Die DDR und ich

Wie ich meine Vergangenheit aufarbeitete

DDR-Aufkleber, alt und ausgebleicht
Alter DDR-Aufkleber © dpa / picture alliance / Matthias Hauser
Von Hans-Otto Reintsch · 17.10.2018
In der DDR gehörte der Schauspieler Hans-Otto Reintsch zu den "gut versorgten Kritischen". Dann fiel die Mauer und der freischaffende Künstler war plötzlich "mehr frei als schaffend". Bis zur Erkenntnis "Nicht der Staat. Sondern Glück, ich, Verantwortung" war es ein weiter Weg.
Meine ganz persönliche Aufarbeitung begann kurz nach der Wende. Ich kam vom Theater, war also politisch. Denn: "Der Schauspielerberuf wird im Auftrag und vor den Augen der Gesellschaft ausgeübt."
Vor allem aber war ich unkündbar. Wie ein Beamter. Mit Grabsteinvertrag am Staatstheater. So frotzelten wir alle beim Bier. Denn Theaterleute sind von Beruf Skeptiker.

Nach 1990 "mehr frei als schaffend"

Zügig wurde mein Theater 1990 abgewickelt und ich war freischaffend. Mehr frei als schaffend, wie ich schnell erfuhr. Bewerbung, Casting, Ablehnung. Ohne Ende. Plötzlich Wettbewerb. Angst, nicht mehr mitzuspielen. Plötzlich etwas nie dagewesenes: Existenzangst. Und viel Zeit, nachzudenken. Aufzuarbeiten.
Ich ertappte mich leise, wie ich mich mein Leben lang an der DDR professionell gerieben hatte…
"Ist dieses Land die Welt ?!? (lange Pause) Geht hier allein die Sonne auf ?!?"
Lessing. Minna von Barnhelm. Jeder Zuschauer wusste, dass die DDR gemeint war.
Ich war berufsmäßig einer von den gut versorgten Kritischen. Jetzt ertappte ich mich, wie ich auf Tourneen durch den Westen kurz nach der Wende den untergegangenen Sozialismus verteidigte. Die Kindergärten. Das Gesundheitssystem. Den Kündigungsschutz. Solche Sachen. Ich war ein eingeübter Schizophrener. Immer mit dem Hintern im Osten und mit dem Kopf im Westen.
Hans-Otto Reintsch
Der Schauspieler Hans-Otto Reintsch.© privat
Mein Sohn war sechs, mein zweiter Sohn kam genau zur Grenzöffnung in eine völlig neue Welt. Eine Welt, die sich laufend änderte.

"Ich habe dem Sozialismus einfach geglaubt"

Ich trug Schizophrenie, Unzufriedenheit - oder war es Angst, Unwissen? - und jede Menge Illusionen mit mir herum. Die Utopie einer gerechten Gesellschaft.
Nein, es war gar nicht so sehr Unzufriedenheit. Es war das mulmige Gefühl der Vorbehalte. Der ideologische Blick auf alles: Die Ausbeutung. Die Ungerechtigkeit. Die Armut. Die Reichen. So wie es eine Bekannte noch heute tut.
Kristiane W.: "Was IST denn Demokratie? Also, ich persönlich glaube nicht an Demokratie. Weil ich nicht an machtgesteuertes Finanzsystem glaube. Das ist eine Scheindemokratie. Unsere Politik wird gemacht von Leuten mit Geld. Zwischen der Wirtschaft und der Politik ist der Lobbyismus - und vergiss es!"
Finanzsystem, Wirtschaft, machtgesteuert, Scheindemokratie. So hatte ich auch lange gedacht, nein, gefühlt. Das war so drin. Dieses Lagerdenken. Wir gehörten zum sozialistischen Lager. Wir waren ohnehin einen Schritt weiter als die da drüben. Na gut, am Schluss am Abgrund. Das hatte ich erlebt, aber gefühlt habe ich noch lange in sozialistischen Kategorien. Warum? Ich habe den Sozialismus einfach geglaubt. Heute weiß ich, dass es gar nicht anders ging. Der Sozialismus, wie wir ihn gelernt haben, war und ist zu großen Teilen eine Glaubenslehre.
"Die Lehre von Marx und Engels ist allmächtig, weil sie wahr ist!" - Dieses Transparent hing immer mal irgendwo rum in der DDR. Lehre, allmächtig, wahr. Da fragt man nichts mehr. Gott ist nicht hinterfragbar. Gott ist Gott.

Erste Zweifel nach dem Mauerfall: Hat Marx sich doch geirrt?

Kann es sein, fragte ich nach dem Mauerfall vorsichtig bei mir selbst nach, kann es sein, dass Marx sich geirrt hatte? Gesellschaften entwickeln sich gesetzmäßig? Vom Niederen zum Höheren? Sklavenhalterordnung, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus? Konnte Marx mir die völlig ungesetzmäßige Wende von 1989 erklären?
Und das, was wir jetzt haben, soll Demokratie sein? Und ich der Souverän? Wenn die Miete steigt und steigt? Ich die Telefonrechnung nicht verstehe? Und die Stromrechnung nicht? Und den Steuerbescheid? Und was eine Pflichtversicherung ist? Die DDR war da ein rundum geschlossenes Sorglospaket.
Irgendwann wurde mir klar: Diktaturen sind immer auch heile Welten. Ist es die heile Welt, die viele bis heute als Maximalforderung an die real existierende Demokratie stellen? Kann es sein, dass viele bis heute Sehnsucht nach dem Trost haben, der in jeder Glaubenslehre steckt? Nach Paradiesverheißung und Erlösung? Erlösung von dem Übel des Kapitalismus? Und aggressiv werden, wenn gegen den sozialistischen Glauben gelästert wird…

"Nicht der Staat. Sondern Glück, ich, Verantwortung"

Ich persönlich hatte spätestens 1990 gelernt, dass sich Geschichte eben nicht linear bewegt. Sondern im Zickzack, rauf und runter und manchmal, nein, immer chaotisch.
Und dass das Land voller Knäste war. Durch Zufall landete ich Anfang der Neunziger in Hohenschönhausen. Das hatte ich nicht gewusst! Und las die Berichte der Zeitzeugen. Das hatte ich nicht gewusst! Das hätte ich ein paar Jahre zuvor nicht mal geglaubt.

Am Mittwochabend feiert die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ihr zwanzigjähriges Bestehen. Der Bundespräsident ist dabei und die Kulturstaatsministerin. Ist das passend in dieser Zeit, wo deutlich wird, wieviel an Verletzungen viele Ostdeutsche nach wie vor mit sich herumtragen? Wie wenig sie sich in ihren Biografien gewürdigt fühlen?
Vor diesem Hintergrund wirft unsere Hauptstadtkorrespondentin Claudia van Laak einen Blick auf die institutionellen Anstrengungen, das SED-Regime aufzuarbeiten. Den Beitrag aus der Sendung "Zeitfragen" vom 17.10.2018 können Sie hier nachhören: Audio Player

Anfang der Neunziger begann ich, das innere Neue Deutschland abzubestellen. Mich der ungeordneten, abenteuerlichen Welt voller Scheitern und Möglichkeiten zu stellen, ohne die geringste Ahnung davon zu haben. Der absterbende, faulende, parasitäre Kapitalismus fühlte sich irgendwie gut an. Die Grenze war offen, jetzt musste nur noch ich mich öffnen. Ich sagte ab sofort nicht mehr: ja, aber! - Ich sagte: ja. Es war das erste Mal in meinem Leben! Ich wollte meinen Söhnen nicht Frust vorleben. Ich wollte mit ihnen zusammen etwas Neues anfangen. Glücklich sein. Für das persönliche Glück, dafür trage ich selbst die Verantwortung. Nicht der Staat. Glück, ich, Verantwortung. Plötzlich klangen die Worte erwachsen für mich.
"Jeder trägt Verantwortung für das Ganze!" - Diese nachhallende Parteitagsfloskel klang jetzt für mich wie: kann mal jemand den Müll runter bringen?

Haben wir Starre mit Stabilität verwechselt?

Was ich zum Glücklichsein brauchte, war da. Die Welt, die Kinder, Vielfalt, Entscheidungsfreiheit. Freiheit! Ein fast schon aus der Mode gekommenes Wort. Wahrscheinlich, weil es so selbstverständlich klingt. Oder weil man Freiheit lernen muss wie Fahrrad fahren?
Dieser Tage redete ich mit einem alteingesessenen Landbewohner:
- Freiheit?
- Was meinst Du?
- Na, Reisefreiheit z.B.! Oder?
- Reisefreiheit? Wozu. Ich hab 'n Garten.
Da ist sie wieder, die heile Welt. Die Welt ohne Eigenverantwortung. Ohne Scheitern.
Alte Konsum-Fassade im Stadtzentrum von Triebsees im Landkreis Vorpommern
Alte Konsum-Fassade im Stadtzentrum von Triebsees im Landkreis Vorpommern© imago/BildFunkMV
Kann es sein, dass der sozialistische Stillstand, die jahrelangen Unveränderlichkeiten, der Mangel...
("SPEE eingetroffen! Bitte nur ein Paket nehmen!")
...dass der Rückzug ins Private, die Gesetzmäßigkeit des historischen Sieges – kann es sein, dass wir diese Starre mit Stabilität verwechselt haben? Mit Sicherheit? Mit Glück? Kann es sein, dass viele jetzt auf diesem Glücksgefühl bestehen, es geradezu trotzig einfordern, ohne es zu merken? Weil ihnen niemand das Fahrradfahren beigebracht hat?

Jeder entscheidet selbst, ob er sich verletzen lässt

Viel wird jetzt über unbeachtete Verletzungen geredet, die Ossis nach der Wende erfuhren. Ich überlege, ob das auf mich zutrifft. Ich hätte Gründe gehabt, verletzt zu sein. Auch mein Betrieb wurde mit der Wende abgewickelt. War ich verletzt? Ich war arbeitslos. Traf auf dem Amt viele Kollegen. War ich verletzt?
Letztlich ist es eine persönliche Entscheidung, verletzt zu sein. Sich nicht verletzen zu lassen! Es dauerte eine Weile, bis ich die innere Freiheit erlangte, mich nicht verletzen zu lassen.
Neulich in einer Talkshow: In Leipzig gibt es Viertel, da gehören 60 Prozent der Mietshäuser Wessis! Beifall von den Rängen. Ich habe lange versucht, mich in die Verletzung hineinzufühlen. Und mich als Mieter gefragt, ob meine Verletzung schwände, wenn der Investor aus dem Osten käme. Ich spürte weder Verletzung noch Genugtuung. Warum? Weil ich mich weder als Ossi noch Wessi begreife. Sondern als einer, der sich seit 1990 um eine persönliche Aufarbeitung bemüht hat, um Verarbeitung früherer Erfahrungen. Weil ich seit 1990 den westlichen Liberalismus täglich neu erfahre, erlerne, erleide und mich darin bewege. Und bei jedem Schritt weiß, es ist ein Zwischenschritt. Ein Prozess. Ein Provisorium. Demokratie.
Nichts bewahrt mich besser vor der angelernten Illusion einer heilen Welt.
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