnung – nämlich im Rom der Antike – neben pflanzlichen auch tierische Düfte zur Herstellung von Parfums und Aromen benutzte. Der Byzantinist Paul Faure hat herausgefunden, um welche Tieressenzen es sich dabei handelte.
Paul Faure: "Im Rom der Antike kam dann etwas aus dem Orient, was man bis dahin nicht kannte: nämlich die stark riechenden Tierdüfte. Als Alexan-der der Grosse im Jahre 323 vor Christus starb, brachte seine grosse Armee, gefolgt von den vielen Tausenden Händlern zum ersten Mal Tierdüfte aus dem Orient in den europäischen Mittelmeerraum. Ich habe mir davon eine Liste gemacht. Zu den meist benutzten Düften dieser Art gehörten die Sexualdrüsen des Bibers. Glauben Sie mir, das stinkt fürchterlich, wirkt aber extrem erregend. Dann der Moschus, die getrockneten Exkremente vom Bisamtier und schliesslich auch die Sexualdrüsen des Himalaya-Rehbocks. Auch das riecht sehr stark und wurde in der westeuropäischen Parfumerie bis ins späte 18. Jahrhundert hinein verwendet."
Seit dieser Zeit benutzt die europäische Parfumkunst nicht nur wohlriechende Blumen und Früchte. Stinkende, getrocknete Exkremente und andere tierischer Produkte wurden jahrhundertelang verarbeitet, um erotisierende oder stärkende Duftkombinationen zu schaffen. Dazu zählten ab dem 16. Jahrhundert auch gemahlene Fuchslunge, Bärenfett, Regenwurmöl, Salamanderblut, oder geriebenes Hirschgeweih. Die Tierfreunde des 20. Jahrhunderts haben letztlich dafür gesorgt, dass solch tierisch angreicherte Essenzen mit Ausnahme des Moschus aus der Mode gekommen sind.
Im 16. und 17. Jahrhundert galten diese tierischen Essenzen jedoch noch als verjüngend und als besonders verführerisch. Am Hofe der Katharina von Medici, die 1533 den französischen König Henri II heiratete, gab es ein "Wasser für den Teint". Für die Königin selbst, aber auch für die Hofdamen und Kurtisanen, die miteinander um die Gunst des Herrschers wetteiferten. Angeblich war es der große Arzt und Hellseher Nostradamus, der dieses Wässerchen für den Teint entwickelt hat. Sein Rezept existiert jedenfalls heute noch.
Zitator: "man füttere einen jungen Raben im Nest vierzig Tage lang mit harten Eiern. Dann töte man ihn und distilliere ihn mit Myrrhen-Blättern, Talk und Mandelöl..." (Arielle Picaud/Status Mansaud, Histoire des parfums, 1999)
Und in den Tagen der Französischen Revolution sahen die Damen des französischen Adels dann in den Tier-und Lederdüften ein Mittel, sich vor dem Zugriff allzu aggressiver Revolutionäre zu schützen. Denn - so sagte ein Sprichwort damals – "es ist gefährlich, nicht nach Tier zu riechen, wenn der Terror herrscht."
Erst der 1867 verstorbene französische Skandaldichter Charles-Pierre Beaudelaire verwendete in seinen Gedichten Tierdüfte, wie es bei ihm überhaupt nur sehr wenige Gedichte gibt, die nicht in irgendeinen Duft getränkt sind. Und der "Tierduft" – ganz gleich welcher - ist bei ihm Sinnbild der weiblichen Erotik. Denn im "animalisch-samtenen" Duft sah Beaudelaire den Wesenszug der von ihm so oft beschworenen Femme Fatale, seinem Ideal des Ewig Weiblichen – So wie er es in seinem Gedicht "Le Parfum" zeichnete –
Zitator: "Und dem geschmeidigen und schweren Haar – ein Düftekissen und Weihrauchfänger – entstieg ein Tiergeruch, ein wilder, strenger ... Ihr Kleid, das ganz aus Samt und Seide war - das ganz in Jugendanmut eingetauchte, gleichwie ein Pelz den herben Duft verhauchte ..."
Annick Le Guérer: "Auch Beaudelaire hat immer wieder betont, dass Düfte, Farben und Klänge einander entsprechen. Und damit macht er den Duft zum intimen Ausdruck eines Wesens. Etwas, was uns von einem Menschen bleibt, auch wenn es ihn für uns nicht mehr gibt. Der Duft ist bei Beaudelaire das Symbol par excellence für den Menschen. Wie in den Blumen des Bösen , wo er jene Frau beschreibt, die er zugleich geliebt und gehasst hat – Jeanne Duval"
Zitator: "Verzerrte Gottheit Du, so dunkel wie die Nacht – Havanna-und Muskatgerüche um Dich kreisen, - Geschöpf des Satans: sollst ein Faust der Steppe heißen, - Du schwarze Zauberin, Du Kind der Mitternacht!"
Und auch der 1844 geborene deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche setzte sich für die Anerkennung des Geruchssinn eins. Annick Le Guérer zählt ihn darum zu jenen Philosophen " die eine Nase haben". Er forderte laut und hörbar, dass den menschlichen Sinnen und ganz besonders dem Geruchssinn endlich der Stellenwert zugesprochen werden soll, der ihm gebührt. Denn für ihn war der Geruchssinn das "lebendig Animalische" im Menschen, das nicht unterdrückt, sondern zum Ziel des Lustgewinns geschult werden sollte. So forderte er noch 1888 im "Antichrist".
Zitator: "Hört' endlich auf, den Ursprung des Menschen im Geist zu suchen, in einer "göttlichen Natur": Stellt ihn wieder in den Rang der Tiere zurück ! Denn der Mensch leidet vor allem an sich selbst und unter der schrecklichsten Krankheit, die die Welt je kannte – unter seinem eigenen Schuldbewusstsein".
Annick Le Guérer: "Der Geruchssinns wird im 19. Jahrhundert aber auch dank des wissenschaftlichen Fortschritts der Chemie rehabilitiert. Weil die Parfumerie damals anfing, synthetische, das heisst chemische Düfte zu kreieren. Das senkte die Preise der Parfums und machte Duftessenzen auch für breitere Gesellschaftsschichten erschwinglich."
Die Industrialisierung, die damit aufkommende Massenproduktion und die neu erfundene Werbung, schaffen den modernen Typus des Parfumeur-Créateur. Der erste von ihnen war der Parfumeur Pascal Guerlain, dessen Marke auch heute noch existiert. Er wird zum "Parfumeur der Kaiserin Eugénie" erkoren, da er das "Kaiserliche Kölnisch Wasser" erfand, das der Kaiserin bei ihren Migräneanfällen Erleichterung verschaffte. Und 1889 wurde in Paris dann nicht nur die Fertigstellung des Eiffelturms, sondern auch die Erfindung des ersten chemisch-industriellen Parfums mit großen Pomp gefeiert. Es hieß "Jicky" und war von Aimé Guerlain geschaffen worden.
Zitator: "Das Ende des 19. Jahrhundert markiert in der Geschichte der Duftessenzen eine große Wende. Denn die Düfte befreien sich von ihren natürlichen Substraten. Es werden neue, bislang nie dagewesene Düfte erfunden und traditionell-natürliche Düfte synthetisch imitiert. 1877 wird das Vanilline geschaffen und 1898 kommt das erste synthetische Veilchenparfum auf den Markt". (Histoire en parfum, edit. par Arielle Picaud)
Und dieser Markt erstreckte sich über ganz Europa, dank Alphonse Rallet, dem Gründer der ersten europäischen Parfumfabrik, der 1841 nach Moskau auswanderte und dort die "Usines Rallet" ins Leben rief. Überall, in Österreich, Deutschland, Dänemark, Rumänien und Jugoslawien, ja selbst in Sankt-Petersburg,konnte man seine Parfums kaufen.
Sprecherin: Duftesssenzen hielten nun langsam Einzug in die Haushalte, in die Seifen und Waschmittel des Alltags. Parfums wurden auch für den kleinen Mann erschwinglich und der erste Parfumroman erhitzte mit seinen damals vollkommen neuartigen und freizügigen Geruchsbeschreibungen die Gemüter. Joris-Karl Huysmans publizierte 1884 in seinem Roman "A rebours" – "Gegen den Strich" die Geschichte des seltsamen Grafen Jean Floressas des Esseintes, der, besessenen von Düften und Gerüchen aller Art, sich langsam aber sicher aus der natürlich duftenden Welt zurückzieht, um eigene, bessere und schönere Gerüche zu kreieren.
Zitator: "Des Esseintes fand, dass die verschiedenen Geschmacksrichtungen dieser Liköre den Klängen von Instrumenten entsprachen. Der Curacao entsprach der Klarinette, die sowohl hoch, als auch samten klingt. Der Kümmel ähnelte mit seinem sonsornasalen Timbre eher der Oboe. Die Minz- und Anisschnäpse hatten etwas von der Flöte, denn sie sind gleichzeitig pfeffrig und süß, während er fand, dass der Kirschlikör sehr dem Klang einer Trompete ähnelte...".
Annick Le Guérer: "Des Esseintes ist ein reicher Neurotiker, der Gerüche sehr stark erlebt und schließlich von eingebildeten Gerüchen verfolgt wird. Das wird immer schlimmer und um diesen Verfolgungen zu entfliehen, beginnt er selbst Parfums zu kreieren, und zwar Parfums vergangener Epochen. Etwa aus der Zeit von Ludwig des XIV und Ludwig des XV. Hier tritt der Duft also wieder in Zusammenhang mit der Erinnerung auf, nur dass es diesmal um auch die Verbindung von Duft und Krankheit geht. Der kranke Des Esseintes kreiert immer neue Parfums, ohne sich jedoch wirklich von seinem Verfolgungswahn, also von seiner Krankheit befreien zu können."
Geruch, Geschmack und Duft spielen von nun an eine wichtige Rolle. Im Alltag, in der Literatur und in der entstehenden Psychologie. Es scheint fast, als hätten sie sich im 19. Jahrhundert endlich von den moralisierenden und ästhetisierenden Zwängen befreit, die seit dem Mittelalter auf ihnen lasteten. Von nun an werden sie vielfältig eingesetzt, beschreiben Gefühle, Temperamente und Charaktere. Und auch die Psychoanalyse nimmt sich ihrer an.
Annick Le Guérer: "Sigmund Freud war selbst ein sehr olfaktorischer Charakter. Er reagierte sehr sensibel auf Gerüche, vor allem auf schlechte Gerüche. Eben wie bei seiner Patientin Emma Eckstein, die vom Berliner Hals-Nasen-Ohren-Arzt Wilhlem Fliess operiert worden war und die seither schlecht roch. Und in diesem Zusammenhang spricht er zum ersten Mal von seiner Theorie der Verdrängung. In einem Brief, den er am 14. November 1897 an Wilhelm Fliess schrieb, erklärte Freud wörtlich - so wie unser Geruchssinn sich von einem stinkenden Gegenstand abwendet, so wendet sich das Bewusstsein von einer unangenehmen Erinnerung ab."
Später entwickelte Freud dann am Fall Lucy R. seine Theorie von Geruchsneurosen und Verdrängung eines traumatischen oder verbotenen Ereignisses. Denn die junge Lucy R. kam zu Freud, weil sie von einem bestimmten Duft verfolgt wurde. Es war der Duft von Verbranntem und Zigarrenduft. Es schien ihr, als wäre dieser Duft überall, obwohl man ihr immer wieder das Gegenteil versicherte.
Annick Le Guerer: "Freud macht mit ihr also eine Analyse und dabei stellt sich dann heraus, dass die junge Frau früher als Gouvernante bei einem Fabrikdirektor angestellt war und dass sie sich in diesen verliebt hat. Da haben wir dann auf andere Weise wieder die "Erinnerung". Denn, der Fabrikdirektor war Zigarrenraucher. Ihn selbst gab es zwar nicht mehr und auch das Gefühl der Liebe hatte sie verdrängt. Der Duft aber war geblieben. Der Zigarrenduft wurde also zum Symbol einer unerfüllten Liebe, an die Lucy R. zwar nicht mehr dachte, die sie aber unbewusst olfaktorisch weiter erlebte."
Neben diesem Duft als Smbol verdrängter Gefühle gibt es aber auch den Duft bewusst durchlebter Erlebnisse. Für die französische Schriftstellerin George Sand waren dies Schwefel und Rosenduft Sie prägten ihre frühe Kindheit und ihnen ist sie – wie sie selbst sagte – ihr Leben hindurch treu geblieben. Obwohl sie Teil eines schrecklichen Erlebnisses waren– einer Spanienreise, die für die ganze Familie in einer großen Katastrophe endete. Mit dem Ausbruch der Krätze und dem Tod von Vater und Bruder. Georges Sand verdrängte das aber nicht. Ganz im Gegenteil: für sie werden Schwefel und Rosen zum Symbol ihres Kampfes gegen den Tod. Denn ihre Mutter fütterte sie, als sie bereits infiziert war, mit Schwefel. Ein Zeug, das schrecklich stank....
Zitator: "Meine Mutter stopfte mich mit Schwefel voll und ich unterwarf mich ihrer Behandlung, weil ihre Argumente mich voll und ganz überzeugt hatten. Und doch ekelte ich
mich fürchterlich vor diesem Gestank. Ich bat sie, mir die Augen zuzubinden und die Nase zuzuhalten, während sie mir das Zeug einflößte und hinterher griff ich dann nach Zitronen, um diesen Geschmack los zu werden . Was mir aber wirklich half, war jenes Rosenbouquet aus dem Garten". (Georges Sand, Histoire de ma vie )
Annick Le Guérer: "Der Geruch des Schwefels und der Duft der Rose sind Düfte, die die Persönlichkeit der George Sand symbolisieren. Vielleicht weil sie beide Teil einer Kur waren, die ihr das Leben rettete. Einerseits war sie das, was man eine "herbe" Frau nannte. Sie war emanzipiert, lebte alleine, hatte viele Männerbekanntschaften, rauchte Zigarren und Pfeifen und freute sich an den Skandalen, die sie mit ihrer Lebensweise entfachte. Andererseits trug sie immer eine Rose im Knopfloch und sie war auch eine Frau, die viel Mitgefühl für die anderen hatte und sehr zärtlich sein konnte."
Gerüche und Düfte waren für George Sand generell wichtig. Sie, die in ihrem Haus in Nohant Rosen züchtete, nannte das Parfum die perfekte Harmonie aller Harmonien und sie war überzeugt, dass es so etwas wie einen "Seelenduft" gebe, einen ganz persönlichen Duft, der sich bei jedem Menschen im Laufe seines Lebens aus seinen Erinnerungen heraus entwickelt – eine Art "Charaktergeruch", der jedem Menschen anhaftet.
Zitator: "Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospitz der Charité. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Säcklergesellen zu entwenden, in welchem dieser zwei Monate umhüllt gelegen war. Das Tuch war so stark von seinem Eigentalk durchsogen, dass es dessen Ausdünstungen wie eine Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt in der Lavage unterzogen werden konnte. Das Resultat war gespenstisch: Klaviermusik kurz wieder hochement ... unter Grenouilles Nase stand der Säckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf und schwebte als individuelles Duftbild im Raum: ...Klaviermusik .... ein kleiner Mann von dreissig Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten, kässigen Füssen, galligem Temperament und fadem Mundgeruch ... Grenouille liess ihn eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane flattern und schnupperte ihn immer wieder an, beglückt und tief befriedigt vom Gefühl der Macht, die er über die Aura eines anderen Menschen gewonnen hatte – am nächsten Tag schüttete er ihn weg". (Patrick Süskind, das Parfum, S.238)
Was treibt der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille da eigentlich in jenen Tagen des 18. Jahrhunderts ? Ein faustisches Spiel zum Zeitvertreib mit dem Geruch eines Toten ? Nein – der selbst geruchlos geborene Held in Patrick Süskinds Roman das Parfum experimentiert mit den leiblichen Gerüchen eines Anderen, weil er sich den "Geruch von Menschen" zulegen will. Und dabei gelingt ihm etwas Außerordentliches: Grenouille glaubt entdeckt zu haben, dass jeder Mensch einen Individualgeruch hat
Und diesen Individualgeruch will Süskinds Held Grenouille besitzen. Für ihn ist er das "Parfum der Parfums". Dafür experimentiert er erst mit den Bettlaken von Kadavern, die eines natürlichen Todes gestorben sind und schließlich tötet er 25 schöne Jungfrauen, um ihnen nicht die Haut, sondern den Duft vom Leibe zu ziehen, was ihn zum olfaktorischen Todesengel der Moderne macht. Ein Mann ohne Eigenschaften, ohne Gesicht, ohne Gefühl und Kontur, der nichts anderes tut, als in sämtlichen Körperfalten seiner Opfer nach Düften zu schnuppern, alle Haut – und Haarpartien nach Essenzen abzuschnüffeln, aus denen er dann jenen Geruch komponiert, der ihm erlaubt, zu endlich selbst riechen und so "geliebt" zu werden.
Zitator: "Die Leute würden überwältigt sein, dachte Jean Baptiste Grenouille, entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mädchens, und sie würden nicht wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen gebrauchen können, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben, würden sie sagen, es sei, weil dieses Mädchen Schönheit besitze und Grazie und Anmut. Sie würden in ihrer Beschränktheit seine ebenmäßigen Züge rühmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, würden sie sagen, seien wie Smaragde und die Zähne wie Perlen und ihre Glieder elfenbeinglatt – und was der idiotischen Vergleiche noch mehr".
Mit der Idee, dass der menschliche Individualgeruch das "Parfum aller Parfums" sei, schrieb sich Patrick Süskind in das literarische Duftbild des 20. Jahrhunderts ein, das den Menschen und seinen persönlichen Duft in den Mittelpunkt von olfaktorischen Erlebnissen stellt. Auch wenn er die Lebensgeschichte seines Helden ins 18. Jahrhundert zurückverlegt. Und er folgt in gewisser Weise den Vorstellungen der Georges Sand, mit den Unterschied, dass sein leiblicher Individualgeruch sich nicht aus Erinnerungen zusammensetzt, sondern eine persönliche Chemienote ist, die der Mensch sozusagen ohne weiteres Zutun in die Wiege gelegt bekommt, die ihn aber entweder als "schön" oder als "hässlich" erscheinen lässt. Denn wie Septimus Piesse, meint auch Grenouille, dass, was man mit den Augen zu erkennen glaubt, eigentlich nur ein olfaktorischer Effekt ist.
Zitator: "Es scheint, dass wie bei all den anderen Säugetieren jeder Mensch einen ganz eigenen Geruch besitzt, der sich um ihn herum bildet wie animalischer Dampf und wenn sich das Individuum fortbewegt, hinterlässt es so etwas wie Dampf-Partikel, denen die anderen Tiere oder Individuen dann folgen". (P .J.G.Cabanais, Rapports du physique et du moral,. p.226)
... schrieb schon 1802 der französische Arzt und Philosoph Georges Cabanais. Doch erst heute, zweihundert Jahre nach der Niederschrift dieser Zeilen und achtzehn Jahre nach dem Erscheinen des Romans von Patrick Süskind ist sich die Wissenschaft sicher, dass die Idee von der Existenz eines menschlichen Individualgeruchs nicht nur literarische Fiktion ist. Der französische Botanikprofessor und Aromatherapie-Forscher Jean-Pierre Chaumont erklärt warum.
Jean-Pierre Chaumont: "Wir wissen seit ungefähr 15 Jahren, dass jeder Mensch so etwas wie einen persönlichen Geruch besitzt. Das hat mit Schweissgeruch oder so nichts zu tun. Es ist ein Geruch aus einer persönlichen Bakterienzusammensetzung, den man nicht unbedingt bewusst wahrnimmt, der aber trotzdem auf uns wirkt und der meiner Meinung nach heute ziemlich in Gefahr ist, zu verschwinden. Einfach wegen des Deodorants, die radikal alle Bakterien und alle Düfte zerstören. Die Wissenschaft vom menschlichen Geruch als solchem steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Wir stehen erst ganz am Anfang."
Mädchenduft als Duftwasser
Auch das 20. Jahrhundert besitzt seine eigene literarische Geruchsthematik. Und die steht im krassen Gegensatz zum positiven Verhältnis, das der Mensch heute zu Düften, Parfums und Gerüchen hat. Denn an der Schwelle des 21. Jahrhunderts suchen viele im Duft der Aromatherapie das Sanfte, das Besinnliche und Entspannende als Gegenpol zu Arbeitsstress und Globalisierung. Man bedient sich auch des Parfums und der Duftessenzen nicht nur der Hygiene oder der Verführung wegen, sondern in erster Linie, um aus dem Alltag, der Non-Stop-Berieselung, des Wettbewerbs und der die Seele bedrängenden Zahlen und Fakten herauszutreten. Deswegen gilt heute für viele:
Zitator: "Wer seine Müdigkeit überwinden will, der lege ein paar Kiefernzweige, Eukalyptus- blätter oder Minze in Wasser und stelle sie auf ein Stöffchen. Schnell werden sie ihren Duft verbreiten. Wer sich aber entspannen möchte, der greife zu Lavendel und zu Rosmarin. Und Jasmin hilft, um Depression und Lethargie zu überwinden". (Marc Evans, Aromatherapie 1998)
Andererseits inspirierten die ehemals existierenden totalitären politischen Systeme – ganz gleich ob faschistischer oder kommunistischer Provenienz - zwei grundlegend neue "Duftbezüge ". Bei Patrick Süskind ist es die Methode der kalt-unmenschlichen "Parfumherstellung", der Mädchengeruch in Duftwasser verwandelt - eine Schreckensvision deutscher Vergangenheit, die in den Geschichtsbüchern den Namen des KZ-Arztes "Mengele" trägt, der für seine grausamen Menschenversuche berüchtigt war.
Und bei dem in Großbritannien lebenden ungarischen Exilschriftsteller Gyözö Hatar ist es derb ausgedrückt - die kleinkarierte, nach Garküchenduft und Menschenneonluft stinkende moralische "Hurerei" der politisch korrumpierten totalitären Systeme, die nach aussen hin funktionierten, obwohl sie nichts weiter waren "als Dreck". Denn der 1913 geborene Gyözö Hatar hat in Ungarn zwei totalitäre Systeme kennengelernt. Erst das faschistoide Regime des Miklos Horthy und dann die kommunistische Terrorherrschaft, bis er 1949 auf abenteuerliche Weise in den Westen floh.
Gyözö Hatar: "Die Alten beweinen den Tag – wenn der Abend die Stunden wandelt – wo die Gasse sich weitet zum Markt – dort wird mit Dirnen gehandelt – Neonlicht brodelt Menschenluft und die grosse Uhr tickt am Eck - schön im Winter der Garküchenduft – doch da drüben ist die Welt auch ein Dreck."
Nur eines duftet nicht und hat auch niemals wirklich geduftet - die Melancholie. Denn literarisch ist sie die Stimmung des Steins, leer und dunkelfarben. Ihr Raum ist das Schattenreich , die sternenlose Nacht, die Wüsteneien und einsamen Gegenden. Und wenn ein Geruch die düsteren Gemälde der Melancholie durchstreift, dann ist es höchstens der resignierte Rauch des Sich-Verzehrens.
Zitator: "Ein Stoppelfeld. Ein schwarzer Wind gewittert – Aufblühen der Traurigkeit Violenfarben – Gedankenkreis, der trüb das Hirn umwittert. – An Zäunen lehnen Astern, die verstarben – und Sonnenblumen, schwärzlich und verwittert – Da schwieg die Seele grauenvoll erschüttert – entlang an Zimmern, leer und dunkelfarben." (Georg Trakl, Melancholia)
Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit schrieb Walter Benjamin in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels. Und in diesem Sinne wäre die Duftlosigkeit Ausdruck des fehlenden Dialogs zwischen dem Menschen und der Natur - so wie es Ludwig Tieck in seinem Gedicht Einsamkeit beschrieb
Zitator: "Von Wald und Flur und Tal bin ich vermieden – Die Blumen wollen sich nicht freundlich zeigen - Die Sterne gönnen mir nicht mehr den Frieden – Natur, die heilige – zieht sich weit zurücke – ich flehe wohl, sie sieht nicht meine Blicke."
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