Die Bilanz

Von Michael Marek · 18.11.2005
21 führende Männer Hitler-Deutschlands saßen auf der Anklagebank. Das Internationale Militärtribunal hatte die Aufgabe, mit den Mitteln des Rechts Kriegsverbrechen zu sühnen. Insgesamt wurden von 1946 bis 1949 13 Nürnberger Prozesse durchgeführt. Sie sollten wegweisend sein für die internationale Gerichtsbarkeit. Die Verfahren waren jedoch komplizierter als sich vor allem die amerikanischen Ankläger das vorgestellt hatten.
"Ich wohnte also jener Apotheose der Gerechtigkeit bei, von der ich im Sommer 1942 geträumt hatte. Gierig betrachtete ich die Angeklagten, als könne ich bei ihnen eine Erklärung für die abgelaufene Tragödie finden. Göring lächelte einer hübschen Stenotypistin zu; Hess las ein Buch; Streicher kaute an seiner Schnitte. Währenddessen wurden Dokumente vorgelesen: Ermordet in den Folterkammern: 300.000, 600.000, sechs Millionen. "

Der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg über den Beginn der Nürnberger Prozesse. Wie auch in den Folgeverfahren mussten sich erstmals in der Geschichte die höchsten Repräsentanten eines Staates persönlich vor Gericht verantworten. Der spätere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer:

Fritz Bauer: "In Nürnberg wurden die führenden nationalsozialistischen Verbrecher abgeurteilt. Und damals waren es nicht nur Prozesse gegen Göring, sondern die Alliierten griffen damals, es waren insbesondere die Amerikaner, einzelne Gruppen heraus: zum Beispiel die Ärzte, zum Beispiel die Juristen, zum Beispiel die maßgeblichen Generale, die an der Partisanenbekämpfung beteiligt waren, Prozesse gegen die SS, Prozesse gegen diejenigen, die die Konzentrationslager verwalteten. "

"Alle jammerten und bestanden darauf, sie seien nur ausführende Organe des Führers gewesen", erinnerte sich Joseph Maier, der die Angeklagten im Auftrag des Gerichts verhören musste. Den Beschuldigten widerfuhr im Nürnberger Schwurgerichtssaal eine solche Bloßstellung ihrer Gräuel, wie sie die Welt so detailliert, so präzise, so aktenkundig noch nicht gehört hatte. 200 Anklagen wurden erhoben, 36 Personen verurteilte das Gericht zum Tode, aber es gab auch fast 40 Freisprüche.

Die Machthaber des NS-Systems sollten mit rechtsstaatlichen Mitteln belangt werden. Doch sollten noch fast zwei Jahrzehnte vergehen, bis auch die bundesdeutsche Justiz nach den Nürnberger Prozessen selbst aktiv wurde. Fritz Bauer über die Gründe:

Fritz Bauer: "Der Widerwille war sicherlich im Grunde genommen die Erkenntnis der prozessualen Schwierigkeiten: Viele Täter waren im Ausland, viele Täter hatten falsche Namen, viele Täter waren möglicherweise gestorben. Die Zeugen lebten in Israel, in Südamerika, weiß Gott wo in der ganzen Welt. Die Schwierigkeiten waren groß. Unmittelbar nach den Prozessen in Nürnberg kam es zum Kalten Krieg. Und daraus entwickelte sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber diesem Thema. "

Bis heute ist die juristische Bewertung des Internationalen Militärtribunals ebenso umstritten wie jene von den USA durchgeführten Nachfolgeprozesse. Es sei das Recht der Sieger gewesen, argumentierten sämtliche Bundesregierungen, die das Urteil bis heute nicht als rechtswirksam anerkannt haben. Darüber hinaus wurden ausschließlich deutsche Rechtsverstöße verurteilt, nicht aber die der Alliierten. Der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, wurde als Tatbestand überhaupt nicht verhandelt. Und schließlich verfolgten die Nürnberger Richter Delikte wie "Angriffskrieg" und "Völkermord", die im internationalen Recht noch nicht verankert waren. Das war ein Verstoß gegen das Prinzip: keine Strafe ohne ein Gesetz. Nur: Hatten sich führende Nationalsozialisten allein deshalb nicht strafbar gemacht, weil Völkermord als Rechtsbegriff bis dato nicht existierte?

Gleichwohl wurde mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen ein neues humanes Völkerstrafrecht geschaffen. Nicht politische und militärische Willkür, sondern die rechtsstaatlichen Gesetze unserer westlichen Zivilisation sollten die Völker hinfort beherrschen. Und auch die zweite Lehre von Nürnberg ist aktueller denn je: Die völkerrechtliche Haftung trifft nicht nur Politiker, sondern auch Militärs. Darauf hat die Schweizer Juristin und ehemalige Chefanklägerin in Den Haag Carla del Ponte hingewiesen:

Carla del Ponte: "Die bloße Existenz dieser beiden Gerichte ist die kraftvollste Botschaft an alle potentiellen Täter – von der untersten Befehlsstufe bis hin zum Staatschef, dass niemand, aber auch niemand, über dem Gesetz steht. Wir haben endlich begriffen, dass es Delikte gibt wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, die so wichtig sind, dass die internationale Staatenwelt eingreifen muss, wenn die betroffenen Staaten nicht willens oder fähig sind, sich damit zu befassen. "

Gerade die moralische Kategorie hatte dem Nürnberger Militärtribunal seine Legitimation gegeben – bis heute, seit der Internationale Strafgerichtshof unter der Charta der Vereinten Nationen als höchstes Rechtssprechungsorgan fungiert. Die Bundesrepublik Deutschland setzte 2002 als einer der ersten Staaten der Welt ein "Völkerstrafgesetzbuch" in Kraft, das sich am Nürnberger Vorbild orientiert.

Jean Améry: "Irgendeinmal wird alles sein, als wäre es nie gewesen. Mörder und Ermordete werden kahl und kalt im nichtigen nebeneinander sein, die einen nicht schlechter als die anderen."

Das sagte der Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Jean Améry:

Jean Améry: "Mensch und Gegenmensch leben dann in der Grabesstille des Abgelegten. Aber alles Humane fordert: Nicht Recht, das es hier nicht geben kann, noch Rache, die unausdenkbar wäre, nur: dass man die Opfer begnadige, nicht die Henker. "
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