Die Briten und der Brexit

Die Identitätskrise Großbritanniens

Eine Handvoll Anti-Brexit-Demonstranten steht vor dem britischen Parlament in London. Sie haben sich Flaggen umgehängt, die sowohl die britische als auch die europäische Flagge zeigen. Sie halten Plakate hoch, auf denen etwa steht: "We want a people's vote".
Anti-Brexit-Demonstranten stehen vor dem britischen Parlament in London. © imago/ZUMA Press
Tessa Szyszkowitz im Gespräch mit Patrick Garber · 26.01.2019
Splendid Isolation? Tief gespalten taumelt das Vereinigte Königreich dem Brexit am 29. März entgegen. Alles ist möglich, niemand scheint einen Plan zu haben. Die Journalistin Tessa Szyszkowitz glaubt noch nicht an den Austritt aus der EU.
Die Uhr tickt. Am 29. März soll Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden. Der Scheidungsvertrag zwischen London und Brüssel ist ausgehandelt, doch er findet bisher keine Mehrheit im britischen Parlament. Es droht ein "No Deal-Brexit", ein ungeregelter Austritt der Briten aus der Union, mit unabsehbaren Folgen vor allem für die Wirtschaft dies- und jenseits des Kanals.
Die österreichische Großbritannien-Korrespondentin Tessa Szyszkowitz hat ein Buch vorgelegt, in dem sie nicht nur die politischen Ränkespiele rund um den Brexit analysiert, sondern auch ein Psychogramm der Briten entwirft. Nostalgie zum vergangenen Empire, Fremdenfeindlichkeit, Reformstau und ein Aufstand der englischen Provinz gegen die weltoffenen Eliten in London, all das sieht sie als Bestandteile der Brexit-Stimmung.
Bei allem Erstaunen über die die harte und teilweise irrationale britische Debatte um den Brexit glaubt Tessa Szyszkowitz aber nicht daran, dass das Vereinigte Königreich tatsächlich am 29. März aus der EU austritt. Für wahrscheinlicher hält sie, dass dieses Drama in die Verlängerung geht, in der Premierministerin May einige ihrer roten Linien gegenüber der EU streichen muss. Am Ende sieht die österreichische Korrespondentin zwar schon einen Brexit, aber zu sanfteren Bedingungen, mit denen Briten und Rest-Europäer einigermaßen leben können.

Die österreichische Historikerin, Autorin und Journalistin Tessa Szyszkowitz lebt seit 2010 als freie Korrespondentin in London und schreibt u.a. für die Magazine "profil", "Falter" und "Cicero".


Das Gespräch im Wortlaut.
Deutschlandfunk Kultur: Mein Gast ist heute Tessa Szyszkowitz, Journalistin, Buchautorin und gelernte Historikerin aus Österreich. Seit neun Jahren berichtet sie als Korrespondentin aus London. Und gerade hat sie ein Buch über den Brexit vorgelegt, den geplanten Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, mit interessanten Innenansichten aus dem Vereinigten Königreich. – Hallo, Frau Szyszkowitz.
Tessa Szyszkowitz: Ja, hallo.

Der Brexit, ein Angsthasenspiel

Deutschlandfunk Kultur: Versuchen wir mal, Frau Szyszkowitz, uns dem vertrackten Thema Brexit auf spielerische Art zu nähern.
Die Spieltheorie kennt das sogenannte Angsthasenspiel. Das stellt man sich so vor: Zwei Autos rasen aufeinander zu. Und der Fahrer, der zuerst die Nerven verliert und ausweicht, der hat verloren. Ist das die Strategie der britischen Regierung beim Brexit, Kurshalten um jeden Preis, auch wenn es dabei zu einem Crash kommen kann?
Szyszkowitz: Also, es ist sicher ein bisschen was davon in Theresa Mays Strategie im Moment, weil sie sicher die Letzte ist, die einen No-Deal am Ende als Lösung dieses momentanen Brexit-Chaos will. Das wäre für sie als Premierministerin verheerend, wenn sie daran scheitert, einen geordneten Ausstieg aus der EU auszuhandeln, und zwar nicht nur mit Brüssel, sondern auch mit ihrem eigenen Kabinett und ihrem eigenen Parlament. Das heißt, das ist jetzt Theaterdonner, Theaterdonner auf beiden Seiten. Ich würde sagen, die Chancen, dass das tatsächlich stattfindet und die Briten ohne Deal aus der EU kippen, sind vielleicht bei zehn Prozent.
Ich glaube nicht, dass das Parlament, in dem es eine wirklich große, satte Mehrheit gegen No-Deal gibt, dass das Parlament das zulassen würde. Und letztlich glaube ich auch nicht, dass Theresa May nicht noch vorher einem Deal zustimmt, auch wenn sie von ihren roten Linien dann zurücktreten muss und doch einem Abkommen zustimmt, das für Großbritannien auf jeden Fall besser ist als No-Deal.
Deutschlandfunk Kultur: No-Deal-Brexit, das wäre also der harte Brexit ohne Abkommen, ohne irgendwelche Regelung, was ja zu einigen Verwerfungen führen könnte.
Sie haben das Parlament schon gerade angesprochen. An sich ist jetzt hier auch die Stunde des Parlaments, wenn die Regierung nicht so richtig weiterkommt. Tatsächlich liegen im britischen Unterhaus eine Fülle unterschiedlichster Anträge vor, in denen so ziemlich jedes weitere denkbare Vorgehen in der Brexit-Frage entweder gefordert oder auch ausgeschlossen wird. Das Parlament, kann es einen Ausstieg aus der Misere weisen?
Szyszkowitz: Ja, man muss ja auch bedenken, dass in Großbritannien eine lange Tradition eines starken Parlamentarismus besteht. Zum Beispiel 1640, als der sogenannte Civil War ausbrach, ging es in Wirklichkeit drum, dass der König und das Parlament verschiedene Regeln sich selber gegeben haben und miteinander im Streit lagen. Und das endete 1649 damit, dass Charles I. der Kopf abgeschlagen wurde wegen Staatsverrats.
Das heißt, im Vergleich dazu geht's Theresa May zurzeit eigentlich noch ganz gut.
Deutschlandfunk Kultur: Noch.
Szyszkowitz: Denn ihre Parlamentarier wollen ja eigentlich nur verhindern, dass das Land ins Chaos gestürzt wird. Und das, glaube ich, können sie auch mit diesen Gesetzesanträgen, die jetzt in den nächsten Wochen debattiert und abgestimmt werden, auch erreichen.
Deutschlandfunk Kultur: Ein Vorschlag aus dem Parlament sieht ja vor, einfach in die Verlängerung zu gehen, also, mit der EU einen Aufschub des Brexit etwa bis zum Jahresende auszuhandeln. Halten Sie für wahrscheinlich, dass es so kommt?

Harter Brexit wird immer unwahrscheinlicher

Szyszkowitz: Also, es wird immer unwahrscheinlicher, dass am 29. März 2019 die Briten tatsächlich austreten. Also, schon mit einem geordneten Abkommen würde es ja nur mit einer Übergangslösung dazu kommen. Aber das No-Deal-Szenario, also die härteste Variante, wird immer unwahrscheinlicher, auch wenn es im Moment so im Vordergrund steht, weil es halt auch gute Schlagzeilen gibt, wenn die Leute Toilettenpapier horten oder Hundefutter oder italienischen Mozarella.
Deutschlandfunk Kultur: Oder Antidepressiva, wie gerade zu lesen war.
Szyszkowitz: Ja. Also, Antidepressiva ist ja auch nun wirklich etwas, was man…, also die meisten Medikamente gibt’s ja in Großbritannien. Also, es geht um spezielle Medikamente, wo es tatsächlich ein Problem geben könnte. Aber nehmen wir jetzt mal an, es kommt noch erstmal zu dieser Fristverlängerung von Artikel 50 der Austrittsklausel des EU-Vertrags. Dann hat Theresa May nochmal zwei, drei Monate eventuell Luft. Unter Umständen wird es sogar bis Dezember verlängert. Das steht jetzt in dem Änderungsantrag drin, der von den Labour-moderaten Abgeordneten eingebracht wird gemeinsam mit den moderaten Konservativen und wofür es eine klare Mehrheit im Parlament gäbe. Wenn nicht die Regierung vorher schon einlenkt und eingesteht, dass es einfach zu brenzlig ist, nicht jetzt die EU zu bitten, das zwei, drei Monate zu verlängern bis man sich tatsächlich überlegt hat, wie man ein Abkommen noch vom Parlament ratifizieren lassen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Der Hauptknackpunkt ist ja bisher der sogenannte Backstop, also die mit Brüssel eigentlich mühsam ausgehandelte Regelung für die Grenze zwischen Nordirland und Irland, die nach einem Brexit ja die Außengrenze der EU in dieser Region werden würde. Diese Regelung will aber jetzt nicht die Partei der nordirischen Unionisten. Und auf deren Stimmen im Unterhaus ist Frau May angewiesen. – Gibt es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle? Wie könnte der aussehen?
Szyszkowitz: Also, es ist schon etwas bizarr, dass ausgerechnet die Nordiren, die davon am meisten betroffen sind, jetzt so tun, als wäre es überhaupt kein Problem, wenn das Karfreitags-Abkommen infrage gestellt wird. Also, mir hat auch Arlene Foster, die Führerin von der DUP, vor ein paar Monaten auf die Frage…
Deutschlandfunk Kultur: Also der Democratic Unionist Party, also der Partei der nordirischen Unionisten.

Realitätsverlust und "Brextremismus"

Szyszkowitz: Genau, die ja sehr, sehr konservative Unionisten eben sind, denen die Einheit des Vereinigten Königreichs über alles geht und scheinbar auch über den mühsam gehaltenen Status Quo einer friedlichen Koexistenz zwischen irischen Republikanern und Unionisten. Also, ich muss sagen, dieser Realitätsverlust, der da auf Seiten der DUP besteht und auch teilweise bei den Hardlinern in der konservativen Partei von Theresa May, das ist schon erstaunlich. Weil, an sich ging es ja beim Austritt aus der EU für die Brexiteere um den Austritt aus dem politischen Projekt Europa und nicht darum, jetzt so zu tun, als wäre es vollkommen unerheblich, wenn dieses Land nach 44, 45 Jahren engster Vernetzung, wirtschaftlicher Vernetzung, aber auch politischer und sozialer Vernetzung einfach austritt und sich in eine Splendid Isolation begibt.
Das hätte natürlich immense Konsequenzen auch für Nordirland. Es ist ja auch Irland und Nordirland sowieso so davon abhängig, wie die Beziehungen zu Großbritannien sind, zum Vereinigten Königreich und natürlich auch insgesamt zur EU. Das ist rein geographisch gesehen eine Katastrophe, das alles aufs Spiel zu setzen, weil man sich verrannt hat in eine "brextremistische" Position.
Deutschlandfunk Kultur: Und glauben Sie, dass die Unionisten dann irgendwann mal klein beigeben könnten? So ein ganz leichtes Signal gibt’s ja, dass sie sich eventuell darauf einlassen könnten, dass dieser Backstop dann doch kommt, allerdings befristet auf eine bestimmte Zeit – ich glaube, fünf Jahre.
Szyszkowitz: Also, die Frage, ob man einen Backstop befristen kann auf fünf Jahre, hat die EU ja bisher klar abgelehnt, einfach deswegen, weil ja der Backstop die Garantie ist, dass – wenn es kein Abkommen gibt zwischen Großbritannien und der EU – dann nicht der Friede gefährdet wird. Also, diesen Backstop zu befristen, ist an sich in sich unlogisch.
Was man allerdings tun könnte, und darüber gehen jetzt die Verhandlungen hin und her, dass man in der politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union, das heißt, das ist die Absichtserklärung für den späteren Freihandelsvertrag, den man aushandeln möchte, dass darin eventuell steht, man wird sich jedes Jahr darüber absprechen oder man wird versuchen, nach fünf Jahren dieses oder jenes zu fixieren. Das ist aber rechtlich nicht bindend. Und deswegen sperren sich auch die DUP oder andere Brexiteere dagegen.

Sanfter Brexit

Meine Analyse wäre, dass Theresa May ganz gut beraten wäre, sich vor allen Dingen mal darum zu kümmern, dass sie die moderate Mehrheit im Parlament ausschöpft, und zwar alle Leute, die der Meinung sind, Brexit ist zwar nicht das Beste, aber man stimmt einem sanften Brexit zu, bevor man einem No-Deal-Szenario ins Gesicht sehen muss. Das wäre wahrscheinlich leichter als die DUP zu überzeugen.
Die DUP ist auch nicht die Tory-Party, das sind einfach unsichere Partner, während Theresa Mays Hauptangst eigentlich ist, dass ihre eigene Partei auseinander bricht, dass dort der Hardliner-Flügel bei keinem ihrer Vorschläge mehr mitmacht. Das ist aber auch eine kleine Minderheit. Und es gibt auch Anzeichen jetzt aus diesem Flügel, zum Beispiel von Jacob Rees-Mogg, der auch schon angedeutet hat, dass er einem Abkommen, das Theresa May vorlegt, wenn es ein bisschen verändert ist, doch mit stimmen könnte.
Also, ich würde mal sagen, dass da noch sehr viel heiße Luft ist, die noch aus den Ballonen entfleuchen wird, wenn es wirklich hart auf hart kommt und wenn es wirklich keine Zeit mehr gibt und man dann einfach sagen muss: Ist man jetzt dafür, dass das Land vollkommen ins Chaos gestürzt wird? Oder ist man dafür, dass man einem Kompromiss zustimmt, der zwar für niemanden vollkommen befriedigend ist, aber wie bei jeder guten Scheidung stimmt man dem halt zu, damit die zukünftigen Beziehungen nicht vollkommen zerrüttet sind.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ja noch einen anderen Vorschlag im Parlament, nämlich dass man das Volk nochmal fragt, also ein zweites Brexit-Referendum durchführt. – Wäre denn ausgemacht, dass die Briten dann anders abstimmen würden als beim ersten Mal?
Szyszkowitz: Ja, das ist natürlich die große Frage und das ist auch ein wirkliches Problem. Weil, würde man jetzt noch ein Referendum ansetzen und hat dann ein ebenso gespaltenes Ergebnis, ein bisschen wahrscheinlich für Remain über Leave, also umgekehrt als das letzte Mal, mit umgekehrten Vorzeichen, es würde das Land nicht unbedingt einen, wenn man das hätte.
Auf der anderen Seite muss man auch sagen, das Land ist jetzt gespalten. Und das ist in einer Demokratie ja auch nicht so unüblich, dass die Leute, die einen sagen so, die anderen sagen so. Deswegen bricht ja noch nicht das ganze Ding auseinander.
Man müsste halt überlegen überhaupt, was auf diesem Wahlzettel, auf dem Referendumsblatt drauf steht. Wäre das dann Theresa Mays Deal? Der, den sie jetzt im Parlament vorgelegt hat, ist mit einem Überhang von 230 Stimmen abgelehnt worden. Also, der ist schwer nochmal zu verkaufen und nochmal abzustimmen. Es müsste also der neue Deal sein, den sie jetzt auszuhandeln versucht. Und das wäre dann ein sanfter Brexit. Dann fühlten sich allerdings auch die Hardliner, die harten Brexiteere betrogen. Deswegen wird davon gesprochen, dass man die Austrittsstimmen splittet in zwei Varianten usw. usf.

Es fehlt eine Galionsfigur für Europa

Also, Sie sehen, es ist sehr kompliziert. Und deswegen fürchten sehr viele, dass das Referendum einfach auch daran scheitern wird, dass es keine klare Fragestellung gibt. Und außerdem gibt es auch keine klare Unterstützung von einem der zwei Parteichefs, die das betreiben könnten. Es gibt relativ wenig Chancen, dass jemand von diesen beiden sich dafür stark macht, eine pro-europäische Kampagne zu führen. Und wenn es der Bevölkerung überantwortet wird, dann bräuchte man dort also eine Galionsfigur, die beliebt und stark genug ist, um dieses Referendum zu tragen. Und dem gegenüber stünden ja dann Leute wie Boris Johnson, der einfach wieder das Blaue vom Himmel versprechen würde und der, trotzdem er sich als unverantwortlicher Politiker inzwischen herausgestellt hat, trotzdem eine gewisse Beliebtheit im Volk hat und der ganz sicher so ein Referendum zu einer ausgesprochen schwierigen und feindseligen, europafeindlichen Kampagne nutzen würde. Also, leicht wird das nicht.
Deutschlandfunk Kultur: Zumal das erste Referendum ja noch was anderes gezeigt hat, nämlich eine gewisse Spaltung innerhalb des Vereinigten Königreichs. Schottland und Nordirland waren deutlich für den Verbleib in der EU, die Wähler in der Metropole London auch. In England ohne London und mit Abstrichen in Wales war man dagegen. Das hat dann am Ende den Ausschlag gegeben. – Ist die Gretchenfrage nach dem Verhältnis zur EU ein Spaltpilz mittel-, langfristig für das Vereinigte Königreich?

Identitätskrise und englischer Nationalismus

Szyszkowitz: Ja, es ist, der gesamt Brexit muss unter dem Aspekt gesehen werden, dass da verschiedene Anzeichen, Symptome einer Identitätskrise Großbritanniens zum Vorschein kommen, und zwar in jeder Hinsicht. Und eines davon ist, dass das Verhältnis der Nationen innerhalb des Vereinigten Königreichs nicht balanciert genug für manche der Beteiligten ist.
Und gerade die Engländer, die ja immer dominiert haben im United Kingdom, weil sie die bevölkerungsreichste Nation sind, die politisch bestimmende Nation sind, die sind im Moment die Einzigen, die keine eigene Volksversammlung haben. Weil, die Schotten und die Nordiren und die Waliser haben eine eigene parlamentarische Versammlung bekommen und können über gewisse lokale, regionale Gesetze selber bestimmen. Die Engländer aber haben nur das House of Commons und das House of Lords, das aber das britische Parlament ist.
Und da hat der Brexit hervorgebracht eine Art von englischem Nationalismus, der einen manchmal jetzt auch sprachlos macht, weil da sehr viel rauskommt an unterdrückten nationalistischen Tendenzen, die unterschätzt wurden vor dem Brexit-Referendum und die jetzt sich in diesem harten Flügel der Tory-Partei festgesetzt haben und auch in der Bevölkerung, wodurch es ja überhaupt erst möglich geworden ist, dass die Leute jetzt sagen: "Ach was, wir machen das alles allein."
Und wenn die Engländer nicht aufpassen, dann setzt der Brexit tatsächlich die Einheit des Vereinigten Königreichs aufs Spiel, weil die Schotten im Moment zwar auch keine leichte Zeit haben, sowohl politisch als auch finanziell durch die niedrigen Ölpreise, aber im Prinzip steckt da ein Spaltpilz drin.
Und ganz interessant, und das ist zum ersten Mal jetzt: Man dachte immer, wenn es jemals wieder eine Bewegung gibt zur Vereinigung der Republik Irland und Nordirland, dann würde die von Irland ausgehen. Davon ist man immer ausgegangen. Jetzt zum ersten Mal sieht man eine Republik Irland, die im Verein mit der EU ausgesprochen vernünftige Politik betreibt, die auch in sich sozusagen eine Art postkatholische Phase begonnen hat, wo man für liberale soziale Gesetze stimmt, wie für die Ehe für alle und dass man die Abtreibung nicht mehr vollkommen verbietet.

Tanz auf dem Vulkan in Nordirland

Und die sind jetzt nicht die, die auf Einheit drängen mit Nordirland, weil sie wissen, dass Nordirland ein Tanz auf dem Vulkan sowieso grundsätzlich ist wegen der früheren kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch natürlich finanziell eine reine Katastrophe ist. Es ist ein bettelarmer Teil des Vereinigten Königreichs, den im Grunde genommen keiner besonders gerne weiter bezahlen möchte. Und Nordirland selber fühlt sich jetzt mit seiner pro-europäischen Mehrheit eher zu Irland gedrängt.
Und das Benehmen von Großbritannien und von der britischen Regierung ist ja gewissermaßen zweifelhaft. Also, da wird das Karfreitagsabkommen einfach infrage gestellt, als wäre das nicht abgerungen worden nach Jahrzehnten fürchterlicher gewaltiger Auseinandersetzungen und nach Jahren von Friedensverhandlungen unter Beteiligungen von allen internationalen Organisationen. Also, die Nordiren sind sicher die, die am meisten darunter leiden werden, wenn es einen harten Brexit gibt. Und der leichte, sanfte Brexit wird natürlich auch nicht ganz einfach. Und die langfristigen Folgen, die können wir jetzt noch gar nicht abschätzen.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Szyszkowitz, ihr eingangs erwähntes Buch trägt den Titel "Echte Engländer. Britannien und der Brexit". Echte Engländer? Der Brexit ist also nach dem, was Sie gerade gesagt haben, vor allem ein englisches Projekt?
Szyszkowitz: Na ja, es ist nicht nur ein englisches Projekt, aber was mich ein bisschen in dieser Phase 2016/17, als wir nicht nur in Großbritannien, aber auch in Amerika und auch in Europa eine Welle von rechtspopulistischen Bewegungen gesehen haben, die hier und da aus unterschiedlichen spezifischen Gründen, aber die verbunden hat ein gewisses Gefühl, sich gegen Eliten aufzulehnen, dass Leute, die von der Globalisierung abgehängt werden, sich in Proteststimmen gegen die EU, im Fall jetzt von Brexit ausgedrückt haben. Da war also nicht nur die Frage von England versus der EU ausschlaggebend.
Aber: Die englische Mittelschicht außerhalb von London kann sich inzwischen einen Besuch in der Hauptstadt nicht mehr leisten oder nur sehr wenige. Also, dass man dort in Theater geht oder ins Restaurant geht, dort übernachtet eventuell in einem Hotel, das ist für viele Leute einfach nicht mehr erschwinglich, weil London so eine glitzernde Metropole geworden ist. Dieses viele ausländische Geld, das hat die Mieten in die Höhe getrieben. Es hat alles sehr, sehr teuer gemacht.
Deutschlandfunk Kultur: Und daran ist EU schuld?
Szyszkowitz: Daran ist natürlich die EU überhaupt nicht schuld, sondern ganz im Gegenteil. Daran ist eher die Liberalisierung des Finanzmarktes unter Margaret Thatcher schuld, was es erlaubt hat, dass die Londoner City das Finanzzentrum der westlichen Welt wurde. Und das hat zwar auf der einen Seite sehr viel Geld ins Land gebracht, aber teilweise auch Geld, das von korrupten Geschäftsleuten aus der ganzen Welt hier geparkt wurde und immer noch wird.
Das heißt, diese Kluft, die sich da aufgetan hat, also, das war ungerecht, dass sich das gegen die EU gewendet hat, weil die EU im Grunde genommen ja auch am ehesten noch versucht, die Finanzgebarungen in der EU zu harmonisieren, was daran ja auch oft gescheitert ist, dass die Briten dabei nicht mitspielen wollten.

Auflehnung gegen die Elite

Aber das heißt, das englische Element beim Brexit ist auf der einen Seite eine soziale Auflehnung gegen die Elite, auf der anderen Seite, wie wir vorhin erwähnt haben, ein englischer Aufstand des Nationalismus, um innerhalb der Union mehr Mitsprache oder mehr Ausgleich zu bekommen im Vergleich zu den anderen Nationen.
Und es ist auch ein Element, dass Großbritannien sich sehr verändert hat in den letzten Jahrzehnten. Es gibt, deswegen heißt das Buch auch "Echte Engländer". Wer ist also der echte Engländer heute? Bei den 66 Millionen Briten sind eine Million pakistanischer Herkunft, eine Million indischer Herkunft, eine Million polnischer Herkunft. Es gibt also ganz neue echte Engländer. Und die spielen jetzt auch immer mehr eine Rolle. Auf der einen Seite eben die Polen, die auch noch nicht unbedingt politisch in der ersten Reihe im Parlament sitzen. Das wird wahrscheinlich erst in der nächsten Generation der Fall sein.
Aber zum Beispiel hat Theresa May zum ersten Mal einen Innenminister, dessen Vater pakistanischer Busfahrer war. Sajid Javid ist ein Konservativer der neuen Art. Also, der stammt aus seiner muslimischen Familie. Es ist ähnlich beim Bürgermeister von London, Sadiq Khan. Das sind einfach neue echte Engländer. Und daran muss sich der englische Mittelstand, der weiße englische Mittelstand, erstmal gewöhnen, dass diese Leute jetzt mit dazugehören.
Und das ist etwas, was wir ja in Deutschland oder in Österreich und auch in Frankreich kennen, dass es nicht ganz leicht ist, neue Emigrationswellen, neue Realitäten und das neue Straßenbild auch richtig zu akzeptieren.
Deutschlandfunk Kultur: Schwingt da auch ein bisschen Nostalgie zum einstigen British Empire mit, also jener Zeit, als man sich die Splendid Isolation, die großartige Isolation auf der Insel noch leisten konnte, weil man ja eine Weltmacht war?

Die Illusion vom Empire 2.0

Szyszkowitz: Ja, das ist eine Sache, die erst jetzt richtig diskutiert wird, dass das Empire im Grunde genommen nie aufgearbeitet wurde in allen Facetten. Also dadurch, dass die Ausbeutung der Kolonien ja nicht auf der Insel selber stattgefunden hat, sondern in Indien oder durch den Sklavenhandel im Dreieck Afrika, Karibik, Nordamerika und Großbritannien. Aber die Sklaven selbst, die Plantagen waren ja nicht wie in Amerika im Land selber, sondern eben auf der anderen Seite der Welt. Deswegen haben die Briten nie so recht verstanden, was da eigentlich passiert ist, und haben dann nach dem Ende, dem relativ friedlichen Ende des Empire, sich der EU angenähert.
Jetzt kommt beides zu Ende und die Briten sind schon ein bisschen darauf gestoßen, jetzt ihre Seele zu erforschen und sich zu überlegen: Was wollen wir jetzt eigentlich? Weil, die Idee, ein Empire 2.0 zu gründen, das hat sich sehr schnell als Illusion herausgestellt bei den ersten Handelsgesprächen, die Theresa Mays Minister geführt haben in Indien, weil die indischen Gegenparts natürlich als erstes gesagt haben: "Oh, ein Freihandelsabkommen schließen wir mit euch sehr gerne, aber auf Augenhöhe!" Weil, die britische Wirtschaft ist inzwischen so groß wie die indische und die indische so groß wie die britische. Also, man kann da nicht mehr irgendwie so wie früher davon sprechen, dass einer der Herrscher und einer der Untertan ist, der froh ist, wenn irgendwas für ihn abfällt.
Und das ist ein Problem, das die Briten nach dem Austritt aus der EU erst so richtig erkennen werden, dass man als Mittelmacht, selbst eine mit großer demokratischer Tradition und einer produktiven Wirtschaft, dass man trotzdem in Zeiten wie diesen, wo Indien und China hochkommende Mächte sind, sehr viel weniger Gewicht auf die Waage bringt.
Deutschlandfunk Kultur: Aus der britischen Wirtschaft kommen ja sowieso die warnendsten Stimmen. Die sagen: "Also, bloß kein Brexit, das kommt uns teuer zu stehen." – Was blüht den Briten denn wirtschaftlich nach einem Brexit?
Szyszkowitz: Es kommt auch ganz drauf an, welcher Brexit es wird. Und jetzt inzwischen wird alles so vermischt, weil die Leute so Angst haben vor No-Deal. Und wenn jetzt der Chef von Airbus sagt, "die Briten stehen am Abgrund", dann meint er natürlich damit, dass No-Deal ein Abgrund wäre. Wenn man ein ausgehandeltes Abkommen hat mit einer Übergangszeit, dann passiert ja erstmal gar nichts. Und in den nächsten zwei, drei Jahren oder auch fünf bis sieben Jahren, bis so ein Freihandelsabkommen dann ausgehandelt ist, dann gewöhnen sich auch die großen Konzerne und die kleinen Betriebe auch an neue Bedingungen.
Also, eine völlige Katastrophe würde das in dem Fall ja nicht werden. Es ist ja nicht so, dass man nicht auch außerhalb der EU handeln kann und auch mit Zöllen handeln kann. Das macht ein Großteil der Welt. Das Problem, das die Briten haben, ist, dass der EU-Binnenmarkt für sie gut funktioniert hat und man jetzt den Leuten mühsam alles auseinander klamüsern muss und erklären muss, welche Regelungen später gelten werden, die bisher halt selbstverständlich gut geklappt haben.
Und dieser Prozess, der dauert natürlich Jahre. Man kann nicht ein knappes halbes Jahrhundert abwickeln innerhalb von ein paar Wochen oder Monaten. Das war halt eines der großen Brexit-Versprechen, die überhaupt nicht gehalten werden können. Und das hat sich ja inzwischen herausgestellt. Und deswegen ist es nicht zu erwarten, dass es zu großem Triumphgeheul kommen wird, wenn Großbritannien dann endgültig austritt, ob jetzt am 29. März oder auch ein halbes Jahr später oder auch drei Jahre später. Weil sich herausgestellt hat, dass man nicht einfach aus der EU austreten kann und dann das Paradies beginnt. Das ist leider im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich, wo gerade diese wirtschaftliche Vernetzung unglaublich sinnvoll war für diese ganzen Nationalstaaten, die wir hier sehen in Europa.
Deutschlandfunk Kultur: Brexit-Befürworter wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg, die tun ja Einwände aus der Wirtschaft, die sagen, es wird alles nicht so einfach, als bloße Panikmache ab und sagen, das schaffen wir schon. – Wie irrational ist die ganze Diskussion eigentlich?

Maß und Ziel verloren

Szyszkowitz: Es ist wirklich bestürzend zu sehen. Wir waren ja immer gewohnt, dass die Briten eine pragmatische Kraft auch in Europa waren. Und inzwischen hat man das Gefühl, dass die Brexiteere völlig Maß und Ziel verloren haben. Boris Johnson selber hat ja in der Kampagne zum Referendum zwar für den Brexit geworben, aber auch dazu gesagt, "man könnte ja auch im Binnenmarkt bleiben". Inzwischen spricht er davon, dass No-Deal keine Katastrophe wird, sondern es sich um Panikmache handelt. Also, der ist sehr, sehr weit ins Extreme gerutscht, um irgendwie sich die Chance zu erhalten, noch ein Nachfolger für Theresa May zu werden für den Fall, dass sich der harte Flügel durchsetzt.
Das ist wirklich auch irgendwo beschämend für jemanden, der wie Boris Johnson sowohl in der EU Korrespondent war und wissen muss, dass man der EU vieles vorwerfen kann, aber dass man der EU nicht vorwerfen kann, dass sie ihre Mitglieder tyrannisiert wie einst das Dritte Reich die besetzten Staaten. Das ist inzwischen so eine hart ideologisch geführte Debatte mit komplett irrationalem Inhalt geworden, dass es schwer sein wird, diesen Diskurs wieder zu beruhigen und die Leute ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zu holen.
Ich nehme aber mal an, dass gerade durch die Bevölkerung, die inzwischen begriffen hat, dass das nicht gut läuft, also, das kann inzwischen jeder auch sehen in diesen Pubs am Land in England, dass da irgendwas nicht stimmt, also, dass die Versprechen nicht übereinstimmen mit den Realitäten. Und die Leute glauben zwar, es ist Panikmache, wenn man sagt, das wird jetzt schwierig mit No-Deal, aber dass es zumindest keine paradiesischen Zustände geben wird nach einem harten Brexit, das haben die Leute inzwischen schon verstanden. Weil, es gibt ja sehr viele Menschen, die in Betrieben arbeiten, wo sie jetzt hören von ihren internationalen Besitzern wie Airbus oder Nissan oder Sony oder Panasonic, dass die Hunderte, Tausende Jobs einstellen müssen und verschieben müssen auf den Kontinent, um weiter handeln zu können.

Wie teuer darf's denn sein?

Und das, glaube ich, setzt sich schon inzwischen in der Bevölkerung durch, dass der Brexit kostspielig ist. Und dann kann man sagen, okay, man will seine britische Unabhängigkeit und Souveränität zurückbekommen. Und man ist bereit, dafür zu zahlen. Aber wie viel man bereit ist zu zahlen, das ist jetzt die große Frage. Und diesen Komplex zwischen hartem und sanftem Brexit, den muss Theresa May jetzt auch richtig angehen. Sie kann jetzt nicht immer weiter so tun, als könnte sie es Allen Recht machen. Sie muss im Grunde genommen den harten Brexiteeren in ihrer eigenen Partei auch sagen: Es geht so nicht weiter. Es muss jetzt irgendwo ein Kompromiss gemacht werden. Man muss den Leuten mal die Wahrheit auch sagen.
Und die Wahrheit heißt: Der Brexit ist ein äußerst kostspieliges Projekt für die britische Gesellschaft.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Szyszkowitz, Sie leben seit neun Jahren unter Menschen, die gerne Wetten abschließen auf alles und jedes. Würden Sie darauf wetten, dass Sie am 30. März morgens in einem London aufwachen, das immer noch in der EU liegt?
Szyszkowitz: Ja. Ich würde eher darauf wetten. Wir schließen ständig Wetten ab. Ich muss dazu sagen, ich gewinne sie nicht immer. Also, wetten Sie nicht wegen mir jetzt auf einen verschobenen Brexit. Aber ich glaube, dass es inzwischen unwahrscheinlich ist, dass am 30. März die Briten draußen sind. Ich würde aber auch darauf wetten, dass sie noch austreten. Ich fürchte, dass dieses Vehikel sich schlecht wieder zurückziehen lässt, weil ich nicht sehe, wie man ein pro-europäisches Narrativ erfinden kann, um den Brexit völlig zu stoppen.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.

Tessa Szyszkowitz: Echte Engländer. Britannien und der Brexit.
Picus Verlag, Wien 2018.
264 S., 22,00 €

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