Die "Bücherkirche" in Óbidos

Literatur unter dem Tempelritter-Kreuz

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Aufnahme der Bücherkirche Óbidos.
Vom Andachtsort zum literarischen Salon: die Bücherkirche von Óbidos. © Peter Kaiser
Von Peter Kaiser · 09.02.2020
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Die Gläubigen werden weniger, viele Kirchen finden eine neue Verwendung. Das Städtchen Óbidos in Portugal widmete eine ehemalige Kirche zur Buchhandlung um. Dort liest man Fernando Pessoa oder Lídia Jorge unter dem Kreuz der Tempelritter.
Fast 12.000 Menschen leben im Städtchen Óbidos in der portugiesischen Region Centro. Lino Fernando Domingos Romao ist der Kulturbeauftragte des Ortes. "Es gab es hier eine Kirche, die leer stand", erzählt er. "1980 wurde sie entweiht, und die Kommune hat dann mit einer Buchhandlung aus Lissabon, Ler Devargar, gesprochen, ob man nicht zusammenarbeiten könnte, um die Buchhandlung hierher zu bringen. So fing das Projekt an."
Óbidos ist für seine erhalten gebliebenen, begehbaren Stadtmauern und die Burg sowie für den historischen Stadtkern landesweit bekannt. In der Kirche St. Maria heirateten Könige, hier lebt man von der Landwirtschaft und dem Tourismus. Und von der Literatur. "In Portugal ist das hier der einzige Ort, an dem Literatur eine solche Rolle spielt", sagt Romao. "Óbidos ist schon ein Meilenstein in der literarischen Szene."
Aufnahme der Bücherkirche Óbidos.
Kirchenbänke sind Büchertischen gewichen: Die neue Nutzung macht den Altarraum wieder zugänglich.© Peter Kaiser
Als 2013 in Óbidos über ein stadtweites Kulturprojekt nachgedacht wurde, fiel den Verantwortlichen die Kirche Santiago ins Auge. Heute ist Buchhändlerin Lucia die Chefin. "Diese Kirche stammt aus dem 12. Jahrhundert", sagt sie. "Nach dem Erdbeben von 1755 wurde sie komplett neu aufgebaut. Aber es gibt in Óbidos sehr viele Kirchen, und als sie begannen, Óbidos in ein Literaturzentrum umzuwandeln, haben sie gedacht, wir fangen mit der Kirche an. Das war 2013, und jetzt ist eigentlich die Kirche die Hauptbuchhandlung hier."

Mystisch-sakrale Atmosphäre

Es ist ein seltsames Gefühl, an den Sesseln und Sofas vorbeizugehen, die in den Chören der alten Kirche stehen. Auf dem einstigen Altar stapeln sich die Bücher wie überdimensionale Kerzen. Überall auf der Empore stehen Tische mit Bücherstapeln, die gotisch wirkenden Kreuzbögen verleihen der Buchhandlung eine mystisch-sakrale Atmosphäre. Die Buchhändlerin Lucia Maria Cintra Guincho arbeitet bereits seit Beginn des Projektes hier.
"Das hier ist definitiv eine weltliche Buchhandlung mit Büchern, die es nur hier und nirgendwo anders gibt, weil sie meist nur in kleinen Auflagen herauskamen und oft schon vergriffen sind", erklärt sie. "Es gibt Kunden, die nur deswegen hierherkommen, um eben diese besonderen Bücher zu finden."
Aufnahme der Bücherkirche Óbidos.
In den Regalen sind Schätze zu entdecken, die nur in kleinen Auflagen erschienen sind.© Peter Kaiser
Es sind Bücher von Luís de Camões oder João Rodrigues de Sá de Meneses. Fernando Pessoa, der große Einsame der portugiesischen Literatur, wird hier ebenso verkauft wie der einst mit der Kirche zerstrittene Literaturnobelpreisträger José Saramago.
"Viele Menschen, die hier reinkommen, sind zuerst überrascht", sagt die Buchhändlerin. "Besonders im Sommer kommen viele, die denken, es ist eine Kirche. Die sehr religiösen unter ihnen sind manchmal empört, dass man hier eine Buchhandlung eingerichtet hat. Ich erkläre dann oft, dass die Kirche geschlossen war, dass man sie nicht mehr betreten konnte. Wir haben hier zum Beispiel ein original Tempelritterkreuz, das man sonst nicht mehr sehen könnte, wenn diese Kirche nicht mehr geöffnet hätte."

Raritätensammler kommen von weit her

Für Óbidos war und ist die Transformation der Kirche Santiago zur Buchhandlung Grande Livraria des Santiago eine Art Zugpferd. Immer mehr Buchhandlungen eröffneten, wenn auch keine wie diese. Sie zieht Menschen an, die das Besondere suchen. "Die Leute suchen tiefgründige Literatur", sagt Lucia. "Sie suchen Bücher, die es in keiner anderen Buchhandlung mehr gibt, und hier gibt es eben die Chance, sie noch zu finden."
In Deutschland hat seit dem Jahr 2000 allein die Katholische Kirche über 500 Kirchengebäude und Kapellen aufgegeben. Die Umwidmung einer alten Kirche zu einem Ort des Lesens, und damit der Stille, wie in Obidos, könnte eine gute Weiternutzungsmöglichkeit sein.
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