Die das Unmögliche wollen

21.10.2008
Mit seinem neuen Roman macht Michael Wildenhain ein Stück deutscher Zeitgeschichte deutlich. Die drei Hauptfiguren geraten in die politisch linke Hausbesetzerszene der 70er und 80er Jahre und werden von dem Sog der Ereignisse mitgerissen. Die Sehnsucht nach dem Absoluten speist sich aus ihrer Liebe zur Mathematik.
"Man kann den Schlag eines Knüppels, der auf einen Kopf oder einen Brustkorb trifft, mit physikalischen Formeln, Kraft, Zeit, Geschwindigkeit, Beschleunigung und Masse, illustrieren."

Man kann diesen Akt sinnloser Gewalt aber auch als konkretes blutiges Geschehen darstellen, bei dem das Leben eines Freundes auf dem Spiel steht.

Michael Wildenhain setzt sich in seinem Roman mit den Möglichkeiten des Sprechens über einen scheinbar konkreten Sachverhalt auseinander. Sein Erzähler wechselt mehrfach den Ort, um möglichst viele sprachliche Varianten zu nutzen, die ein Ereignis wahrhaftig wiedergeben können. So versucht er Distanz zu einer Handlung zu bewahren, die mit Emotionen hochgradig aufgeladen ist. Denn es geht um drei Biographien, die in den 1970er Jahren beginnen und an denen vierzig Jahre deutsche Geschichte veranschaulicht werden.

Tariq stammt aus einer libanesischen Familie, Jochen aus einem kleinbürgerlichen deutschen Elternhaus und Judith ist Jüdin. In ihrer Schulzeit sind Jochen und Tariq so von der Mathematik fasziniert, dass sie Tariqs Slogan "Alles ist möglich" zum gemeinsamen Lebensprinzip erheben. Das Absolute wird zum Gradmesser ihrer Freundschaft.

Erst die Liebe zu Judith lässt die Freunde daran zweifeln, ob tatsächlich alles möglich ist. Während Jochen die Mathematik zum Beruf macht und das Mögliche im Leben im errechenbaren Abstand hält, verteidigt Tariq mit politischen Aktionen unbeirrt seine Vision vom Absoluten und träumt davon, die gesellschaftlichen Strukturen - auch mit Gewalt - zu verändern.

In einem rasanten Erzähltempo durchlaufen Wildenhains Figuren die politische Szenerie der 1970er, 80er und 90er Jahre, die von blutigen Straßenschlachten, vom chaotischen Hausbesetzer-Milieu, von Drogenkonsum und von den militanten Aktionen der Frauenbewegung geprägt ist. Der Strudel unberechenbarer politischer Strömungen erfasst sie immer wieder, treibt die Freunde aufeinander zu, um sie dann wieder zu trennen.

Doch während Tariq und Judith bei gewaltvollen Aktionen ihr Leben aufs Spiel setzen, nimmt Jochen als Professor für Mathematik eine beobachtende Position ein. Erst als Tariq in einem der letzten Kronzeugenverfahren Deutschlands die Chance nutzt, seinen Traum vom Absoluten zu retten, erwacht auch der Freund aus seiner akademischen Lethargie.

Es ist Wildenhains Erzählposition, die den Roman zu einer aufregenden politischen Lektüre macht. Aus wechselnden Perspektiven wird danach gefragt, wie Erinnerung funktioniert und wie sie erzählbar ist. Kann es ein Anrecht auf eine gesellschaftlich verallgemeinerbare Erinnerung geben? Wie lässt sich die Kluft zwischen dem begreifen, was in den Geschichtsbüchern als historisch relevant festgeschrieben steht, wenn es dem persönlich Erlebten widerspricht? Wilderhains Kardinalfrage lautet: Was bedeutet es, sich treu zu bleiben? Im Epilog zum Roman heißt es:

"Die Erinnerung gibt es nicht. Wir sind darauf angewiesen, die Zeit, als wir jünger waren, noch einmal zu erleben ... , ad infinitum."

Wildenhain erinnert uns daran, dass Literatur an der Argumentation dieser bis ins Unendliche reichenden Beweisführung beteiligt sein sollte.

Rezensiert von Carola Wiemers

Michael Wildenhain: Träumer des Absoluten
Roman, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008
334 Seiten. 19,90 Euro