Die da oben, die da unten

Rezensiert von Inge Kloepfer · 28.11.2010
Der Wirtschaftsjournalist und Historiker Hagen Seidel beschreibt den atemberaubenden Niedergang des Handelskonzerns Arcandor, der nunmehr als Karstadt weiterlebt. Es geht um Macht, Eitelkeiten und tragische Fehleinschätzungen.
Es geht um Macht und Eitelkeiten, um tragische Fehleinschätzungen, darunter häufig hoffnungslose Selbstüberschätzungen. Es geht wie so oft darum, dass vieles nicht mit rechten Dingen zugeht, weil die Protagonisten an der Konzernspitze den Bezug zur Realität und zum rechten Maß verlieren. Und es geht um die da oben und die da unten, um Großkopferte und kleine Angestellte.

"Er war weit weg vom einfachen Volk",

schreibt der Autor dieses Buches zum Beispiel über den Karstadt-Chef Wolfgang Urban, der 2000 bis 2004 mit immer neuen Ideen und neuen Zukäufen den Kaufhauskonzern noch einmal richtig aufblähte. Und er zitiert einen Betriebsrat:

"Urban war schon sehr abgeschottet. Er wusste gar nicht, was eine Verkäuferin verdient. Der war richtig geschockt, als er hörte, dass es für eine Vollzeitkraft nur 2000,- Euro brutto sind."

Der Wirtschaftsjournalist und Historiker Hagen Seidel hat den atemberaubenden Niedergang des Handelskonzerns Arcandor beschrieben, der nunmehr als Karstadt weiterlebt. Nichts ist spannender als die Geschichten, die die Wirtschaft in Wirklichkeit schreibt. Das ist nicht nur bei Arcandor so, aber dort ganz besonders.

Seidel hat "seine" Geschichte von Arcandors Absturz chronologisch angelegt. Durchbrochen wird diese Chronologie immer einmal wieder durch sogenannte Schlaglichter, mit denen er einzelne Personen oder Geschäfte genauer unter die Lupe nimmt. Er schreibt mit einer klaren These: der nämlich, dass der Zusammenbruch des Unternehmens nicht – wie oft behauptet – allein dem Manager Thomas Middelhoff anzulasten ist.

"Die Voraussetzungen für den Niedergang schufen Manager und Eigentümer, bevor Middelhoff überhaupt auf der Bildfläche auftauchte."

Vielmehr hätten dessen Vorgänger zu lange auf die grundlegende Veränderung menschlicher Kaufgewohnheiten keine Antwort gewusst. Und der Autor belegt seine These plausibel. Eher beiläufig arbeitet er heraus, dass Arcandors Absturz von Ironie und Zynismus begleitet wurde. Etwa, dass sich der langjährige Manager Walter Deuss fast ein Jahrzehnt vor der Pleite seine Ansprüche auf Altersruhegeld hat versichern lassen, als hätte er geahnt, was die Zukunft bringen wird. Oder dass Madeleine Schickedanz mit dem Einstieg bei Karstadt einige ihrer maroden Quelle-Warenhäuser wiedersah, die sie vorher so erfolgreich losgeworden war.

"Für Schickedanz jedoch ergab sich ein grotesker Nebeneffekt. Man sieht sich eben zweimal im Leben."

Seidels Buch bringt Licht in so manche noch nicht beleuchteten Winkel. Wer Karstadts Niedergang noch einmal im Zusammenhang lesen will, nicht als Stückwerk tausender von Zeitungsartikeln, der sollte sich dieses Buch vornehmen. Es stimmt nachdenklich und manchmal auch verdrießlich, ob der Selbstherrlichkeit und Abgehobenheit so mancher Manager, die durch ihr Verhalten nicht nur Vermögen vernichten, sondern auch Zukunftschancen und Arbeitsplätze von vielen Menschen. Am Ende findet sich kein einzelner Schuldiger für das Desaster.

"Lauter nette Leute. Lauter Unschuldige",

schreibt Seidel, habe er gesprochen. Niemand ist es allein gewesen, sondern alle zusammen – jeder auf seine Weise. Sicher auch Madeleine Schickedanz, die Erbin. Auch das lernt man bei der Lektüre. Und genau hier wäre Kritik an Seidels akribischem Opus anzusetzen, weil die Handelnden zu kurz kommen. Zum Beispiel eben Madeleine Schickedanz.

"Eigentum verpflichtet. Dieser Verpflichtung ist Madeleine Schickedanz nur unzureichend nachgekommen",

lautet das abschließende Urteil des Autors. Die Lösung des Rätsels um ihre Person und darum, warum sie nicht nur alles auf eine Karte setzte, sondern offenbar viele falsche Berater und Manager zu lange gewähren ließ, bleibt er dem Leser schuldig. Wer ist diese Frau, die eine der reichsten Deutschlands war und alles verlor?

Ähnlich ergeht es dem interessierten Leser mit einigen anderen der glücklosen oder auch reichlich unverfrorenen Protagonisten, zum Beispiel mit Thomas Middelhoff. Warum verliert der Menschenfänger den Bezug dazu, was man tut und lässt? Hier hätte Seidel gerne tiefer bohren können.

Zu guter Letzt spendiert der Autor dem Leser jene Lehren aus dem Absturz Arcandors, die er selbst daraus gezogen hat und andere ziehen sollten. Da liest man dann:

"Ein Aufsichtsrat muss tatsächlich Aufsicht führen können. Bei Arcandor war das Kontrollgremium erschreckend hilf- und wirkungslos."

Das kommt sehr naseweis daher, weil man am Ende immer klüger ist. Ein kluger Lektor hätte ihm geraten, die letzten Seiten einfach wegzulassen. So muss das jetzt der Leser tun. Nun sei es drum: Dem sehr lesenswerten Buch tut das am Ende keinen Abbruch.

Hagen Seidel: Arcandors Absturz. Wie man einen Milliardenkonzern ruiniert: Madelaine Schickedanz, Thomas Middelhoff, Sal. Oppenheim und KarstadtQuelle
Campus Verlag, Frankfurt/NewYork 2010
Cover "Arcandors Absturz" von Hagen Seidel
Cover "Arcandors Absturz" von Hagen Seidel© Campus Verlag