Die Buchmessdiener

Von Eberhard Schade · 11.10.2009
Gruppen treuer Buchliebhaber kommen jedes Jahr wieder zur Buchmesse und legen einen regelrechten "Messemarathon" hin - so wie Buchmessen-Fans aus Braunschweig. Sie sind Rentner, Studenten, Hausfrauen. Faszination Buch, Mythos Messe - was treibt einen, sich so etwas anzutun?
Zwei Damen Mitte 40. Beides Stammkundinnen. Sie suchen noch einen Parkplatz in der Nähe des Busbahnhofs, auf dem sie 15 Stunden parken dürfen. Gar nicht leicht, auch in einer Kleinstadt wie Braunschweig. 34 andere sitzen bereits im dunklen Bus. Früh um 5.30 Uhr – an diesem kalten Oktobermorgen. Werden begrüßt von Andrea Lotte:


"Guten Morgen, ich bin ganz leise, damit Sie gleich weiterschlafen können. Wir warten noch auf zwei Fahrgäste, die mitwollen – erstmal herzlich willkommen im Namen der Thalia Buchhandlung …"

Lotte ist stellvertretende Geschäftsführerin, fährt selbst nicht mit, dafür zwei ihrer Angestellten. Einer steht draußen frierend vor dem Bus, im schwarzen Anzug, blickt immer wieder nervös auf seine Armbanduhr.

Lotte: "Ich wünsche Ihnen jetzt einen schönen Tag mit vielen Erlebnissen und tollen Begegnungen und hoffe, dass Sie gut hin- und wieder zurückkommen."

Braunschweig – Frankfurt Buchmesse hin und zurück für 29,90 Euro. Mit Hin- und Rückfahrt ein 18-Stunden-Marathon – der dennoch jedes Jahr aufs Neue ausgebucht ist. Die Konkurrenz schläft nicht, sagt Lotte, ein zweiter Bus aus Braunschweig ist schon seit einer halben Stunde auf der A5.

Der Bus heißt "Heinrich der Löwe", der Fahrer Jürgen Koch. Als der Mann mit dem Schnäuzer gerade seinen Standardwitz über die Bordtoilette macht, huschen die beiden letzten Fahrgäste auf ihre Plätze, Koch übergibt das Mikrofon an den Mitarbeiter der Buchhandlung.

Seidel: "Guten Morgen, meine Damen und Herren, wir fahren jetzt also los. Mein Name ist Peter Seidel."

Seidel trägt zum schwarzen Anzug ein blaues Hemd und eine schwarze Krawatte, dazu eine modische Hornbrille. Beim Einsteigen hat er bereits eine Jutetasche an alle verteilt. Mit Lageplan und Wegweiser durch die sechs Ausstellungshallen. Dazu einen Apfelsaft, zwei Müsliriegel, ein Einkaufsnetz mit Kaffeegutschein – eine kleine Aufmerksamkeit vom Fischer Verlag.

Tipps für Lesungen und Interviews auf der Messe will Seidel erst später geben. Bis dahin soll Gelegenheit sein zu schlafen oder den Artikel über Uwe Tellkamp zu lesen, den er jetzt durchreicht.

Er selbst ist viel zu aufgeregt, um zu schlafen, zu aufgedreht. War Mittwoch schon für einen Tag in Frankfurt, um möglichst gute Empfehlungen geben zu können. Kurztrips wie diese, sagt er, sind für die Kundenbindung von großer Bedeutung. Die Kunden sind Schüler, Studenten, Rentner, Arbeitslose und Manager – alles dabei.
Eine sportliche Mittfünfzigerin in Reihe 1 steckt bereits bei Kilometer 60 ein Kissen schräg in ihren Nacken, damit ihre Schulter nicht zieht. Acht Stunden sitzt Almut Nehm heute insgesamt im Bus. Die Antwort, warum sie sich das überhaupt antut, kommt prompt:

"Bücher. Ich muss das Buch in der Hand haben. Ich hab vor ein paar Jahren erst richtig angefangen zu lesen, habe nie richtig am Stück gelesen. Dann hab ich meine Bücher, die ich angefangen hatte, vorgenommen, und das wird jetzt zu Ende gelesen, und hab´ sozusagen systematisch dadurch den Spaß am Lesen bekommen."

Die Autoren sind ihr nicht so wichtig. Die kochen auch nur mit Wasser, sagt sie.

Ähnlich geht es Heinz Reinhardt, IT-Manager, der schon das zehnte Jahr hintereinander zum Besuchertag fährt:

"Bücher und Bilder und Musik, das ist meine Welt. Darum auch die Buchmesse, die Vielfalt und die Eindrücke bekommt man nicht im Buchladen. Die Massen an Menschen stören mich schon ein bisschen. Dennoch: Es gibt da diese Augenblicke …"

Seine junge Sitznachbarin Katleen trägt ausschließlich Schwarz-Weiß, auch ihr Gesicht ist weiß geschminkt, die Augen leuchten künstlich blau durch Kontaktlinsen. Katleen ist Cossplayerin, geschminkt und kostümiert wie ihre Heldin Kira aus dem Manga-Comic des Zeichners Tite Kubo. Die Buchmesse - auch für die Fans der Kultcomics aus Japan: Pflichtprogramm.

Katleen: "Es ist unglaublich, diese Begeisterung von allen, mit dabei zu sein und das zu sehen. Es gibt immer wieder Neuerscheinungen, da ist man dann scharf drauf, gerade vom Lieblingszeichner, und da ist man auch hinterher."

Hinter ihr sitzt ein echter Autor. Volker Patzwald. Er hat bereits zwei Romane geschrieben, einer ist genau rechtzeitig zur Messe erschienen. "5 Sekunden, die mein Leben verändert haben" – so der Titel. Patzwald will mal gucken, wie es so läuft, sagt er. Ganz überraschend mal am Verlagsstand vorbeischauen.

Patzwald: "Ich selber weiß es gar nicht genau, das muss in Halle 3 sein, Stand F 124 müsste das sein, das war zumindest letztes Jahr so."

Geld verdient Patzwald mit dem Schreiben nicht. Von Montag bis Freitag arbeitet er bei VW, in der Produktion. Neben ihm sitzt seine korpulente Frau Angelika. Sie begleitet ihn – möchte aber unbedingt auch Charlotte Roche auf der Buchmesse sehen, die Autorin des Skandalsbuches "Feuchtgebiete".

Die Krankenschwester hat Glück. Roche steht auf der Liste mit Empfehlungen, die Seidel zusammengestellt hat. 60 aus insgesamt 600 Veranstaltungen am Besuchertag. Von Uwe Tellkamp bis Charlotte Roche, von Günter Grass bis Bushido – alles dabei.

Seidel: "Wir werden wohl zu elf Uhr erst eintreffen, vielleicht bekommen wir noch Harald Martenstein mit. Ein sehr angenehmer, geistreicher Plauderer, kann man so sagen …"

Danach kann man direkt zu einer Lesung von einem der Macher der Sendung mit der Maus. Oder zu einer Podiumsdiskussion über die Türkei. Oder zu einem Interview mit dem Erfinder des Kreuzberger Antihelden Herrn Lehmann.

Seidel: "Um 13 Uhr wird Sven Regener interviewt …"

Schon die 60 Tipps scheinen die meisten im Bus zu erschlagen. Henry, ein junger Student mit schwarzer Schlagcordhose und Kamera um den Hals, macht sich erst ein Kreuzchen bei Uwe Timm, dann radiert er es wieder weg.

Henry: "Also ich hab auch nichts angekreuzt. Sven Regener würde mich interessieren oder Charlotte Roche, Bushido, Reinhold Messner, den würde ich mir vielleicht meiner Mutter zuliebe angucken. Uwe Timm ist ja auch Braunschweiger …"

Seidel: "Dort steht dann immer Halle 3.1 D 154. Das hört sich erstmal kryptisch an. Halle 3.1 bedeutet aber, es ist die Halle 3, 1. Stockwerk und D 154 …"

Wie er zu Regener, Roche und Messner findet – klingt in der Theorie erstmal leicht. Doch befürchtet Henry, dass er bei 400.000 Titeln auf 172.000 Quadratmetern schon nach ein, zwei Stunden schlappmachen wird. Mit der Diagnose "Reizüberflutung". So kennt er es von der Cebit.

Seidel: "Meine Damen und Herren, Frau Hännicke wird jetzt rumgehen, Ihnen die eigentlichen Eintrittskarten für die Frankfurter Messe aushändigen …."

In den Messehallen ist es warm, sagt Seidel. Deshalb bleiben Jacken und Mäntel im Bus. Die beiden Männer auf dem Parkplatz, die den Bus einweisen, tragen Wollhandschuhe.

Seidel: "Abschließend meine Telefonnummer, falls Sie sich verlaufen sollten, was durchaus vorkommt, dann bitte ich Sie, mich anzurufen. Abschnallen. Meine Damen und Herren, wir treffen uns also hier am Bus wieder um 18.15 Uhr. So, dann viel Spaß …"

"Heinrich der Löwe" parkt vor Halle 10. Die ist gar nicht mehr auf Henrys Plan.

Der Student läuft und läuft. Durch die gesamte Halle 8 zum Eingang Torhaus, wo die Eintrittskarten gescannt werden. Dann über eine weitläufige Betonfläche, die in ihren Ausmaßen an die Startbahn West auf dem Frankfurter Flughafen erinnert. Als nach 20 Minuten linker Hand Halle 6 auftaucht, entdeckt er rechts den Eingang in Halle 4. Im Foyer gleich links – ein Menschenauflauf. 300, 400 Fans des Rappers Bushido. Gesponsert wird die Veranstaltung von den Firmen Vileda und Teekanne. Henry muss grinsen:

"Jetzt gucken wir mal, wie er sich schlägt. Ob er sich hier eben mit seiner typischen Attitüde gibt oder sich anpasst an das Gesamtkonzept der Frankfurter Buchmesse, ob er sich da entsprechend artikuliert, mal sehen."

Der Rapper Bushido ist in diesem Jahr einer der bekanntesten Besucher der Buchmesse. Deshalb kommen zu seinem Interview wohl auch mehr Leute als zur Pressekonferenz des neuen Nobelpreisträgers, dessen Name sich niemand merken kann. Bushidos Buch steht in der "Spiegel"-Bestseller-Liste auf Platz Nummer 1. Es geht darin hauptsächlich um Sex und Drogen.

"Die Lieder kenn ich, sie sind unmöglich …"

… sagt eine Mutter, die verzweifelt ihren Sohn sucht. Weil er seine Tasche vergessen hat. Drinnen: Bushidos Biografie zum Signieren.

Mutter: "Mal gucken, ob ich ihn jetzt erwische … der kann Ihnen alles sagen, der weiß alles über Bushido."

Doch die Mutter erreicht nur die Mailbox. Ihr Sohn steht irgendwo weit vorne, wartet auf sein Idol. Genau wie Philipp und Maurice. Beide 17, seit fünf, sechs Jahren Hardcore-Fans. Wie Bushido tragen beide Kurzhaarschnitt und Tattoos. Und beide haben sich ihm nicht nur äußerlich angenähert.

Philip & Maurice: "… weil Texte sind richtig korrekt produziert die ganze Lieder auf jeden Fall oder so und auch mit Inhalt also nicht halt dumm. Bushido ist auf jeden Fall richtig korrekt."

Der Gangsta-Rapper ist da, zum ersten Mal auf der größten Bücherschau der Welt. Setzt sich in Jogginghose und mit dicker Armbanduhr auf eine Ledercouch. Und gähnt. "Termine vor zwölf sind kacke", sagt er und erntet ein paar Lacher.

Bushido plaudert ausgiebig, viel sagt er dabei nicht. Jeder dritte Satz beginnt bei ihm mit einem "im Endeffekt". In Frankfurt kommt er sich ein bisschen so vor wie Knut der Eisbär, sagt er. Weil Millionen Leute kommen und ihn angaffen – nur weil er "Ghetto" auf seinen Arm tätowiert und als Rapper ein Buch geschrieben hat.

"Mal Hand aufs Herz, wie viel Show ist an diesem Habitus des Gangsta-Rappers? Jeder ist frei zu entscheiden, wie viel Show wirklich auf dieser Couch sitzt und wie viel Wahrheit, im Endeffekt keine Ahnung, ich halte mich da zurück, ich mach mein Ding." Applaus.

Bushido bedient sein Publikum. Henry nervt er:

"Es ist überraschend flach, rechtfertigt sich mit seinen Fans für seinen Erfolg und macht alle anderen uncool, die studiert haben. Hätt´ ein bisschen mehr erwartet."

Ein Foto noch, dann will er los, seine Kumpels treffen.

Henry am Handy: "Hi, ihr seid in Halle 3, in der Comic-Abteilung. Kannst du mir die genauen Koordinaten nennen, dann kann ich da gleich rumkommen. Aha. Gut, alles klar. Bis dann, Tschüss."

Draußen, auf dem betonierten Messeplatz, strahlt die Sonne, die Luft ist klar und frisch. Vor einem alten Zirkuszelt, in dem Lesungen stattfinden, steht Hans Reinhardt, der bücherverrückte IT-Manager, atmet tief durch. Er sieht blass, benommen aus. Fühl mich auch so, sagt er:

"Das ist teilweise auch ne Tortur hier in Frankfurt, muss man gestehen, wirklich ne Tortur."

Der Mittvierziger ringt nach einer Erklärung, dass ausgerechnet er, der Messe-Routinier, in diesem Jahr schon so früh abbaut.

Reinhardt: "Das hängt damit zusammen, dass man relativ verschlafen ist, vielleicht vorher noch so ein bisschen aufgeregt war, dann ist man hier und stürzt sich in die Massen, ist dann teilweise noch benommen, sieht dann Bücher über Bücher, und man läuft teilweise schlafwandelnd durch die Gegend."

Aufgeben aber kommt nicht in Frage. Nein.

Reinhardt: "Und jetzt sind wir hier draußen zum Glück, schöne frische Luft. Jetzt komme ich mal ein bisschen zu mir selbst. Gleich freue ich mich, dass ich in die nächste Halle kann, dann bin ich schön wach und kann dann durchstarten."

Gleich in Halle 4 bei den Kunstbüchern.

Reinhardt: "Das verfolgt mich schon seit meiner Kindheit, wo es noch nicht das Internet gab, ich hab dann Verlage angeschrieben, quer durch die Welt, und das ist natürlich dann gewachsen über das Internet, ist der Wahnsinn und natürlich eine kleine Sucht noch größer geworden."

In Halle 4 folgt Reinhardt keinem System, er lässt sich einfach treiben. Blättert hier kurz in einem opulenten Kandinsky-Band, verliert sich dort einen Augenblick in den Werken des Kunst-Chaoten Jonathan Meese. Unbeeindruckt von den 80 mal 60 Zentimeter großen Plastiktüten der Besucher, die ihm dauernd in die Kniekehlen knallen. Den immer voller werdenden Rucksäcken, die ihm die Sicht versperren. Alle vollgestopft mit Prospekten, Gummibär-Tütchen, erotischen Leseproben.

"Es ist tatsächlich so, wenn in manchen Medien gesagt wird, das ist ein Sexbuch, wenn man das kauft, um dann schöne Wichse-Geschichten lesen zu wollen, dann wird man eben enttäuscht, weil es ist auch ein sehr trauriges Buch."

Kein Weiterkommen ist pünktlich um 16.00 Uhr im Erdgeschoss von Halle 3, gegenüber des Weltmusikstandes, am Stand B157. Publikumsmagnet hier: Charlotte Roche. Zu erkennen am nasalen Klang ihrer Stimme und am vulgären Vokabular. Roche ist zierlich, trägt ein enges, körperbetontes Outfit. Doch sehen können das nur die, die sich nach ganz vorne in den zweieinhalb Meter schmalen Gang gedrängelt haben. Angelika, die korpulente Krankenschwester, hat es nicht bis hierher geschafft.

"… und manchmal kippt das rüber in so eine Selbstzerstörung. Aber nicht alles Sexuelle, was sie macht, ist krank und obsessiv, viel davon ist lustig und leicht. Wie zum Beispiel die Sache mit den Avocadokernen, das ist ganz wunderbar."

Der Moderator und die Autorin geben alles, um das Buch der Ex-MTV-Moderatorin anzupreisen, es aus der Trash- und Schmuddel-Ecke herauszuholen. Auch wenn es sich vielleicht gerade deshalb so gut verkauft.

Ein paar Stände weiter ein ganz anderes Bild. An einem winzigen Stand sitzt ein gemütlicher, älterer Herr und bittet um Spenden. Karl Dietrich Wolff, früher ein umtriebiger SDS-ler, bringt er heute teure Kafka- und Hölderlinausgaben heraus. Jetzt erwischt ihn möglicherweise die Bankenkrise. Ohne Vorwarnung hat seine Bank ihm einen Kredit gekündigt.

Mehr als eine Million Exemplare verkaufte Feuchtgebiete dort, das drohende Aus für einen vor knapp 40 Jahren gegründeten Verlag hier: Wolff kann das alles gar nicht begreifen, sagt er und starrt ungläubig vor sich hin.

Das Gegenteil von einem Trashbuch hat der Autor Uwe Tellkamp vorgelegt, die 1000-seitige DDR-Saga "Der Turm". Er sitzt eine Dreiviertelstunde später im ersten Stock von Halle 3, am Stand L691. Tellkamp trägt ein perfekt sitzendes Tweed-Sakko, nippt an einem Glas Wasser. Vor ihm, ordentlich aufgereiht, 15 Reihen Stühle. Jeder einzelne ist belegt. Der Dresdner Autor zieht ein eher intellektuelles Publikum. Eingerahmt wird er vom Geschäftsführer seines Verlages und der Pressesprecherin des Börsenvereins.

Bringen wir es hinter uns, sagt der Gewinner des Deutschen Buchpreises pünktlich um 16.45 Uhr. Er wirkt müde, angestrengt. Bekommt dann aber gerade noch rechtzeitig die Kurve und sagt, dass er sich natürlich über die Woge der Aufmerksamkeit hier in Frankfurt sehr freut.

Tellkamp: "Ich komm mir jetzt, ehrlich gesagt, vor wie so ein Wimbledon-Sieger, den man kurz danach fragt: Wie fühlen sie sich? Er ist natürlich erstmal kaputt."

Kaputt ist auch Henry, der ein paar Minuten zu spät zu der Veranstaltung kommt, sich im Schneidersitz an eine Stellwand setzt. Beine, Füße, Kniescheiben – alles tut weh, sagt er leise. Dabei hat er irgendwie das Gefühl, in den letzten fünf Stunden gar nicht so viel gesehen zu haben:

Henry: "Man könnte seine Ressourcen beim nächsten Mal einfach günstiger nutzen, mehr schauen, was hat mich jetzt eigentlich interessiert und da waren schon die Interviews und die Lesungen, da ist man einfach ein bisschen näher an dem Mann hinter dem Buch dran oder der Frau."

An einer Frau war er heute jedenfalls ganz nah dran. An Charlotte Roche. Davon hat er sogar ein Foto. Hätt´ ich heute Morgen auch noch nicht gedacht, sagt Henry und grinst.

Eine Dreiviertelstunde später macht er sich auf den Weg zurück zum Parkplatz, diesmal mit einem Bus-Shuttle. An der Haltestelle trifft er Peter Seidel, seine Kollegin Ina und Ulla, eine junge Designerin. Alle sind erschöpft, Ulla ist desillusioniert:

"Ist so eine Reizüberflutung irgendwie. Ich fand das total laut. Ich finde, man weiß es überhaupt nicht mehr zu schätzen irgendwie. Du guckst in die eine Richtung, siehst ein geiles Buch, dann drehst du dich um siehst wieder eins. Dann Bushido vor dir …"

Hännicke: "Peter, hat irgendwer bei dir angerufen, haben wir Verletzte, Tote oder so?"

Bisher noch nicht, sagt Seidel. Aber das kann noch kommen. So wie vor zwei Jahren.

Seidel: "Da ist jemand genau am entgegengesetzten Ende des Messegeländes ausgestiegen, und der konnte das nur sehr schlecht beschreiben, aber die Sonne schien, und dann konnten wir anhand des Messeturms und des Schattenwurfs bestimmen, wo er denn war."

Damals hat das den Zeitplan komplett über den Haufen geworfen. Diesmal allerdings sieht es gut aus. Am Busparkplatz angekommen, sind fast alle schon da. Auf den Stufen Heinrichs des Löwen sitzt Heinz Reinhardt. Fünf Stunden nach seinem Durchstart kann auch er nicht mehr stehen.

Reinhardt: "Ich bin platt. Ganz einfach. Ich kann auch keine Bücher mehr sehen. Ich bin froh, wenn ich zu Hause bin."

Andere sitzen bereits im Bus, manche mit geschlossenen Augen, weit geöffneten Mündern.

Ganz hinten sitzt Volker Patzwald, der Autor, starrt aus dem Fenster Richtung Messeturm. Patzwald ist enttäuscht. Der Verlag, bei dem sein Buch erschienen ist, hatte dieses Jahr gar keinen Stand auf der Messe. Wahrscheinlich, weil die Gebühren zu hoch waren. Patzwald jedenfalls ist umsonst gekommen.

Patzwald: "Wir haben uns auch selber schon geärgert. Wir waren an der Information, und Triga war nicht da. Ich werde Montag da mal anrufen, ich werd da mal nachhaken, warum die nicht da waren."

Peter Seidel schenkt dem traurigen Autor ein Glas Sekt ein und der versucht ein Lächeln. Dann bekommen alle anderen ein Freigetränk.

Seidel: "Das ist so ne schöne Abrundung des Ganzen. Wir trinken ein Bier, einen Sekt, so als Ausklang."

Richtig erleichtert, sagt Seidel, ist er erst, wenn der Bus wieder in Braunschweig angekommen ist. In vier bis fünf Stunden also. Und dann? Dann nimmt er erstmal zwei Wochen Urlaub.