Die Deutsche Einheit ist noch nicht vollendet

Von Günter Hellmich |
Deutschland ist noch nicht wirklich zusammengewachsen, meint Günter Hellmich. Vor allem politisch würden die neuen Länder noch anders ticken. Umso erstaunlicher sei, dass das Thema in den Reden der Einheitsfeiern ausgespart wurde.
Schönstes Wetter in Stuttgart bei der Reihum-Einheitsfeier draußen und drinnen, eitel Sonnenschein beim jährlichen Einheitsvolksfest auf der Fanmeile hinterm Brandenburger Tor in Berlin. Hier ein bisschen kälter. Und das deutsch-deutsche Klima im 23. Einheitsjahr ?

Noch mal nach Stuttgart geschaut: An der Spitze der Bundesrepublik zwei Ostdeutsche , Angela Merkel und Joachim Gauck – der gastgebende Bundesratspräsident ein Grüner aus dem Ländle. Wer dieses Szenario 1990 ausgebreitet hätte, dem hätte man gesagt: Du spinnst! Natürlich: Es waren jeweils ganz spezielle Umstände die erst Merkel und dann Gauck ihre Top-Westkarrieren ermöglichten. Aber die Botschaft für die Landsleute in ganz Deutschland ist schon klar: Wer sich als Ossi richtig angepasst und angestrengt hat, der konnte es schaffen. Und der wird in der Bundesrepublik oder "BRD" auch akzeptiert. Der Blick auf die Landkarte mit Arbeitslosenquoten und Bevölkerungsentwicklung verrät, dass es ganz so einfach nicht ist mit der Eingliederung des "Beitrittsgebiets". Der wirtschaftliche Strukturwandel ist längst nicht abgeschlossen, der gesellschaftliche und kulturelle Anpassungsprozess erst recht nicht. Es wäre ja auch überaus naiv, zu glauben, dass 40 Jahre DDR und deren Wertesystem im kollektiven Bewusstsein der Menschen keine Spuren hinterlassen hätten.

Es ist wohl kein Zufall, dass nach wie vor Fremdenfeindlichkeit und die Anfälligkeit für Parolen von Neonazis vor allem auf dem Territorium der ehemaligen DDR zu verorten sind. Auch bei der Zuwendung zu demokratischen Parteien zeigt die Analyse der Bundestagswahl, dass man im Osten anders tickt. Egal ob CDU, SPD, FDP oder Grüne – sie schneiden im Osten schlechter ab als im Westen. Während die Linke aber auch die sonstigen Parteien inklusive AfD dort anteilmäßig mehr Zustimmung finden. Das alles zeigt, der Einigungsprozess ist alles andere als abgeschlossen. Wenn auch jeder merkt: Es geht voran.

Interessant war, wie der Stand der deutschen Einheit heute in den Reden von Bundesratspräsident Kretschmann und Bundespräsident Gauck eingeschätzt wurde. Schon überraschend: Dieses Thema fand einfach nicht statt. Mit der Würdigung der friedlichen Revolution und Gaucks Erinnerung an den Klang der Freiheitsglocke in der Nacht vom 3. Oktober 1990 war das Thema beendet. Die Forderung nach einer neuen Föderalismusreform, Deutschlands Rolle in Europa und der Welt, unser Umgang mit dem Internet, die digitale Revolution und der Demografiewandel - das sind, so haben wir in Stuttgart heute gelernt, die Themen für den Tag der Deutschen Einheit. Ost und West, neue Länder, alte Länder, das alles scheint überhaupt kein Problem mehr zu sein. Endlich ist es soweit: Die Einheit ist vollendet! Oder? Aber selbst wenn, hätte man das ja auch mal sagen können.
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